05 August 2020

Johanna Spyri: Heidi

Johanna Spyri: Heidi ("Heidis Lehr- und Wanderjahre" und "Heidi kann brauchen, was es gelernt hat(Wikipedia) Sieh auch: Heidi in Japan und Heidi in der Türkei

Heidi's Lehr und Wanderjahre, Gotha 1880, digitalisierte und mit OCR erfasste Ausgabe des Romans

Heidi (1952),  freie, aber deutlich am Roman orientierte erste deutschsprachige Schweizer Filmfassung (August 2020 im deutschen Fernsehen wiederholt)

"Im Keſſel fing es an zu ſieden und unten hielt der Alte an einer langen Eiſengabel ein
großes Stück Käſe über das Feuer und drehte es hin und her, bis es auf allen Seiten goldgelb war." (Ausgabe von 1880, S.25)

Eine Textstelle, die verbürgtermaßen zwei Kinder dazu gebracht hat, den koksbefeuerten Ofen der Zentralheizung eines Einfamilienhauses für die Produktion ihres ersten Raclettes zu nutzen, was vergleichsweise gut ausging, aber nicht zur Nachahmung empfohlen wird.

Sowohl Film- als auch Romanfassung sind geeignet, die Tränenproduktion anzuregen, wenn auch nicht bei jedem.

"Vor Entzücken über all den flimmernden, winkenden Blüm¬
chen vergaß Heidi ſogar die Gaißen und auch den Peter.
Es ſprang ganze Strecken voran und dann auf die Seite,
denn dort funkelte es roth und da gelb und lockte Heidi
auf alle Seiten. Und überall brach Heidi ganze Schaaren
von den Blumen und packte ſie in ſein Schürzchen ein,
denn es wollte ſie alle mit heim nehmen und in's Heu
ſtecken in ſeiner Schlafkammer, daß es dort werde wie hier
draußen. So hatte der Peter heut' nach allen Seiten zu
gucken und ſeine kugelrunden Augen, die nicht beſonders
ſchnell hin- und hergingen, hatten mehr Arbeit, als der
Peter gut bewältigen konnte, denn die Gaißen hatten es
wie das Heidi, ſie liefen auch dahin und dorthin und er
mußte überallhin pfeifen und rufen und ſeine Ruthe ſchwin¬
gen, um wieder alle die Verlaufenen zuſammenzutreiben.
„Wo biſt du ſchon wieder, Heidi?“ rief er jetzt mit
ziemlich grimmiger Stimme.
„Da“, tönte es von irgendwoher zurück. Sehen konnte
Peter Niemand, denn Heidi ſaß am Boden hinter einem
Hügelchen, das dicht mit duftenden Prünellen beſät war;
da war die ganze Luft umher ſo mit Wohlgeruch erfüllt,
daß Heidi noch nie ſo Liebliches eingeathmet hatte. Es
ſetzte ſich in die Blumen hinein und zog den Duft in vollen
Zügen ein.
„Komm' nach“, rief der Peter wieder. „Du mußt
nicht über die Felſen hinunterfallen, der Oehi hat's ver¬
boten.“
„Wo ſind die Felſen?“ fragte Heidi zurück, bewegte
ſich aber nicht von der Stelle, denn der ſüße Duft ſtrömte
mit jedem Windhauch dem Kinde lieblicher entgegen.
„Dort oben, ganz oben, wir haben noch weit, drum
komm' jetzt! Und oben am höchſten ſitzt der alte Raub¬
vogel und krächzt.“
Das half. Augenblicklich ſprang Heidi in die Höhe
und rannte mit ſeiner Schürze voller Blumen dem Peter zu.
„Jetzt haſt genug“, ſagte dieſer, als ſie wieder zu¬
ſammen weiter kletterten, „ſonſt bleibſt du immer ſtecken,
und wenn du alle nimmſt, hat's morgen keine mehr.“ Der
letzte Grund leuchtete Heidi ein, und dann hatte es die
Schürze ſchon ſo angefüllt, daß da wenig Platz mehr ge¬
weſen wäre, und morgen mußten auch noch da ſein."
(Ausgabe von 1880, S.34/35)

"Heidi ſtrebte in ſeinem Eifer raſcher und raſcher die
letzte Steigung hinan — und kaum waren ſie oben ange¬
langt, als es des Großvaters Hand losließ und in die
Hütte hineinrannte. Der Großvater nahm den Korb von
ſeinem Rücken, in den er die Hälfte der Sachen aus dem
Koffer hineingeſtoßen hatte, denn den ganzen Koffer herauf¬
zubringen wäre ihm zu ſchwer geweſen. Dann ſetzte er ſich
nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbei¬
gerannt, ſein großes Buch unter dem Arm: „O das iſt
recht, Großvater, daß du ſchon daſitzeſt“, und mit einem
Satz war Heidi an ſeiner Seite und hatte ſchon ſeine
Geſchichte aufgeſchlagen, denn die hatte es ſchon ſo oft und
immer wieder geleſen, daß das Buch von ſelbſt aufging
an dieſer Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Theilnahme
von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf
des Vaters Feldern die ſchönen Kühe und Schäflein wei¬
deten und er in einem ſchönen Mäntelchen, auf ſeinen
Hirtenſtab geſtützt, bei ihnen auf der Weide ſtehen und dem
Sonnenuntergang zuſehen konnte, wie es Alles auf dem 
Bilde zu ſehen war. Aber auf einmal wollte er ſein Hab und Gut für ſich haben und ſein eigener Meiſter ſein und
forderte es dem Vater ab und lief fort damit und verpraßte Alles. Und als er gar Nichts mehr hatte, mußte er hingehen und Knecht ſein bei einem Bauer, der hatte aber
nicht ſo ſchöne Thiere, wie auf ſeines Vaters Feldern waren, ſondern nur Schweinlein, dieſe mußte er hüten und er hatte nur noch Fetzen auf ſich und bekam nur von den
Träbern, welche die Schweinchen aßen, ein klein wenig.

Da dachte er daran, wie er es daheim beim Vater gehabt
und wie gut der Vater mit ihm geweſen war und wie un¬
dankbar er gegen den Vater gehandelt hatte, und er mußte
weinen vor Reue und Heimweh. Und er dachte: „Ich will
zu meinem Vater gehen und ihn um Verzeihung bitten
und ihm ſagen, ich bin nicht mehr werth, dein Sohn zu
heißen, aber laß mich nur dein Taglöhner bei dir ſein.“
Und wie er von ferne gegen das Haus ſeines Vaters kam,
da ſah ihn der Vater und kam herausgelaufen — „was
meinſt du jetzt, Großvater?“ unterbrach ſich Heidi in ſeinem
Vorleſen; „jetzt meinſt du, der Vater ſei noch böſe und
ſage zu ihm: ‚Ich habe dir's ja geſagt!?‘ Jetzt hör' nur, was
kommt: ‚Und ſein Vater ſah ihn und es jammerte ihn
und lief und fiel ihn um den Hals und küßte ihn und der
Sohn ſprach zu ihm: Vater, ich habe geſündigt gegen den
Himmel und vor dir und bin nicht mehr werth dein Sohn
zu heißen. Aber der Vater ſprach zu ſeinen Knechten:
Bringet das beſte Kleid her und zieht es ihm an und gebt
ihm einen Ring an ſeine Hand und Schuhe an die Füße,
und bringt das gemäſtete Kalb her und ſchlachtet es und
laßt uns eſſen und fröhlich ſein, denn dieſer mein Sohn
war todt und iſt wieder lebendig geworden und er war
verloren und iſt wieder gefunden worden. Und ſie fingen
an fröhlich zu ſein.‘
„Iſt denn das nicht eine ſchöne Geſchichte, Großvater?“
fragte Heidi, als dieſer immer noch ſchweigend da ſaß und
es doch erwartet hatte, er werde ſich freuen und verwundern.
„Doch, Heidi, die Geſchichte iſt ſchön“, ſagte der Gro߬
vater, aber ſein Geſicht war ſo ernſthaft, daß Heidi ganz
ſtille wurde und ſeine Bilder anſah. Leiſe ſchob es noch
einmal ſein Buch vor den Großvater hin und ſagte: „Sieh',
wie es ihm wohl iſt“, und zeigte mit ſeinem Finger auf
das Bild des Heimgekehrten, wie er im friſchen Kleid neben
dem Vater ſteht und wieder zu ihm gehört als ſein Sohn.
Ein paar Stunden ſpäter, als Heidi längſt im tiefen
Schlafe lag, ſtieg der Großvater die kleine Leiter hinauf;
er ſtellte ſein Lämpchen neben Heidi's Lager hin, ſo daß
das Licht auf das ſchlafende Kind fiel. Es lag da mit
gefalteten Händen, denn zu beten hatte Heidi nicht ver¬
geſſen. Auf ſeinem roſigen Geſichtchen lag ein Ausdruck des
Friedens und ſeligen Vertrauens, der zu dem Großvater
reden mußte, denn lange, lange ſtand er da und rührte
ſich nicht und wandte kein Auge von dem ſchlafenden Kinde
ab. Jetzt faltete auch er die Hände, und halblaut ſagte
er mit geſenktem Haupte: „Vater, ich habe geſündigt gegen
den Himmel und vor dir und bin nicht mehr werth, dein
Sohn zu heißen!“ Und ein paar große Thränen rollten
dem Alten die Wangen herab.
Wenige Stunden nachher in der erſten Frühe des Tages
ſtand der Alm-Oehi vor ſeiner Hütte und ſchaute mit hellen
Augen um ſich. Der Sonntagmorgen flimmerte und
leuchtete über Berg und Thal. Einzelne Frühglocken tönten
aus den Thälern herauf, und oben in den Tannen ſangen
die Vögel fröhlich ihre Morgenlieder.
Jetzt trat der Großvater in die Hütte zurück: „Komm',
Heidi!“ rief er auf den Boden hinauf, „die Sonne iſt da!
Zieh' ein gutes Röcklein an, wir wollen in die Kirche mit
einander!“
Heidi machte nicht lange, das war ein ganz neuer Ruf
vom Großvater, dem mußte es ſchnell folgen. In kurzer
Zeit kam es heruntergeſprungen in ſeinem ſchmucken
Frankfurter Röckchen. Aber voller Erſtaunen blieb Heidi
vor ſeinem Großvater ſtehen und ſchaute ihn an: „O
Großvater, ſo hab' ich dich nie geſehen“, brach es endlich
aus, „und den Rock mit den ſilbernen Knöpfen haſt du
noch gar nicht getragen, o du biſt ſo ſchön in deinem
ſchönen Sonntagsrock.“
Der Alte blickte vergnüglich lächelnd auf das Kind und
ſagte: „Und du in dem deinen; jetzt komm'.“ [...]"

Der Alm-Oehi war unterdeſſen an die Thür der Stu¬
dierſtube getreten und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer
machte auf und trat dem Eintretenden entgegen, nicht über¬
raſcht, wie er wohl hätte ſein können, ſondern ſo, als habe
er ihn erwartet; die ungewohnte Erſcheinung in der Kirche
mußte ihm nicht entgangen ſein. Er ergriff die Hand des
Alten und ſchüttelte ſie wiederholt mit der größten Herzlich¬
keit, und der Alm-Oehi ſtand ſchweigend da und konnte erſt
kein Wort herausbringen, denn auf ſolchen herzlichen
Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt faßte er ſich und
ſagte: „Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, daß
er mir die Worte vergeſſen möchte, die ich zu ihm auf der
Alm geredet habe, und daß er mir nicht nachtragen wolle,
wenn ich widerſpenſtig war gegen ſeinen wohlmeinenden
Rath. Der Herr Pfarrer hat ja in Allem Recht gehabt
und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt ſeinem Rathe
folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli
beziehen, denn die harte Jahreszeit iſt Nichts für das Kind
dort oben, es iſt zu zart, und wenn dann auch die Leute
hier unten mich von der Seite anſehen, ſo wie Einen, dem
nicht zu trauen iſt, ſo habe ich es nicht beſſer verdient,
und der Herr Pfarrer wird es ja nicht thun.“

Die freundlichen Augen des Pfarrers glänzten vor
Freude. Er nahm noch einmal des Alten Hand und drückte
ſie in der ſeinen und ſagte mit Rührung: „Nachbar, Ihr
ſeid in der rechten Kirche geweſen, noch eh' Ihr in die
meinige herunterkamt; deß freu' ich mich, und daß Ihr
wieder zu uns kommen und mit uns leben wollt, ſoll Euch
nicht gereuen, bei mir ſollt Ihr als ein lieber Freund und
Nachbar allezeit willkommen ſein, und ich gedenke manches
Winterabendſtündchen fröhlich mit Euch zu verbringen, denn
Eure Geſellſchaft iſt mir lieb und werth und für das Kleine
wollen wir auch gute Freunde finden.“ Und der Herr
Pfarrer legte ſehr freundlich ſeine Hand auf Heidi's Kraus¬
kopf und nahm es bei der Hand und führte es hinaus,
indem er den Großvater fort begleitete, und erſt draußen
vor der Hausthür nahm er Abſchied, und nun konnten alle
die herumſtehenden Leute ſehen, wie der Herr Pfarrer dem
Alm-Oehi die Hand immer noch einmal ſchüttelte, gerade als
wäre das ſein beſter Freund, von dem er ſich faſt nicht
trennen könnte. Kaum hatte dann auch die Thüre ſich
hinter dem Herrn Pfarrer geſchloſſen, ſo drängte die ganze
Verſammlung dem Alm-Oehi entgegen, und Jeder wollte der
Erſte ſein, und ſo viele Hände wurden miteinander dem
Herankommenden entgegengeſtreckt, daß er gar nicht wußte,
welche zuerſt ergreifen,  [...]" (S.234/35)

"Dem Oehi ſchoß es ganz luſtig aus den Augen. Er
meinte, es könnte dem Peterli Nichts ſchaden; aber er würde
doch eine gute Gelegenheit dazu abwarten.
Jetzt fuhr der Beſprochene eben zur Thür herein, nach¬
dem er zuerſt mit dem Kopf ſo feſt dagegen gerannt war,
daß Alles erklirrte davon; er mußte preſſirt ſein. Athemlos
und keuchend ſtand er nun mitten in der Stube ſtill und
ſtreckte einen Brief aus. Das war auch ein Ereigniß, das
noch nie vorgekommen war, ein Brief mit einer Aufſchrift
an das Heidi, den man ihm auf der Poſt im Dörfli über¬
geben hatte. Jetzt ſetzten ſich Alle voller Erwartung um
den Tiſch herum und Heidi machte ſeinen Brief auf und
las ihn laut und ohne Anſtoß vor. Der Brief war von
der Klara Seſemann geſchrieben. Sie erzählte Heidi, daß
es ſeit ſeiner Abreiſe ſo langweilig geworden ſei in ihrem
Hauſe, daß ſie es nicht lang hintereinander ſo aushalten
könne und ſo lange den Vater gebeten habe, bis er die
Reiſe in's Bad Ragatz ſchon auf den kommenden Herbſt
feſtgeſtellt habe, und die Großmama wollte auch mitkommen,
denn ſie wollte auch das Heidi und den Großvater beſuchen
auf der Alm. Und weiter ließ die Großmama noch dem
Heidi ſagen, es habe recht gethan, daß es der alten Gro߬
mutter die Brödchen habe mitbringen wollen, und damit ſie
dieſe nicht trocken eſſen müſſe, komme gleich der Kaffee noch
dazu, er ſei ſchon auf der Reiſe und wenn ſie ſelbſt nach
der Alm komme, ſo müſſe das Heidi ſie auch zur Gro߬
mutter führen.
Da gab es nun eine ſolche Freude und Verwunderung
über dieſe Nachrichten, und ſo viel zu reden und zu fragen,
da die große Erwartung Alle gleich betraf, daß ſelbſt der
Großvater nicht bemerkte, wie ſpät es ſchon war, und ſo
vergnügt und fröhlich waren ſie Alle in der Ausſicht auf
die kommenden Tage und faſt noch mehr in der Freude über
das Zuſammenſein an dem heutigen, daß die Großmutter
zuletzt ſagte: „Das Schönſte iſt doch, wenn ſo ein alter
Freund kommt und uns wieder die Hand gibt, ſo wie vor
langer Zeit; das gibt ſo ein tröſtliches Gefühl in's Herz,
daß wir einmal Alles wiederfinden, was uns lieb iſt. Ihr
kommt doch bald wieder, Oehi, und das Kind morgen
ſchon?“ [...]" (S.238/39)

Keine Kommentare: