19 September 2020

Frauenschicksale im Lebenskreis von Missionaren: Marie Hesse, Julie Dubois, Adele Gundert und Marulla Hesse

"Marie Hesse in Selbstzeugnissen", so könnte das Buch heißen. Es heißt aber:

"Marie Hesse. Die Mutter von Hermann Hesse. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern von Adele Gundert "

Nicht nur gesteht man ihr nicht zu, dass sie selbst unser Interesse finden könnte und stellt sie uns als "Mutter von Hermann Hesse" vor, sondern selbst ihre Briefe und Tagebücher scheinen diesem Titel nach von Adele Gundert zu sein. - Verständlich, dass sie erst als "Mutter von" unser Interesse erweckt. Sicher auch, dass dieses Interesse nicht dazu ausreichen würde, all ihre Briefe und all ihre Tagebücher zu lesen. Insofern haben erst Hermann Hesse und Adele Gundert (seine Schwester) dafür gesorgt, dass sie unser Interesse weckt. 

Aber bezeichnend ist es doch. Denn auch Marie war freiheitsliebend, vielseitig begabt und von schweren seelischen Krisen geplagt. Aber sie war eine Frau und hat als Frau des 19. Jahrhunderts gelebt. 

Anders als mancher Sohn eines großen Mannes hat Marie Hesse, geborene Gundert, nicht darunter gelitten, keinen eigenen Namen zu haben, sondern immer der nur "Sohn von ..." zu sein, sondern darunter, sich immer an Männer anpassen anpassen zu müssen. Keinen eigenen Namen zu haben, war für Frauen im 19. Jahrhundert der Normalfall. Bei ihr aber kommt hinzu: Nicht den von ihr Geliebten heiraten (damals war sie freilich erst 15 Jahre alt), sondern für die Missionsarbeit des begabten Vaters (Hermann Gundertarbeiten. Sich an ihren ersten Mann anpassen und ihn pflegen, nach seinem Tode und der Heirat mit dem neuen Mann sich wieder an den Vater anpassen und ungesunde Wohnverhältnisse ihrem Mann (Johannes Hesse), ihren Kindern und sich selbst zumuten. 
Kein Wunder, dass sie Verständnis für ihren Sohn hatte ("Zwar erinnere ich mich aus meiner Kindheitszeit ähnlicher Gefühle." S.172), kein Wunder auch, dass sie, die Ergebung in ihr Frauen-Schicksal gelernt hatte, ihm kein Vorbild sein konnte.

Unvermeidlich, dass ich Ihren Texten rechtes Interesse erst entgegenbringen konnte, als Hermann ("Memmer", "Memmerle") in den Blick kommt. Was sie erlitten hat, darüber hat er sich empört. Aus seiner Selbstdarstellung gewinnt man Verständnis dafür, was sie durchgemacht hat. Freilich auch erst aus ihrer Darstellung, was sie mit ihm, seinen Ausbrüchen und seinen Selbstmordgedanken durchgemacht hat.

Das Lebensbild von Marie Hesse lässt sich leichter verstehen, wenn man vergleichend auf die Lebensgeschichte ihrer Mutter Julie Dubois und die ihrer Töchter  Adele und Marulla heranzieht.
"Die Heiratspraxis der Basler Mission sah vor, dass Missionare ledig in ihre Einsatzgebiete geschickt wurden und erst später eine Ehefrau nachgeschickt bekamen. Oft kannten sich die Zukünftigen gar nicht, denn die Basler Mission fädelte die Heirat ein. Die Frauen, Missionsbräute genannt, fuhren dann per Eisenbahn, Schiff und Ochsenkarren allein und mit gespannten Erwartungen in eine unbekannte Zukunft, in eine andere Kultur, kurz in eine fremde Welt. Die Motive waren, neben der religiösen Überzeugung und dem Gefühl "Auserwählte" zu sein, auch Abenteuerlust und Flucht vor der Enge der Heimatstadt."

Julie Dubois "baute zusammen mit ihrem Mann in Indien Missionsstationen auf. Dort leitete sie stets die Mädchenschulen und engagierte sich für verwitwete, unverheiratete und verlassene Inderinnen.
Schon als junges Mädchen träumte Julie Dubois, geboren am 1. Oktober 1809 in Corcelles bei Neuchâtel im Schweizer Jura, von einer Tätigkeit als Lehrerin. Da sie aus Kostengründen keine Lehrerinnenausbildung absolvieren konnte und den Beruf mit ihrem tiefen religiösen Glauben verbinden wollte, suchte sie ihren Traum im Dienste der Mission zu verwirklichen. Ungewöhnlich für eine Frau in dieser Zeit, schloss sie sich 1836 einer Gruppe um den Freimissionar Groves an. Auf der Schiffsreise nach Indien lernte sie den frisch promovierten Theologen Hermann Gundert kennen. Die beiden heirateten 1838, traten in die Basler Mission ein und bauten in den folgenden Jahren gemeinsam Missionsstationen und Schulen auf. Da Hermann Gundert der erste verheiratete Missionar in Indien war, war Julie Gundert die erste Missionsfrau dort. Ihre Wirkungsstätten lagen im Süden Indiens, in der Region Kerala. Julie leitete an verschiedenen Missionsorten, trotz rasch aufeinanderfolgender Geburten, stets die schulische Mädchenausbildung, d.h. sie lehrte junge Inderinnen Lesen und Schreiben, brachte ihnen Grundtechniken der Handarbeiten sowie Hausarbeiten bei.
Julie Gundert gebar in Indien acht Kinder, die nach und nach alle nach Deutschland in die Obhut der Großeltern in Stuttgart oder nach Basel zur Erziehung im Kinderhaus der Mission kamen. Ab 1855 lebten die Gunderts ganz ohne Kinder in Indien.
Im Jahr 1859 erkrankte Hermann Gundert schwer und fuhr zur Erholung nach Europa. An eine Rückkehr nach Indien war aus Gesundheitsgründen nicht mehr zu denken, er nahm die Stelle als Leiter des Calwer Verlagsvereines an. Dieser hatte seinen Sitz im Haus Bischofstraße 4; auch die Wohnung des Verlagsleiters und seiner Familie befand sich dort.
Julie Gundert folgte ihrem Mann 1860 schweren Herzens nach Calw, nur ungern verließ sie Indien. Aber in Calw sah sich die gesamte Familie Gundert, Kinder und Eltern, erstmals vereint.
Julie Gundert tat sich schwer mit der Eingliederung in Calw und konnte zudem kaum deutsch sprechen. Sie suchte ihr Heil im Glauben, in den pietistischen "Stunden" und in der Krankenpflege.
Ihr Enkel Hermann Hesse charakterisierte sie später mit den Worten "asketisch streng, von leidenschaftlicher Nüchternheit, aufrecht und gerade, manchmal bis zur Starrheit".
Julie Gundert starb am 18. September 1885 in Calw und wurde im Familiengrab beigesetzt."

Im Wikipediaartikel zu Hermann Gundert heißt es dazu ergänzend:
Julie Dubois "gründete auch die ersten „Mädchen-Institute“ (Mädchenschulen mit Heim) in Mangalore, in Thalassery und in Chirakkal bei Kannur. Aus diesen Schulen gingen gut ausgebildete und im evangelischen Glauben unterwiesene Frauen hervor, die zu großen Stützen der neuen Gemeinden wurden."

Adele Gundert (1875 - 1949) 

"Hermann Hesse wuchs mit fünf Geschwistern auf, von denen ihm Adele und Marulla im Alter und gefühlsmäßig am nächsten standen.
Seine zwei Jahre ältere Schwester Adele blieb für Hermann Hesse nach eigenem Bekunden seine "dauerhafteste Liebe", mit der er den Urboden aller Erinnerungen, die Kinderzeit und Heimat, teilte. Sie war mit ihrem Vetter Hermann Gundert, einem evangelischen Pfarrer und Mitglied der Bekennenden Kirche, verheiratet. 1934 erschien die Erstausgabe der Dokumentation über das Leben ihrer Mutter, Marie Hesse. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern. Sie starb am 24. September 1949 in Korntal."*

Marulla Hesse (1880 - 1953)
"Marulla, die jüngere Schwester, wurde 1880 ebenfalls in der Wohnung am Marktplatz geboren, bevor die Familie 1881 für fünf Jahre nach Basel zog, wo Johannes Hesse als Lehrer am dortigen Missionshaus arbeitete. Sie war einige Zeit Hauslehrerin bei einem baltischen Baron, nach dem Tod der Mutter 1902 lebte sie als "Sekretärin" bei ihrem Vater, eine leider nicht sehr selbstständige Tätigkeit, weil sie "immer das tun muss, was er gerade will, vorlesen, Diktate schreiben, ein Buch suchen, ein Bild aussuchen usw.". Sie empfand dieses Angebundensein als bedrückend und wünschte sich manches Mal, etwas (oder jemand) würde kommen und sie erwecken. Derartige Äußerungen von ihr sind in den Rundbriefen deutscher Lehrerinnen überliefert.
Nach dem Tod des Vaters 1916 wurde sie Lehrerin an einem evangelischen Töchterinstitut und gab außerdem Privatunterricht. 1939, 1946 - zusammen mit Adele - und 1950 konnte sie jeweils einige Wochen bei ihrem Bruder Hermann im Tessin verbringen.
Sie starb am 17. März 1953 ebenfalls in Korntal. Hermann Hesse hat seiner jüngeren Schwester einen anrührenden Nachruf gewidmet: "Ihr habet mich allein zurückgelassen, Ihr Geschwister, damit für eine Weile noch Euer und der Eltern und des Märchens unsrer Kindheit gedacht werde. Ich habe diesem Gedächtnis zeitlebens oft gehuldigt und ihm kleine Denkmäler errichtet." Er gesteht ihr postum, dass er in seinen Erzählungen aus seinen zwei Schwestern immer eine machte, und diese eine für die LeserInnen eigentlich immer Adele und nicht Marulla war, weil sie ihm in seiner Kindheit und Jugend eben nähergestanden hatte. Im Unterschied zu Adele, der es schmeichelte, einen berühmten Bruder zu haben, betrachtete Marulla diese Berühmtheit und Öffentlichkeit stets kritisch.
"Du wirst mir vor allem dann beistehen, wenn ich in der Gefahr bin, Ungenauigkeiten zu begehen und in Unwahrheit zu verfallen, aus Eile, aus Spielerei, aus phantastischer Verlorenheit."
Hermann Hesse in seinem Nachruf auf Marulla im Juli 1953"

*"Im Jahre 1819 wurde die Gemeinde Korntal durch die Evangelische Brüdergemeinde Korntal* als bürgerlich-religiöses Gemeinwesen gegründet. Im Zusammenhang mit dem Bau des Großen Saals verlieh der württembergische König Wilhelm I. der Gemeinde ein Privilegium, das heißt bestimmte Sonderrechte – unter anderem mussten alle Einwohner Mitglieder der Brüdergemeinde sein. Diesen Status verlor der Ort bei der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und endgültig 1919 durch die Verfassung der Weimarer Republik." (Wikipedia)
*Die Gemeinde wird vom Brüdergemeinderat geleitet. Ihm gehören nur Männer an. Neben musikalischen Veranstaltungen bestehen etwa 40 Hauskreise.[...] In den drei Kinderheimen und der Johannes Kullen-Schule in Korntal, in Trägerschaft der Diakonie der Brüdergemeinde Korntal hat es laut Aussagen von rund 170 ehemaligen Heimkindern in den 1950er bis weit in die 2000er Jahre Misshandlungen in Form von Prügel, psychischer Gewalt sowie sexuellem Missbrauch gegeben.[9]

Nachdem Detlev Zander, ein ehemaliges Heimkind, die Vorwürfe 2014 öffentlich machte, wurden nach einem zuvor gescheiterten Versuch,[10] im März 2017 die ehemalige Frankfurter Jugendrichterin Brigitte Baums-Stammberger und der Marburger Erziehungswissenschaftler Benno Hafeneger mit der Aufklärung der Vorwürfe beauftragt.[11] 2018 wurde bestätigt, dass es in den Kinderheimen der Brüdergemeinde Korntal und Wilhelmsdorf bis in die späten 2000er Jahre zu sexuellen Missbrauchsfällen an Kindern und Jugendlichen kam. Die Gemeinde zahlt Betroffenen, die sich bis Juni 2020 melden, bis zu 20.000 € Entschädigung.[12]" (Wikipedia)


Zum weiteren Umfeld sind noch u.a. folgende Seiten der Projektgruppe "Frauengeschichten in Calw" heranzuziehen:

In einen ganz anderen Zusammenhang gehört die folgende Seite über Massenvergewaltigungen:

Damit sind die Seiten der Projektgruppe "Frauengeschichten in Calw" noch nicht einmal im Ansatz ausgeschöpft. 
Ich füge aber nur noch diese hinzu:

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