20 Dezember 2021

Mörikes unvollendeter Roman und Lucie Gelmeroth

 Lucie Gelmeroth (Text) war nur als Einschub in diesen Roman gedacht.

"Als junger Doktor im Begriff, nach meiner Vaterstadt zurückzukehren, beschloß ich, vorerst einen kleinen Abstecher nach dem Gute meines Oheims, des Professors Killford, zu machen, der als Gelehrter in den besten Jahren seit einiger Zeit im Privatstande lebte. Ein vorläufiger Brief hatte mich bei ihm angesagt. Der eigene, jovialische Mann war mir immer merkwürdig gewesen. Er hatte vordem an der Universität G. als ordentlicher Lehrer der klassischen Literatur gestanden, in welcher Eigenschaft er weniger durch ausgebreitete Kenntnisse als eine geschmackvolle Behandlung seines Gegenstandes Glück gemacht und den Neid gewisser Matadore erregt zu haben scheint. Sein eigentliches Fach waren die Naturwissenschaften gewesen, wofür jedoch zum Unglück nirgend eine Stelle offenstand, allein der Eigensinn eines Ministers wollte den ehemaligen Hofmeister seines Hauses durch einen Lehrstuhl, welcher es auch wäre, in aller Eile ausgezeichnet wissen. [...]

Ich langte erst bei später Nachtzeit an, es schlug zwölfe vom Dorf, und alles lag zu Bette, nur kam mir der alte Bediente des Oheims entgegen, der auf den Fall beordert war, mich zu empfangen. Ich ließ mir ohne Geräusch mein Schlafzimmer zeigen, wo sich Erfrischungen auf einem reinlich gedeckten Tischchen von der vorsorgenden Hand meiner Tante aufgestellt fanden. Nie aber werde ich vergessen, wie ich nach einem kurzen Schlummer gegen drei erwachte und im anstoßenden Zimmer durch die verschlossene Tür eine Mädchenstimme jemanden ansprechen und eine Unterhaltung fortführen hörte, die, wenn sie gleich nur einem kranken Kinde galt, nicht minder alten Leuten das Herz erfrischen und die Augen munter halten konnte. Wer mag meine Nachbarin sein? frug ich mich hin und her. Vom Hause selbst war niemand, dem diese Stimme angehören konnte, die Aussprache schon ließ keine Deutsche von Geburt vermuten, die Lieblichkeit des Tons ging über jede Vorstellung. »Schmerzt denn der Arm wieder so?« war die Frage der Fremden. »Wär es nur Tag«, erwiderte der Kleine, den ich sogleich für Ottmarn, Killfords zehnjährigen Knaben, erkannte. »Es wird bald werden«, versicherte die Unbekannte. »Der Mond scheint gar zu prächtig, ich zieh den Vorhang auf, so wird's dir leichter.« Ottmar bat um eine Erzählung, sie sann eine Weile und sprach: »In jenem kleinen Tale, es heißt der [Lücke], du weißt ja, gegen die Ziegelhütte hin, befindet sich ein Stückchen Buchenwald und gleich dabei die wenigen Weingärten hiesiger Markung. Dies ist nun ein sehr wunderlicher Platz, von dem der krumme Gunnefield mir oft die besondersten Dinge erzählte. Dir ist vom Vater längst bekannt, daß von Gespenstern oder Geistern, wie einfältige Leute sich damit fürchten machen, niemals etwas zu halten ist. Verstorbene besuchen die Erde nicht mehr, was auch den Lebenden ganz recht sein kann. Allein von einer Sorte kleiner, geistartiger Wesen hab ich seit langer Zeit bestimmte Kunde und preise den glücklich, der nur einige Bekanntschaft mit diesem niedlichsten und spaßigsten Geschlecht der Erde machen durfte. Verwichenen Herbst in einer stillen Nacht begab ich mich mit Gunnefield, dem meine Neugier keine Ruhe ließ, an den bewußten Ort.« [Bricht ab.] Soweit erzählte die Fremde. Ottmar schien eingeschlafen, kein Laut mehr ließ sich hören; mir selber flossen die Bilder des Märchens gar bald mit dem Spuk meiner eigenen Träume zusammen. [...]

Als sie daher den Vater aufs inständigste bat, sie indes hier zu lassen, wo es ihr in der Tat ganz wohl behagte, so ließ er ihr zuletzt nach vielen Tränen ihren eignen Willen, sie ward mit guter Art bei der Gesellschaft entschuldigt. Der Baronet hatte seine Gründe, warum er sie nicht gerne in der Stadt bei den Verwandten ließ; so kam sie denn zu uns, wo sie vollkommne Freiheit hat, nach ihrem Sinne zu leben. Sie findet keinen Geschmack an den Vergnügungen der großen Welt, besonders mag sie gerne einsam sein, daher sie manchen Tag da draußen auf dem Schlößchen zubringt. Du wirst« – so schloß die Tante – »ein reizendes Mädchen kennenlernen.« – »Ein wunderliches, wolltest du hinzusetzen«, bemerkte Killford lächelnd, »denn du besannst dich auf ein zweites Beiwort. Nun ja, geht mir's doch selber mit dem Mädchen, wie einem zuweilen mit Logogryphen geschieht: kaum glaubt man einen Teil des Wortes glücklich weg zu haben, so stößt man auf neue Merkmale, welche nicht stimmen, und man wird so vom Hundertsten aufs Tausendste geführt.« [Bricht ab.] [...]

Am Ende, wenn wir lange genug zugesehen haben, wie doch dem anderen all das so natürlich ist, wagt man sich wohl einmal auch aus sich selbst hervor und ist gewonnen, eh mans dachte. So liebt meine Frau diese Mary und liebt sie just um das am meisten, warum sie sie am wenigsten liebt. Siehst du, Vetter, wenn deine Logik das verdauen kann, hier bieten Darum und Warum einander den Rücken und küssen sich über die Achsel. Schade, daß unsere Theologen ihren Vorteil nicht besser verstehen, sonst ließe sich aus solchen Phänomenen vielleicht der Abfall guter Geister ganz bequem ableiten. [...]

Nun erschien auch Mary. Sie führte ihren Liebling Ottmar an der Hand, einen ernsthaft aussehenden Knaben, welcher den Arm noch in der Schlinge trug. Jedoch sie selbst! Fürwahr, mir kam im Leben nichts Ähnliches vor. Ein zierlich langer Hals erhöhte die leichte, nicht eben große Gestalt. Sehr reich geflochten laufen schwarze Zöpfe kranzartig an der klaren Stirn hin, die, von der Natur mit geistigem Finger aufs schönste gebildet, über einem Paar nachtblauer Augen steht; von da verschmälert sich das liebe Angesicht abwärts nach dem schwach vortretenden Kinn. Der dünne Mund [Lücke]. Übrigens schien mir, ich weiß nicht warum, ein blaßgelbes, einfaches Kleid, worin ich sie nie wieder sah, ein breiter Gürtel von sonderbar schwarzer Zeichnung so recht im Begriff dieses eignen Wesens zu sein. Wir tranken den Kaffee, und ich, zu einigen Mitteilungen über mein bisheriges Schicksal durch die Tante aufgefordert, war wie beschämt, vor diesen Fremden von Dingen reden zu sollen, die ihnen, wie ich mir einbildete, doch immer kleinlich gegen ihre Verhältnisse vorkommen oder doch gleichgültig sein mußten. Allein zum wenigsten Herr Thomas hörte, zwar ohne auch nur eine Miene zu verändern, mit sichtbarer Teilnahme zu; und als auf einige bekannte gelehrte Anstalten die Rede kam, bewiesen alle Äußerungen einen sehr unterrichteten und billig denkenden Mann, welcher von jener Seite die vorteilhaftesten Begriffe von unserm Vaterlande hatte. [...]

Auf einmal brachte Ottmar als große Neuigkeit vor, was er soeben entdeckt hatte: »Vater«, rief er lebhaft, »die Nacht sind auf deiner Stube zwei Mäuse zumal gefangen worden, fast glaube ich aber auch, daß Mary hexen kann.« Über die Treuherzigkeit, womit das Kind dies sprach, lachte alles und am innigsten Mary. »Nun, da du meine böse Kunst einmal erraten hast, laß hören, ob du den Zauberspruch noch weißt, womit man um die Falle herumgeht, daß so ein Fang nicht fehlen kann!« Sogleich begann der Kleine den Vers: »Liebes Mäuschen, Da steht ein Häuschen, Du bist geladen Auf ein Stück Braten, Stell dich nur kecklich ein Heut nacht bei Mondenschein, Mach aber die Tür fein hinter dir zu. Hörst du? Dabei hüte dein Schwänzchen! Nach Tische lachen wir Und später machen wir Ein niedliches Tänzchen: Witt, witt! Meine alte Katze tanzt wahrscheinlich mit. Man lachte wiederholt und spaßte. Der Oheim aber, zwischen Scherz und Ernst, bemerkte: »Wer unsere Lady nicht kennte, der möchte in der Tat aus dieser und so mancher frühern Probe besorgen, daß sie das junge Volk tiefer, als rätlich ist, in ihren magischen Kasten sehn lasse.« [...]

Im Verlauf einiger Tage lernte ich den Engländer genauer kennen. Ich hörte durch ihn, es solle noch in diesem Jahr eine Gesellschaft von Missionaren nach [Lücke] gehn, an die auch er samt seiner Braut sich anschließen werde. Da er nun seinen notdürftigen Vorrat medizinischer Kenntnisse, die freilich seinem Stande nicht ganz fehlen dürfen, so viel wie möglich an mir stärken wollte [bricht ab]. Der Ernst dieses Mannes, verbunden mit einer Innigkeit, welche durch frühere Erfahrung mit Menschen sehr hart getäuscht, einen kleinen Ansatz von Mißtrauen so gerne zu überwinden strebte, die Konsequenz und Klarheit seines Wollens zogen mich an, und um so leichter, da seine religiösen Grundsätze meiner Erziehung von Hause aus nicht fremde waren. Es haftete so gar nichts Finsteres, Pedantisches an ihm; er konnte heiter sein und selbst ein Scherzwort in die Unterhaltung einmischen. Killford, dem unser häufiger Umgang nicht gleichgültig sein konnte, zog mich gelegentlich damit auf, während die Tante eine kleine Satisfaktion darin für sich fand. [...]

Leider sollte ich in einer der folgenden Nächte auf eine ganz andere Weise als in der ersten beunruhigt werden. Ein gewaltiger Lärm auf der Straße, ein hastiges Zusammenspringen im Hause, gleich darauf der schauerliche Ton schnell aufeinanderfolgender Glockenschläge vom Turm hatte mich schon aus dem Bett geschreckt, als der Oheim mit Licht bei mir eintrat. »Alterier dich nicht zu sehr! Es brennt außer dem Orte, man kann vermuten in der Ziegelbrennerei: du sollst nachkommen, läßt dir der Engländer sagen, er ist schon fort; unglücklicherweise hält mein Katarrh mich zurück!« – Rasch angekleidet, eil ich nach dem obersten Boden, die Richtung des Feuers zu merken. Nach Westen stand der Himmel abwechselnd in helleren und matteren Gluten, je nachdem der dicke vom Wind gezogene Rauch bald stärker, bald schwächer empordrang. Der nahe Horizont unserer Ebene wird dort von einem spitzauslaufenden Walde begrenzt, dessen oberste Gipfel sich mit schauderhafter Deutlichkeit in die braunrote Luft einzeichneten. Es brannte demnach im Tale, und ich erinnerte mich sogleich eines ganz vereinzelten Gehöfts in dortiger Gegend. Im Begriff die Dachlücke zu verlassen, glaubte ich jetzt ein Frauenzimmer im leichten schwarzen Mantel aus der Haustüre über die Gärten wegschlüpfen zu sehen. Nur Mary kann es gewesen sein. Ich renne angstvoll nach und habe schon Haus und Garten im Rücken; auf zwanzig Schritte erscheint sie mir wieder, schnell wie ein Vogel über Acker und Wiesen vor mir hinfliegend, zwischen Hügeln und Graben auf und nieder tauchend und in gerader Linie nach der Hellung zu. Ich stürzte mehr als einmal zu Boden und war nur froh, solang ich die schwarze Gestalt noch im Auge behielt. Aber schon wird die Landschaft ganz licht um mich her. Das Jammergetümmel von unten zerreißt schon mein Ohr, und just am Punkte angekommen, wo man die Tiefe überblickt, was für ein Schauspiel des Grausens! Ein Nebengebäude sank eben zusammen, indem nun [das] Wohnhaus von der Windseite her die gepeitschte Flamme empfängt. Jetzt hört man näher und näher das dumpfe Gerassel der Spritzen des Dorfs, die einen starken Umweg, den halben Berg umfahrend, nehmen mußten. Ich suchte verwirrt und geblendet den Pfad von der Höhe abwärts und erreichte zuvörderst mit einem Sprung die bewässerte Kluft, die zwischen Wald und Weinberg den Hügel hinabführt: da sah ich mit Verwunderung Mary allein auf einem der Mäuerchen sitzen. Sie scheint aus Angst und Erschöpfung nicht weiter zu können. Mit heftigem Schluchzen nach dem Brande hindeutend, ruft sie mir entgegen: »Ja gehn Sie nur und helfen Sie auch mit, Öl zutragen!« Mir blieb keine Zeit, den seltsamen Worten nachzudenken: nur schnell berührte mich eine Erinnerung, daß ich mich auf dem Grund und Boden jenes nächtlichen Märchens befinde, dessen frohes Getümmel auf ewig vor solchen Schrecknissen entflohen schien. [...]

Wenn ihr den Zorn des Himmels durch bedachte Gegenwehr zu reizen fürchtet, ja wenn selbst der notdürftigste Besitz mitsamt dem Hause geopfert werden sollte, so wundert mich, bei Gott, wie ihr habt wagen mögen, diese Kinder aus der Wiege zu reißen, warum ihr euch selber dem Tod entzogen!« Die Weiber heulten laut auf bei den letzten Worten, sogar die Männer, soviel ihrer den Fremden bei dem übrigen Gelärm hatten vernehmen können, murrten über eine so harte Rede. Der junge Mensch war verschwunden, ohne daß ich erfuhr, wer er sei, oder was ihn in die Gegend geführt haben möchte. Sein kurzer, grüner Jagdrock, den er von Anfang abgeworfen hatte, seine feine Gesichtsbildung ließen die beste Abkunft vermuten. Der Tag fing schwach an zu grauen, als unter durchdringendem Wehgeschrei der letzte Rest des Gebälkes stürzte. Nachdem ich indes vernommen, daß den Unglücklichen schon ein Obdach im Dorfe ausgemacht sei, blieb hier für mich nichts weiter zu tun; ich sah mich nach Herrn Thomas um, der sich jedoch bereits verloren hatte. Von einer einzigen Fackel begleitet, nahm ich den alten, sonst nicht betretnen Weg zurück, in überflüssiger Besorgnis um das Fräulein. Unter hundert traurigen Betrachtungen über das ganze Ereignis kam mir im Gehen auch jenes Rätselwort Marys wieder in Sinn, wovon mir freilich vorkam, es klinge stark nach der unglücklichen Idee der verkehrten Menge, welche dem Brande Vorschub getan. Das Wahre an der Sache aber sollte sich erst nach mehreren Tagen ergeben. [...]

Bei meiner Heimkunft höre ich, Mary sei getrost auf die Nachricht zu Bette gegangen, daß niemand, zumal von den Kindern, mit welchen sie gute Freundschaft gemacht, keines Schaden genommen. Wenige Minuten nach mir traf der Engländer ein; ich stand an Killfords Bette, den Hergang der Begebenheit erzählend, da jener voll Eifer herein und auf den Oheim zutrat: »Verzeihen Sie, wenn ich störe – Wissen Sie wohl, wer in der Nähe ist?« – »Wer denn?« – »Viktor.« – »Um Gottes willen«, rief mein Oheim aus, »was denkt der Junge? Sie haben ihn gesprochen?« – »Ich hütete mich wohl, ihm zu begegnen. Er war beim Feuer tätig, verwegen, ich kann wohl sagen, brav und liebenswürdig nach seiner heftigen Art. Sein Aufenthalt ist mir und jedermann noch ein Geheimnis.« – Nun sprachen beide leiser zusammen, worauf ich mich denn still entfernte, nur hört' ich die Tante noch sagen: Daß es doch Mary ja verborgen bleibe! Den andern Tag, da ich um zehn mein Schlafzimmer öffne, erstaun ich nicht wenig, das Gefährt meines Oheims vor dem Hause zu sehn und die Tante mit Mary zur Abfahrt bereit. Es war ein sonniger schöner Maimorgen. »Haltet wacker Haus, bis ich zu Abend wiederkomme, wir machen einen kleinen Ausflug«, rief mir die Tante auf dem Vorsaal entgegen, indem sie etlichen Personen einen großen Pack alter und neuer Sachen nebst einen Vorrat Lebensmitteln zur Verteilung unter die Verunglückten empfahl und Mary bei der Hand nahm, die schon an der Treppe stand und verstohlen freundlich bei allem darein sah; obgleich, wie mir deuchte, nicht ohne einiges Befremden über die eilige Expedition. Der Oheim bezeichnete mir, wie sie weg waren, ein altes freiherrliches Ehepaar, das, in der Nachbarschaft wohnend, dem Fräulein schon seit Jahr und Tag um einen längeren Besuch anliege; »und«, setzte er hinzu, »da der Jammer von gestern dem Mädchen heftig zusetzt [so ohne Lücke] passend sein, daß man sie einige Tage aus diesen aufgeregten Umgebungen wegnehme.« Zwar vor dir braucht man den eigentlichen Grund nicht zu verstecken, Vetter. Es ist nichts ungezogener, als den Gast, nachdem man irgendeine Heimlichkeit erst bei ihm blicken lassen, nachher mit allerlei Flausen und hustenden Gesprächsabläufen davon ausschließen wollen.«  Und sofort hatte Killford kaum den Mund zu einer ausführlichen Erklärung aufgetan, als ihm der Geistliche des Orts gemeldet wurde, den er auf seiner Stube zu empfangen sogleich mit einiger Verwunderung sich anschickt. Im hintern, größeren Garten treffe ich Herrn Thomas an. 

»Sie finden mich so wie ich Sie nachdenkend über die letzten Begebenheiten, die Ihnen zum Teil rätselhaft und wohl gar verdächtig sein mögen. Seit Ihrem Eintritt in dies Haus entging mir Ihr Interesse für Lady Mary und ihre Familie nicht. Sie machen hierin keine Ausnahme von den vielen Deutschen, welche mit Leithems Bekanntschaft gefunden: aber nicht ebenso unbillig und nicht so hämisch wie jene werden Sie diese Erscheinung von der Seite ansehen, nachdem Sie ihr einigermaßen nahekommen. Ich nehme es daher getrost auf mich, Sie etwas tiefer in das Innere dieser Verhältnisse blicken zu lassen, wenn Sie mir jetzt zuhören mögen.« – 

Ich gab dem wackern Manne meinen lebhaften Anteil und meinen Dank zum voraus zu erkennen, und er begann, indem wir beide niedersaßen: »Zuerst sei Ihnen unverhohlen: daß ich sowohl als Killfords uns seit lange stillschweigend gewöhnen mußten, den jungen Wagehals, den Sie die Nacht gesehn, und Lady Leithem entschieden als ein Paar zu betrachten, wenn wir es gleich weder vor Mary, ja kaum unter uns selbst geständig sind. Auf welchen sonderbaren Wegen sie sich fanden, wie weit ihr beiderseitiges Geschick auseinanderliegt und doch wie unzertrennlich es erscheint, erfahren Sie nachher. Zugleich ist es mir aber Bedürfnis, mich bei Ihnen über eine Angelegenheit [?] auszusprechen, worüber ich mich sonst hier wenig äußern darf; Sie wissen, wie verschieden Ihr Oheim und ich in Absicht auf die ersten Bedingungen aller [Erziehung] urteilen. Notwendig sind wir deshalb wegen Mary uneins. Er läßt ihr überall unbedingte Gerechtigkeit widerfahren, sieht daher in allem nur das unschuldige Gepräge einer liebenswürdigen Originalität, dem er auf keine Art zu nahe getreten wissen will, das er um keine Linie anders wünscht.[...]

Auszüge aus  Lucie Gelmeroth:

"Ich wollte – so erzählt ein deutscher Gelehrter in seinen noch ungedruckten Denkwürdigkeiten – als Göttinger Student auf einer Ferienreise auch meine Geburtsstadt einmal wieder besuchen, die ich seit lange nicht gesehen hatte. Mein verstorbener Vater war Arzt daselbst gewesen. Tausend Erinnerungen, und immer gedrängter, je näher ich der Stadt nun kam, belebten sich vor meiner Seele. Die Postkutsche rollte endlich durchs Tor, mein Herz schlug heftiger, und mit taumligem Blick sah ich Häuser, Plätze und Alleen an mir vorübergleiten. Wir fuhren um die Mittagszeit beim Gasthofe an, ich speiste an der öffentlichen Tafel, wo mich, so wie zu hoffen war, kein Mensch erkannte. [...]

Die Gesellschaft war schon im Begriff auseinanderzugehen, als ihre Unterhaltung noch einige Augenblicke bei einer Stadtbegebenheit verweilte, die das Publikum sehr zu beschäftigen schien und alsbald auch meine Aufmerksamkeit im höchsten Grad erregte. Ich hörte einen mir aus alter Zeit gar wohlbekannten Namen nennen; allein es war von einer Missetäterin die Rede, von einem Mädchen, das eines furchtbaren Verbrechens geständig sein sollte; unmöglich konnte es eine und dieselbe Person mit derjenigen sein, die mir im Sinne lag. Und doch, es hieß ja immer: Lucie Gelmeroth, und wieder: Lucie Gelmeroth; es wurde zuletzt ein Umstand berührt, der mir keinen Zweifel mehr übrigließ; der Bissen stockte mir im Munde, ich saß wie gelähmt.

Dies Mädchen war die jüngere Tochter eines vordem sehr wohlhabenden Kaufmanns. Als Nachbarskinder spielten wir[387] zusammen, und ihr liebliches Bild hat, in so vielen Jahren niemals bei mir verwischt werden können. Das Geschäft ihres Vaters geriet, nachdem ich lange die Heimat verlassen, in tiefen Zerfall, bald starben beide Eltern. Vom Schicksal ihrer Hinterbliebenen hatte ich die ganze Zeit kaum mehr etwas gehört; ich hätte aber wohl, auch ohne auf eine so traurige Art, wie eben geschah, an die Familie erinnert zu werden, in keinem Fall versäumt sie aufzusuchen. Ich ward, was des Mädchens Vergehen betrifft, aus dem Gespräch der Herren nicht klug, die sich nun überdies entfernten; da ich jedoch den Prediger S., einen Bekannten meines väterlichen Hauses, als Beichtiger der Inquisitin hatte nennen hören, so sollte ein Besuch bei ihm mein erster Ausgang sein, das Nähere der Sache zu vernehmen. [...]

Die zwei verwaisten Töchter des alten Gelmeroth fanden ihr gemeinschaftliches Brot durch feine weibliche Handarbeit. Die jüngere, Lucie, hing an ihrer, nur um wenig ältern, Schwester Anna mir der zärtlichsten Liebe, und sie verlebten, in dem Hinterhause der vormaligen Wohnung ihrer Eltern, einen Tag wie den andern zufrieden und stille. Zu diesem Winkel des genügsamsten Glücks hatte Richard Lüneborg, ein junger subalterner Offizier von gutem Rufe, den Weg aufgefunden. Seine Neigung für Anna sprach sich aufs redlichste aus und verhieß eine sichere Versorgung. Seine regelmäßigen Besuche erheiterten das Leben der Mädchen, ohne daß es darum aus der gewohnten und beliebten Enge nur im mindesten herauszugehen brauchte. Offen vor jedermann lag das Verhältnis da, kein Mensch hatte mit Grund etwas dagegen einzuwenden. [...]

Allein wie erschrak, wie erstaunte die Welt, als – Lucie Gelmeroth, das unbescholtenste Mädchen, sich plötzlich vor den Richter stellte, mit der freiwilligen Erklärung: sie habe den Lieutenant getötet, den Mörder ihrer armen Schwester, sie wolle gerne sterben, sie verlange keine Gnade! – Sie sprach mit einer Festigkeit, welche Bewunderung erregte, mit einer feierlichen Ruhe, die etlichen verdächtig vorkommen wollte und gegen des Mädchens eigne schauderhafte Aussage zu streiten schien; wie denn die Sache überhaupt fast ganz unglaublich war. Umsonst drang man bei ihr auf eine genaue Angabe der sämtlichen Umstände, sie blieb bei ihrem ersten einfachen Bekenntnisse. Mit hinreißender Wahrheit schilderte sie die Tugend Annas, ihre Leiden, ihren Tod, sie schilderte die Tücke des Verlobten, und keiner der Anwesenden erwehrte sich der tiefsten Rührung. [...]

Inzwischen sperrte man das sonderbare Mädchen ein und hoffte ihr auf diesem Weg in Bälde ein umfassendes Bekenntnis abzunötigen. Man irrte sehr; sie hüllte sich in hartnäckiges Schweigen, und weder List, noch Bitten, noch Drohung vermochten etwas. Da man bemerkte, wie ganz und einzig ihre Seele von dem Verlangen zu sterben erfüllt sei, so wollte man ihr hauptsächlich durch die wiederholte Vorstellung beikommen, daß sie auf diese Weise ihren Prozeß niemals beendigt sehen würde; allein man konnte sie dadurch zwar ängstigen und völlig außer sich bringen, doch ohne das geringste weiter von ihr zu erhalten.

Noch sagte mir Herr S., daß ein gewisser Hauptmann Ostenegg, ein Bekannter des Lieutenants, sich unmittelbar auf Luciens Einsetzung entfernt und durch verschiedenes verdächtig gemacht haben solle; es sei sogleich nach ihm gefahndet worden, und gestern habe man ihn eingebracht. Es müsse sich bald zeigen, ob dies zu irgend etwas führe. [...]

Es folgt der Bericht über die früheren Erlebnisse des Erzählers mit Lucie Gelmeroth:

Auf einmal zeigte sich von fern ein Licht – es war, wie ich richtig mutmaßte, in der Hofmeisterei – wir kamen ihm näher und riefen um Hülfe, was nur aus unsern Kehlen wollte – da prallte das Pferd vor der weißen Gestalt eines kleinen Obelisken zurück und schlug einen Seitenweg ein, wo es aber sehr bald bei einer Planke ohnmächtig auf die Vorderfüße niederstürzte und zugleich uns beide nicht unglücklich abwarf.

Nun zwar für unsere Person gerettet, befanden wir uns schon in einer neuen großen Not. Das Pferd lag wie am Tode keuchend, und war mit allen guten Worten nicht zum Aufstehn zu bewegen; es schien an dem, daß es vor unsern Augen hier verenden würde. Ich gebärdete mich wie unsinnig darüber, meine Freundin jedoch, gescheiter als ich, verwies mir ein so kindisches Betragen, ergriff den Zaum, schlang ihn um die Planke und zog mich mit sich fort, jenem tröstlichen Lichtschein entgegen, um jemand herzuholen. Bald hatten wir die Meierei erreicht. Die Leute, soeben beim Essen versammelt, schauten natürlich groß auf, als das Pärchen in seiner fremdartigen Tracht außer Atem zur Stube hereintrat. Wir trugen unser Unglück vor, und derweil nun der Mann sich gemächlich anzog, standen wir Weibern und Kindern zur Schau, die uns durch übermäßiges Lamentieren über den Zustand unserer kostbaren Kleidung das Herz nur immer schwerer machten. Jetzt endlich wurde die Laterne angezündet, ein Knecht trug sie, und so ging man zu vieren nach dem unglücklichen Platz, wo wir das arme Tier noch in derselben Stellung fanden. Doch auf den ersten Ruck und Streich von einer Männerhand sprang es behend auf seine Füße, und der Meier in seinem mürrischen Ton versicherte sofort, der dummen Kröte fehle auch kein Haar. Ich hätte in der Freude meines Herzens gleich vor dem Menschen auf die Kniee fallen mögen: statt dessen fiel mir Lucie um den Hals, mehr ausgelassen als gerührt und zärtlich allerdings, doch wohler hatte mir im Leben nichts Ähnliches getan. [...]

Hier bricht die Handschrift des Erzählers ab. Wir haben vergeblich unter seinen Papieren gesucht, vom Schicksal jenes flüchtigen Kaufmanns noch etwas zu erfahren. Auch mit Erkundigungen anderwärts sind wir nicht glücklicher gewesen."


(Hier der vollständige Text.)

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