Elena Cheah: Die Kraft der Musik, Edition Elke Heidenreich bei Bertelsmann, 2009
Untertitel: Das West-Eastern Divan Orchestra
Israelis und Araber haben im Normalfall eine so unterschiedliche Sozialisation, dass sie sich gegenseitig für die ärgsten Feinde halten. (Natürlich gibt es auch eine erstaunliche Menge rühmliche Ausnahmen.)
In das West-Eastern Divan Orchestra kommen fast alle Mitglieder des Orchesters nur wegen ihrer außergewöhnlichen Begabung und weil Musik, nicht zuletzt klassische, für sie im Zentrum des Lebens steht. Besonders im arabischen Raum gibt es nur wenige Orchester, die klassische Musik spielen und entsprechend wenige Möglichkeiten, bei hervorragenden Instrumentalisten seines Fachs zu studieren.
Wenn dann zwei Instrumentalisten vom gleichen Pult spielen, lernen sie sich sehr intensiv kennen, ohne über Politik zu sprechen. Wenn sie hohe persönliche Wertschätzung für einander haben, ist dann die Chance (das gelingt nicht immer), dass sie ihre extrem unterschiedlichen politischen Überzeugungen tolerieren und achten lernen und mit der Zeit sich sogar aneinander annähern können.
Aus dem Bericht von Meirav Kadichevski (S.205-228)
"Im Allgemeinen hatte ich Angst vor Muslimen. Ich dachte, alle wollten mich töten, also hatte ich vor allem Angst, was mit ihnen zu tun hatte. Aber Mohammed gehörte zu den Menschen, die immer lächeln und von ihm spürte ich keinerlei Aggressionen ausgehen. Zwischenraum (S. 207)
"Unsere Gespräche über Religion waren für mich höchst interessant und aufschlussreich, denn nun konnte ich ihm all die Fragen stellen, die ich schon lange beantwortet haben wollte. Er erzählte mir über seinen Alltag als Muslim und was ist für ihn tatsächlich bedeutete, Muslim zu sein, also über Dinge die ich nicht wusste und von denen ich niemals erfahren hatte." (S. 208)
"Ich wusste, dass er praktizierender Muslim war, aber anders als etwa bei orthodoxen Juden gab es dafür bei ihm selbst keine äußerlichen Anzeichen. Insofern konnte ich seine Religiosität erst richtig wahrnehmen, als ich ihn eines Tages beten sah. Er rollte seinen Gebetsteppich aus, den er immer bei sich trug, und ließ sich mit Knien und Händen darauf nieder. Als ich ihn so erlebte, wie ich Muslime bislang immer im Fernsehen gesehen hatte, lief mir plötzlich ein Schauder über den Rücken. Nach dem ersten Schock dachte ich jedoch: "Ich habe zu diesem Typen Vertrauen. Es gibt also keinen wirklichen Anlass dafür, Angst zu haben." (S.209)
"Mein Vater erzählte mir kürzlich zum ersten Mal, wie stark der Antisemitismus zu seiner Zeit in Argentinien gewesen war und wie er dort um sein Überleben kämpfen musste. Er berichtete von seinen Erlebnissen in der Basketballmannschaft der jüdischen Gemeinde. Wenn irgend jemand aus dem gegnerischen Team etwas gegen die Juden sagte, verdrosch die Mannschaft meines Vaters ihn noch auf dem Spielfeld oder auf der Straße, um ihre Stärke zu beweisen. Wenn man Schwäche zeigte, sagte er, fressen sie einen bei lebendigem Leibe auf.
Solche existenziellen Ängste sind bei vielen Israelis tief verwurzelt. Überlebensinstinkte und emotionale Reaktionen behindern uns und halten uns davon ab, friedfertige Lösungen für aufkommende Probleme zu finden. Ich würde zu gern glauben, dass die Menschheit langsam erkennt, dass Gewalt nur Gewalt schafft. Um die Probleme zu lösen, wäre es besser, mit den Leuten zu sprechen, oder sie wenigstens zu ignorieren, um Ihnen zu zeigen, dass Gewalt kein Kommunikationsweg ist." (S. 210/211)
"Nach meiner ersten Teilnahme beim Divan Workshop habe ich damit begonnen, aus mir herauszutreten und die Dinge von außen zu betrachten. Bei jeglichem Konflikt, der für mich im Orchester entstand, gewöhnte ich mir an, entweder auf die andere Seite zu treten und zu sehen, wie mich jemand von dort aus wahrnahm, oder mich komplett aus der Situation herauszunehmen und beide Seiten aus der Distanz zu beobachten. Dieses Vorgehen hat mein gesamtes Denken verändert und passiert seit her völlig automatisch.
Was ich "heraustreten" nenne, ist in der Tat ein Versuch, mein Bewusstsein in einen völlig anderen Zustand zu versetzen. Normalerweise sah ich bis dahin die Dinge nur mit meinen eigenen Augen, aber durch diesen Perspektivenwechsel versuche ich wirklich, eine Situation aus dieser anderen Warte zu verstehen. (S.217)
"So gern ich mich auch altruistisch gebe, für mich war es eine schockierende Erkenntnis, wie leicht ich im Alltag die Bedürfnisse der anderen vergesse, ohne es überhaupt zu bemerken." (S. 218)
"2005 spielten wir mit dem Orchester in Ramallah. Ich hatte vor dieser Reise Angst, denn die politische Lage war äußerst angespannt, und wir mussten unter Umständen mit aggressiven Widerstand rechnen. Aber ich war zugleich sehr aufgeregt. Ich dachte: "Wenn ich dort sterben muss, soll das für mich so sein. Wenn ich sterben muss, weil ich in Ramallah spiele, soll es geschehen. Denn wenn irgendeine meine Handlungen eine Bedeutung hat, dann diese Reise und der Auftritt dort." (S. 219)
"Die meisten Palästinenser, die ich kennen gelernt habe, werden wütend, wenn es um ihren Kampf geht. Das ist für mich nachvollziehbar, denn das passiert, wenn man lange Zeit unterdrückt wird. Ich kann mich noch gut an meine Gefühle während meiner Militärzeit erinnern, da fühlte ich mich auch unterdrückt. Man vergisst, wer man ist, man verliert allmählich seine Identität, und dann unternimmt man alles Erdenkliche, um sie zu behalten.
Ich war achtzehn Jahre alt und nicht sonderlich erpicht auf meinen Wehrpflichtdienst. Der Militärdienst bedeutete, fast zwei Jahre lang keine Musik zu machen oder Ballett zu tanzen." (S.221)
"Beim Militär gibt es eine klare geregelte Hierarchie. Jemand mit einem höheren Dienstgrad besitzt das Recht, mir zu sagen, was ich tun soll, unabhängig von seine Intelligenz oder seinen sonstigen Fähigkeiten. Aber ich konnte meine Frustration nicht an einem rangniedrigeren Soldaten auslassen, weil ich selbst auf der untersten Stufe der Leiter stand. Also schloss ich mich immer, wenn ich mich eine Minute absetzen konnte, in der Toilette ein und begann, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen, sprang herum und streckte meine Glieder, um mich zu vergewissern, dass ich noch lebendig war. Ich wollte mich und meinen Körper spüren, weil ich psychisch ausgelöscht war. So habe ich selbst Unterdrückung erfahren, die aber nur ein Jahr und neun Monate andauerte. Und ich wusste immer, wann sie vorbei war." (S. 222)
"Der Sommer 2006 war für den Workshop schwierig. Eine Woche vor Beginn brach der Krieg zwischen Israel und dem Libanon aus. [...] Leider hatten viele arabische Musiker beschlossen, in diesem Jahr nicht am Workshop teilzunehmen. Ich war deswegen sehr enttäuscht, aber natürlich respektierte ich ihre Entscheidungen. Ich verstand, dass sie sich kulturell und politisch in einer anderen Situation befanden und dass sie anderen Druckmechanismen ausgesetzt waren. Ich verstand zum ersten Mal, wie glücklich ich mich schätzen konnte, meine Meinung frei äußern und meinen Überzeugungen folgen zu können, was einigen meiner Kollegen nicht möglich war." (S. 223)
"Für mich bedeutet Mut nicht, Befehle zu befolgen, in den Krieg zu ziehen und andere Menschen umzubringen. Für mich bedeutet Mut, Fragen zu stellen eigene Antworten zu finden und die Bindungen zu lösen, die die Illusion von Sicherheit in meinem Leben schaffen." (S. 225)
"Man kann nicht die ganze Welt verändern, und wer bin ich denn, um zu sagen, was richtig und was falsch ist oder wer was tun sollte? Aber ich kann für mich selbst Verantwortung übernehmen und in mir die für mich beste Welt entwerfen. Wenn ich mich selbst ändere, kann ich auf meine unmittelbare Umgebung einwirken. Als ich bemerkte, wie unterschiedlich Menschen auf eine bestimmte Situation reagieren können, begriff ich, dass ich meine Reaktion auf eine Situation selbst erzeuge." (S. 225)
"Vielleicht führt die Tatsache, dass wir zumindest auf einer persönlichen Ebene gemeinsam mit unseren so genannten "Nationalfeinden" gegenseitige Vergebung und Akzeptanz erfahren, dazu, dass wir Mitglieder von West-Eastern Divan Orchestra so liebevoll miteinander umgehen. Wir sind wie Liebende, die sich nach einer emotionalen Auseinandersetzung wieder versöhnen und sich gegenseitig neu entdecken. Über die Jahre hinweg sind wir zu einer Familie zusammengewachsen. In den zahlreichen Orchestern, in denen ich gespielt habe, habe ich niemals etwas Ähnliches erlebt. Ich bin süchtig nach diesem Orchester, es ist zu einem Bestandteil meines Lebens geworden, ohne den ich nicht mehr leben kann." (S.228)
Das Beispiel von Mohamed Salem Ibrahim (Ägypter) und Mor Biron (Israeli, Berliner Philharmoniker) zeigt, wie intensiv so eine Freundschaft sein kann, auch wenn beide auf verschiedenen Erdteilen miteinander leben. Mohamed (S.237-256), die Freundschaft mit Mor (S.249-256). Mor hat inzwischen eine große Wohnung in Berlin "und er hat Mohamed einen Wohnungsschlüssel gegeben, damit er vorbeischauen kann, wenn er in Berlin ist. Manchmal aber schlafen sie immer noch im selben Bett ein." (S.256)
"[...] Als ich das Buch begann, dachte ich, dass die Absicht hinter dem Projekt war, dass Musiker aus eigentlich verfeindeten Ländern Freunde werden. Dass sie sich einfach verstehen sollten. Das war auch durchaus einer der Gedanken dahinter. Aber was mich besonders überrascht hat, obwohl es im Nachhinein so klar ist: Edward Said und Daniel Barenboim hatten nie die Illusion, dass dieser Workshop einfach so ohne Konflikte stattfinden könnte. Sie wussten, dass es diese geben würde und sie haben es darauf angelegt, dass über die Konflikte auch gesprochen/ diskutiert wurde."
"The West–Eastern Divan Orchestra is an orchestra based in Seville, Spain, consisting of musicians from countries in the Middle East, of Egyptian, Iranian, Israeli, Jordanian, Lebanese, Palestinian, Syrian and Spanish background." (en:Wikipedia)
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