28 September 2022

Kurkow: Graue Bienen

 "In seinem Roman "Graue Bienen" widmet sich der Autor dem vom Krieg geprägten Alltag der Menschen im Donbass: [...] Als endlich der Frühling anbricht, beschließt Sergejitsch seine Bienen einzupacken und in den Westen zu fahren, in der Hoffnung, sie irgendwo fernab vom Krieg frei fliegen lassen zu können."

Kurkow: Graue Bienen (Perlentaucher)

"Hauptschauplatz ist ein Dorf im Niemandsland der sogenannten Grauen Zone im Kampfgebiet zwischen der ukrainischen Armee und prorussischen Separatisten im Spätwinter 2016. Die meisten Einwohner sind vor den ständigen Raketenangriffen beider Seiten geflüchtet, ihre Häuser stehen leer, die Kirche ist zerbombt, seit drei Jahren gibt es Strom bestenfalls halbstundenweise pro Tag. 

Nur zwei Frührentner, der Hobbybienenzüchter Sergejitsch und Paschko, dessen Feind seit Kindheitstagen, harren noch im Dorf aus, ohne Fernsehen, ohne Radio, ohne Dorfladen, im niederdrückenden Grau in Grau des Wetters und der Umwelt. Sergejitsch ist Anhänger einer integralen Ukraine; Paschko sympathisiert mit den prorussischen Milizen, „unseren Verteidigern“. Die beiden stehen damit exemplarisch für die verfeindeten Bevölkerungsteile im Donbass mit ihren konträren politischen Sympathien." Sigrid Löffler: Andrej Kurkow: „Graue Bienen“Ein scharfes Bild des Ukraine-Konflikts, Deutschlandfunk 1.8.2019

"Das geht doch nicht", seufzte Sergejitsch und bemerkte, wie hilflos eine Worte klangen. (S.286)

Kleiner Exkurs zum Thema Hilflosigkeit

Vielleicht hätte man den russischen Text auch mit "Das darf doch nicht sein" übersetzen können. Die vorliegende Übersetzung der Taschenbuchausgabe von 2021 freilich erinnert an Merkels empörte Reaktion auf die Aufdeckung der Spitzelarbeit der NSA, wo sich bald ergab, das auch Merkel ausgespäht worden war: "Das geht gar nicht!" Das klang  energisch, aber auch schon ein bisschen nach dem Lehrer, der zwar empört ist, aber noch nicht weiß, was er dagegen tun soll. Auf den konkreten Fall bezogen klingt es so, als hätte Merkel eingesehen, dass die BRD auch lange nach der offiziellen Souveränität 1955 ein penetriertes System ist. (Nach Rosenau ist das "ein Staat oder staatliches Gebilde, dessen Gesellschaft von einer anderen Gesellschaft so durchdrungen ist, dass es die Ziele der anderen Gesellschaft übernimmt" (Wikipedia)) Wenn die BRD  auch nicht jedes Ziel unbesehen übernimmt, so ist sie doch von der NSA durchdrungen (penetriert), weil sie für die Ziele, die sie mit den meisten Staaten, die wie sie auf westlichen Wertordnung basieren, auf die Auslandsaufklärung der NSA angewiesen (oder glaubt es zu sein). So spricht wenig dafür, dass Snowdens Aufklärung in Deutschland zu mehr geführt hat als zu einem Verfassungsgerichtsurteil, dass diese Art von Ausspähung als grundgesetzwidrig erklärt (Spiegel 19.5.2020) 

Er fühlte sich ebenfalls hilflos, als würde auch in seinem eigenen Leben nichts von ihm selbst abhängen. Als säße er auf dem schneebedeckten Feld neben dem getöteten Burschen mit dem goldenen Ring im Ohr, als würden von oben Raketen und Granaten niederprasseln und mal weiter weg, mal in der Nähe explodieren, manchmal sogar so nah, dass der Lärm wie geschmolzenes Eisen in die Ohren floss. (S. 286)

Kurkow nennt den Roman offenbar deshalb "Graue Bienen", weil die Bienen als Teil der Natur keiner Partei zuzuordnen sind (und sich deshalb nicht glauben gegenseitig töten zu müssen). Deshalb sind sie Sergejitsch so wichtig, dass er ihnen zuliebe seine neutral graue Zone verlässt und sich damit notgedrungen auf das Leben außerhalb einlässt.

Daher scheint mir die Bemerkung der Rezensentin Löffler "Sergejitsch ist Anhänger einer integralen Ukraine; Paschko sympathisiert mit den prorussischen Milizen" zu verkürzt. Sergejitsch war in seiner Kindheit mit Paschko verfeindet. Inzwischen bilden sie eher eine Symbiose als einzige Zurückgebliebene des Ortes. In dieses "Feind"/Lebens-gemeinschaft-Verhältnis stellt Kurkow natürlich nicht zufällig, und nicht zufällig entdeckt Sergejitsch auf der Krim seine Nähe zu den Tataren, weil sie - wie er - keiner Partei zugehören, sondern in dem anderen den Menschen sehen. 

Die Tataren auf der Krim, die anlässlich der Besetzung durch Russland (jedenfalls nach der Darstellung Kurkows) der Ukraine keine Träne nachweinen, sehen in Sergejitsch den Menschen - anders als die Banderisten (für die er ein Feind ist) und die russischen Journalisten, die ihn für ihre Propaganda brauchen und nur stumme Bilder von ihm zeigen, weil sie seine Botschaft keinesfalls weitergeben wollen.

Auf der Krim: Als er morgens die Augen aufschlug, hatte er keine Zweifel mehr daran, im Paradies gelandet zu sein. Er war in einem Märchen, in dem die Natur den Menschen nicht nur diente, sondern ihn bediente, in dem die Sonne mit dem Untergehen wartete, bis der Mensch sein Tagewerk verrichtet hatte. [...]  Vor dem Hintergrund des Vogelgesangs kam in Sergejitsch die unerklärliche Überzeugung auf, dass alles Schlechte hinter ihm lag und vor ihm die verdiente Ruhe sowie ein Leben im Einklang mit den Bienen, also auch im Einklang mit der Natur. (S. 288/89 - Hervorhebung von Fontanefan)

Der Roman Andrij_Kurkows, 2019 veröffentlicht, ist ein Appell für den Frieden, der - Russlands Angriff von 2022 nicht vorausahnend - für keine Partei Stellung bezieht, auch nicht für die Ukraine, der 2014 wichtige Teile entzogen wurden, sondern nur für die Natur, den Frieden und die Zwischenmenschlichkeit.

Anlässlich der Beerdigung:

"Er fühlte sich schon wie eine Biene in einem fremden Bienenstock." (S.337)

"Im Bienenstock suchen sie nicht."

"Ja, da hast du recht! stimmts Paschka zu und klang fast glücklich. "Das war's! Also dann! Ich warte!"

'Na, einer wartet immerhin auf mich!' dachte Sergejitsch und trat aufs Gaspedal. (S.445)



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