Im Oktober 2022 wurde Annie Ernaux „für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerung aufdeckt“, der Nobelpreis für Literatur zuerkannt.[38][39]
"Das Werk Ernaux’ ist entschieden autobiografisch geprägt. Wiederholt thematisierte sie ihren eigenen Lebensweg vom Arbeiterkind zur Schriftstellerin. Dieser Selbstfindungsprozess spiegelt sich bei Ernaux auch im Wandel ihres Stils.[2]
1974 publizierte Ernaux ihren ersten autobiografischen Roman Les Armoires vides. 1984 erhielt sie für La Place den Prix Renaudot.
Der 2008 veröffentlichte Roman Les Années wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Ebenfalls 2008 erhielt sie den Prix de la langue française für ihr Gesamtwerk[6].
2011 veröffentlichte sie L’Autre Fille, einen Brief an ihre Schwester, die als sechsjähriges Kind, zwei Jahre vor der Geburt der Autorin, gestorben war.[7] Ebenfalls 2011 erschien L’Atelier noir, eine Sammlung von Notizen, Plänen und Gedanken zu ihrem Werk. Die Anthologie Écrire la vie erschien ebenfalls 2011 in Quarto. Darin enthalten sind neben den meisten ihrer autobiographischen Werke Fotografien und Tagebuchausschnitte.[8]
Im April 2016 veröffentlichte sie ein weiteres autobiographisches Werk, Mémoire de fille (Erinnerung eines Mädchens)[9], in dem sie sich mit den im Sommer 1958 gemachten ersten sexuellen Erfahrungen und deren lebenslangem Nachklang beschäftigt. Sie schreibt vom „Gedächtnis der Scham“[10]:
„Das große Gedächtnis der Scham ist sehr viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere. Es ist im Grund die besondere Gabe der Scham.“
Zu ihrer Arbeitsweise schreibt Ernaux programmatisch in Die Scham (1997, deutsch 2020):
„Um meine damalige (sc. 1952) Lebenswirklichkeit zu erreichen, gibt es nur eine verlässliche Möglichkeit, ich muss mir die Gesetze und Riten, die Glaubenssätze und Werte der verschiedenen Milieus vergegenwärtigen, Schule, Familie, Provinz, in denen ich gefangen war und die, ohne dass ich mir ihrer Widersprüche bewusst gewesen wäre, mein Leben beherrschten. Die verschiedenen Sprachen zutage bringen, die mich ausmachten, die Worte der Religion, die Worte meiner Eltern, die an Gesten und Gegenstände geknüpft waren, die Worte der Fortsetzungsromane, die ich in Zeitschriften las (...). Mich dieser Worte bedienen, von denen manche noch immer mit der damaligen Schwere auf mir lasten, um den Text der Welt, in der ich zwölf Jahre alt war und glaubte, wahnsinnig zu werden, anhand der Szene eines Junisonntags zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen.“
Zeitzeugin
Bisher seien alle französischen Revolutionen von Paris ausgegangen, nun zum ersten Mal nicht, bemerkt Ernaux zur Gelbwestenbewegung im Interview mit der Zeit. Es gebe einen Graben zwischen denen, die vom Liberalismus profitieren und in Zukunftsberufen arbeiten, und den Leuten, die in Dienstleistungsberufen oder als Arbeiter beschäftigt sind. „Sie haben das Gefühl festzustecken und nicht voranzukommen. Die Reden, die Macron hält, sind völlig losgelöst von ihrer Wirklichkeit.“ Die Benzinsteuer sei in bestimmter Hinsicht ein Symbol: Die Gelbwesten brauchten das Auto, weil es da, wo sie wohnen, keine öffentlichen Verkehrsmittel gebe. „Die kleinen Städte in Frankreich wurden schlimm vernachlässigt, das ist eine alte Geschichte.“[12]
„‚Gerettet werden soll […] der Mann in Schlafanzug und Hausschuhen in dem Altersheim in Pontoise, der jeden Nachmittag alle Besucher bat, seinen Sohn anzurufen, und ihnen weinend einen schmutzigen Zettel mit der Telefonnummer hinhielt‘. An anderer Stelle spricht Ernaux davon, dass ihr das Schreiben immer Angst mache, es sei eine ernste Sache: Es sei der ‚richtige Ort‘, derjenige, an dem sie sich an ihre Erinnerung wende. Das sei nicht einmal ein sehr persönlicher Akt, sondern wie der Besuch eines Archivs, das sie besonders gut kenne. Dieses Archiv sei eine Fiktion, und zwar diejenige, in der man seine eigene Erinnerung durchgehen könne wie einen Karteikasten. Diese Fiktion sei notwendig, um die Erzählung in Gang bringen zu können. Ein einzelnes Foto diene als Fund aus diesem Archiv, ein beschreibungsbedürftiges, zu analysierendes und erträgliches Einzelstück. So ein Foto sei ein guter Anfang, etwas Konkretes, über das man etwas sagen könne. Mit einer Beschreibung gehe es los, so sei man nicht allein mit der leeren Seite, das Foto sei ja da.“
Rezeption
Annie Ernaux gilt als „eine der prägendsten Stimmen der Französischen Gegenwartsliteratur“.[14] Sie wird im universitären Umfeld positiv rezipiert; ihr Werk ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten.[15][16] In der Literaturkritik wird ihr Werk vorwiegend positiv rezipiert, von einzelnen Stimmen hingegen als „Zurschaustellen des Elends“ oder „banale und unglaubliche Anmaßung“ beurteilt. Mémoire de fille wurde „ein Geruch nach Mottenkugeln“ attestiert, man habe „den Eindruck, dasselbe schon tausendmal“ von ihr gelesen zu haben.[17] Andere hingegen führen die große Popularität und die unmittelbare Verbundenheit zwischen Autorin und Leserschaft auf das große Talent von Ernaux zurück, die den schneidenden Stil ihrer ersten Romane zu einer klassischen Strenge weiterentwickelt habe.[18] Ihre trockene, minimalistische und kalt erscheinende écriture plate verberge vielleicht die Tränen: „cette froideur cache peut-être des larmes“[19] Nathalie Crom lobt Les Années als großes und schönes Buch, in welchem ihre Meisterschaft zur Blüte komme.[20] Ernaux erhalte seither außerordentliche Aufmerksamkeit durch Literaturkritik und Leserschaft; die Publikation von Les Années habe allgemeinen Beifall ausgelöst.[21] Das Buch wurde zum Bestseller.[22]
Nils Minkmar bewertete die im September 2017 veröffentlichte deutschsprachige Fassung von Les Années, Die Jahre, im "Spiegel" unter der Überschrift Ein weiblicher Proust als „Meisterwerk“. Ernaux habe „eine Klasse, die vielen ihrer männlichen Kollegen fehlt“.[23] Laut Ruth Fühner unternimmt Ernaux den weitgehend „großartig“ gelungenen Versuch, ihre „eigene Lebenszeit als Epoche“ darzustellen.[24] Im Deutschlandfunk Kultur kommentierte Peter Urban-Halle: „In unserer Zeit des autobiografischen Romans schreibt die Französin Annie Ernaux eine Anti-Autobiografie. Da sich für sie das Individuelle und das Kollektive gegenseitig beeinflussen, gibt es in ihrem einzigartigen Buch kein Ich.“ Die Schriftstellerin schreibe „sachlich“, „ohne Metaphern und ohne Beurteilungen“ aus soziologischer Perspektive, beeinflusst von Pierre Bourdieu und anhand von Fotos aus ihrem Leben.[25] Meike Feßmann bezeichnete in der Süddeutschen Zeitung Annie Ernaux als „herausragende Schriftstellerin“. Als Vorbilder für dieses „eigenständige“ Werk nennt Feßmann neben Marcel Proust und Virginia Woolf auch die Soziologen Michel Foucault und Pierre Bourdieu sowie Roland Barthes.[26] In der TAZ erschien eine Rezension von Klaus Bittermann Als die Leichen durch Paris schwammen. Der Titel bezieht sich auf das Massaker von Paris. „Nachkriegszeit, Algerienkrise, Mai ’68, Mitterrand, Frauenbewegung – Annie Ernaux hat ein ungewöhnliches Stück Gedächtnisliteratur geschrieben, in dem die persönliche Geschichte eine kollektive Geschichte erzählt. Keine klassische Autobiografie, weil, wie Annie Ernaux sagt: Man ist nicht allein.“ Bittermann konstatiert, es handele sich um ein „großes Buch“. Kritisch merkt er an, der hintere Teil der Erzählung sei teilweise banal, weil die Ereignisse keinen unmittelbaren Bezug mehr zu der Autorin hätten. Ab der Jahrtausendwende stellt er einen melancholischen Unterton und eine Distanz zu den Geschehnissen heraus.[27] Als Titel für seine Buchbesprechung wählte Tobias Schwartz im Tagesspiegel Etwas von der Zeit retten und zitiert damit einen Teil des letzten Satzes von Ernaux’ Werk. Er postuliert, man könne Ernaux eine Soziologin nennen. Gemeinsam mit dem Soziologen Didier Eribon, der sich ausdrücklich auf sie beziehe, trat sie im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2017 auf.[28] Ernaux sehe sich als „Ethnologin ihrer selbst“. Schwartz hebt hervor, der Text sei „experimentell“, „anspruchsvoll“, teilweise „gewagt“ und dennoch publikumswirksam.[29]
Das Literarische Quartett auf der Frankfurter Buchmesse hatte u. a. Annie Ernaux’ Werk Die Jahre zum Thema. Volker Weidermann, Christine Westermann und der Gast Johannes Willms sprachen sich für das Buch aus, Thea Dorn dagegen. Willms, der den Text vorstellte, nannte ihn eine „Soziografie“, eine Emanzipationsgeschichte als Frau und als Mädchen aus der Provinz, das in Paris eine Ausbildung als Lehrerin absolviert. Er empfahl die „spannende Lektüre“. Christine Westermann bezog den Text auf ihre eigene Kindheit und Jugend und bezeichnete ihn als Zeitreise in ihr eigenes Leben. Für Volker Weidermann ist Die Jahre bis 1989 ein „Aufbruchsbuch“, das ihn nach anfänglicher Irritation gepackt habe. Thea Dorn wandte sich scharf gegen die Verwendung des „man“ statt „ich“. Das „quasi soziologische“ statt literarische Buch sei politisch, links und poststrukturell. Sie monierte, ein Mädchen aus kleinen Verhältnissen in der Provinz dürfe nach Ernaux keine Subjektivität haben. Im Südwestfunk analysierte Michael Kuhlmann die Sprache der Autorin und wies auf die Leistung der Übersetzerin hin, durch die das Buch lesenswert sei.[30] Ein Interview von Beate Tröger mit Sonja Finck zu den Anforderungen an die Übersetzung erschien in der Wochenzeitung Der Freitag.[31] Laut Magnus Klaue gelingt Ernaux in Die Jahre, was Eribon in Rückkehr nach Reims nur versprochen habe: „die glückliche Allianz von Autobiographie und Historiographie.“[32] Christoph Vormweg zufolge handelt es sich um eine Provozierende Aufforderung zur Selbstbesinnung. Er zitiert Ernaux’ Intention, „etwas von der Zeit (zu) retten, in der man nie wieder sein wird.“[33]
Im Tagesspiegel rezensiert Gerrit Bartels die Erinnerung eines Mädchens unter dem Titel Begehrenswert ist das Begehren. ‘Bemerkenswert unerschrocken‘ schon im Jahr 1958[34]:
„Aufregend ist, wie Ernaux sich in ihrem Buch selbst umkreist, wie sie nach dem Wirklichkeitsgehalt des Erlebten, dem Erinnerten fragt, wie sie um den Erkenntniswert, um die Wahrheit ‚dieser Erzählung‘ ringt. Und dass sie weiß: deshalb ist ihre autobiografische Literatur etwas Besonderes, ist ihr Leben ein unerschöpfliches Stoffreservoir, weil sich das Schreiben, das Erlebte und das Erinnern nie gänzlich zur Deckung bringen lassen.“
In der Wiener Zeitung zitiert Shirin Sojitrawalla Ernaux zum Verhältnis von Ereignis und Erinnerung:
„Ich konstruiere keine Romanfigur. Ich dekonstruiere das Mädchen, das ich gewesen bin […] Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.“
Ernaux betrachtet ihr Werk im Zusammenhang von Literatur, Soziologie und Geschichte und „will in einem individuellen Gedächtnis das Gedächtnis des kollektiven Gedächtnisses finden und so die Geschichte mit Leben füllen.“[36] Sie beschreibt ihr Ich als fragmentarisch, nicht kontinuierlich, vom Zufall bestimmt. Traumatisierende Erlebnisse in Kindheit und Jugend wurden in der Familie verschwiegen und sind Ursache einer lebenslangen Scham.[37]
„"Ich werde ihre Stimme nie mehr hören. Sie, ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren." Was für Sätze! Annie Ernaux schreibt sie in ihrem neuen Buch "Eine Frau", die Frau ist ihre Mutter, ... Sonja Finck hat es ins Deutsche übersetzt.“
Speziell dem Verhältnis Ernaux zu Pierre Bourdieu widmet sich Franz Schultheis 2020:
„In Frankreich hatte Ernaux parallel zu Bourdieus "Die feinen Unterschiede" vor fast vier Jahrzehnten eine wahlverwandte und in vielerlei Hinsicht ergänzende literarische Sicht auf die französische Klassengesellschaft entwickelt. Es ist erstaunlich, wie spät man sie im deutschsprachigen Raum entdeckt hat […] In den 1980er Jahren, als Bourdieus und Ernaux' Gesellschaftsanalysen in Frankreich zum Standardrepertoire des intellektuellen Lebens gehörten, feierte die deutsche Mainstream-Soziologie das "Ende der Klassengesellschaft" und den Fahrstuhl nach oben für alle. Jetzt, fast 4 Jahrzehnte danach, scheint man sich angesichts wachsender gesellschaftlicher Ungleichheiten beim Zugang zu allen Formen an Lebens-Chancen zu besinnen und die Schwerkraft gesellschaftlicher Reproduktionen neu zu entdecken.“
eurotopics (7.10.2022) Annie Ernaux erhält als erste französische Frau den Literaturnobelpreis. Das Nobelpreiskomitee zeichnete die 82-Jährige aus für "ihren Mut und ihre klinische Scharfsinnigkeit, mit der sie die Wurzeln, Entfremdung und die kollektiven Zwänge persönlicher Erinnerungen aufdeckt". Auch Europas Presse würdigt die Auszeichnung an eine unerschrockene und politische Autorin. | |||||||||||||||||||
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Aus der nackten Realität herausDas Komitee hat eine gute Entscheidung getroffen, freut sich die taz:
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Späte WürdigungAuch die Kleine Zeitung begrüßt die Auszeichnung Ernaux':
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