16 Oktober 2022

Michel Bergmann: Die Teilacher

 Michel Bergmann: Die Teilacher, 2010

Rezensionen bei Perlentaucher

Wikipedia: "2010 brachte er seinen ersten Teil einer Roman-Trilogie unter dem Titel Die Teilacher heraus, der auf humorvolle Art die Nachkriegsgeschichte der Frankfurter Juden thematisiert. Der Roman war ein großer Erfolg und wurde ab 2016 von Sam Garbarski (Irina Palm) als Deutsch-Luxemburgisch-Belgische-Coproduktion verfilmt. 2017 wurde der Film unter dem Titel Es war einmal in Deutschland… auf der Berlinale uraufgeführt."

Zitate:

David Bermann erzählt:

"Naja, und weil es immer wieder zu Beschwerden von Kunden gekommen war, die rumnörgelten, die Preise sind zu hoch, die Bedienung ist schlecht, die Ware ist mies, da  habe ich das Handtuch geworfen, wie man so schön sagt.
Ich habe mich einfach selbst an die Spitze der Vertreterkolonne gesetzt, die für die Firma reiste. Ich wollte nur noch Teilacher sein. Das hat mir gefallen.
Mein Bruder Emanuel hat nur den Kopf geschüttelt, und Isy hat sich aufgeführt: man muss meschugge sein, um Teilacher zu werden!, hat er geschrien.
Na ja, habe ich gesagt, man muss nicht meschugge sein, aber es kann nicht schaden!
Dann sprang er auf: Ich werd dir geben, Teilacher! Er ist hin und her gerannt im Zimmer. Teilacher willst du sein? Den dicken potz spielen, in der Gegend rumkutschieren und mit schickses rummachen! Das willst du!
Ich habe nur gestanden und ruhig an meiner Zigarette gezogen.
Warum nicht? Das ist schlecht?
Du bist doch eine Schande für die Familie, bist du!
Da habe ich gesagt: und du bist a nudnik! Du weißt, was das ist, ein nudnik? Ein nudnik ist einer, den du fragst, na, wie geht’s… und er erzählt es dir! [...]
Glaub mir, es war meine glücklichste Zeit, sagte David und schaute in die Ferne. Ich war jung, verdiente gutes Geld, und jeder Tag war wie ein Fest. Ich konnte mir meine Zeit einteilen, das habe ich gebraucht. Ich glaube, das war immer das Wichtigste in meinem Leben: über meine Zeit verfügen zu können, keiner, der mir Vorschriften macht. Das ist der größte Luxus, den man haben kann im Leben. Eines Tages wirst du dich erinnern, und du wirst sagen, der Onkel David hat viel Quatsch erzählt, aber wo er recht hat, hat er recht. Und was die Zeit betrifft, da hatte er recht.
Und was hast du gemacht in deiner Freizeit?
Was habe ich gemacht? Ja, ich bin oft in den Taunus gefahren und hatte Maria dabei, Maria Nickel, meine heimliche Verlobte.
Was heißt Verlobte? Doch, es war schon ernst damals, wenn ich so zurückdenke wir waren ziemlich verliebt. [...]" (S. 43/44)

"Das jüdische Substantiv "Teilacher" ist der Cousin des jiddischen Berliner Verbs "teilachen" und das heißt. im vulgären Sprachgebrauch so viel wie "abhauen". Seinen Ursprung hat dies wiederum in dem Wort für Hausierer und müsste eigentlich "Teillaacher" geschrieben werden. Es ist ein Pleonasmus und setzt sich zusammen aus dem Begriff "Teil" und dem Wort "Laachod", Einzelhandel. Der Teilacher als Vertreter des Einzelhandels, ist das kleinste spaltbare Teilchen, das / Atom der Kaufmannswelt. Was den Teilacher vom herkömmlichen Handlungsreisenden unterscheidet: der Teilacher ist Jude. Oder er gibt sich als solcher aus. Denn es gab eine Zeit, da konnte das, unglaublich, aber wahr, Vorteile haben. Aber auch Nachteile.

Wer allerdings glaubt, Teilacher wären gern Teilacher, der irrt. Sie mögen ihren Beruf nicht. Mal ehrlich, ist das ein Leben für einen ausgewachsenen, intelligenten Menschen? Nein, die Teilacher der Nachkriegsjahre waren Gestrandete. Sie alle hatten die Idee gehabt, Warenhausbesitzer, Wundergeiger, Architekt, Anwalt oder Arzt zu werden, aber der Führer wusste dieses zu verhindern. So sahen sie ihren Beruf als eine Art von vorübergehendem, schicksalhaftem Ereignis auf dem steinigen Weg zu etwas ganz anderem, etwas Besserem." (S. 105/106)

Die Widersprüche zwischen David Bermanns Aussage (S.33/44) und der seines Neffen Alfred Kleefeld, des Erzählers (S.105/106), brauchen einen nicht zu wundern, denn die Zeiten, wo jüdische Warenhausbesitzer so viel finanzielle Sicherheit ausstrahlten, dass einer ihrer Verwandten es sich leisten konnte, sich seine Arbeit danach auszusuchen, wo er mehr Freizeit hatte, waren seit der Judenverfolgung durch die Nazis vorbei. 

"Bis 1941 sind etwa zwanzigtausend Juden aus Europa nach Shanghai geflohen. Die Stadt war das "Exil der kleinen Leute", und es begann sich rasch eine Infrastruktur zu entwickeln. Es gab die deutschen Viertel "Klein-Berlin" und "Klein-Wien" und viele wohltätige Menschen. Einer davon war Herr Eisen, Emigrant aus Berlin, der das Café Luise in der Bubbling – Well – Road betrieb, das zum Mittelpunkt der Immigrantenszene wurde. Hier arbeitete Emil Verständig in den ersten Monaten nach seiner Ankunft als Kellner.

Mithilfe eines chinesischen Strohmanns übernahm Verständig im Jahre 1940 eine kleine Bar im Stadtteil Hong-kew. Hier war er in seinem Element, hier konnte er seine sarkastischen Witze loswerden, hier hielt er Hof. Die Bar war keine Goldgrube, aber ernährte ihren Mann. Und für Agenten, Spione und Journalisten war der Ort ein idealer Tummelplatz. [...]
Noch war alles ruhig.
Das änderte sich schlagartig, als die Japaner 1941 Shanghai besetzten und es mit den mit ihnen verbündeten Nazis gleichtun wollten. Die Japaner, die zwar keine Antisemiten waren, / aber von Hause aus nicht zimperlich und mit einem hohen Maß an Herrenmenschenideologie behaftet, erließen sogleich strenge "Judengesetze" und erfassten im Lauf der nächsten Monate fast fünfzehntausend illegale Ausländer auf Listen.
Verständig wurde ernst und meinte:
Mit einer Liste fängt es an.
Er sollte Recht behalten.
In Emil Verständigs Bar ging es zu wie in einem Bienenstock: jeder ahnte, wusste, mutmaßte, hörte, vermutete, beschwor, klagte, jammerte, fluchte und rebellierte.
Als sich die Nachricht verbreitete, die Japaner beabsichtigten, ein Getto für die Juden einzurichten, hielten das die meisten für einen miesen Witz.
Verständig aber, hinter seiner Bar, glaubte daran und schaute auf den aufgeregten Hühnerhaufen, der vor ihm stand, und sagte:
Freunde, zuerst Ghetto – am Ende KZ!
Auch hier sollte er sich nicht irren.
Der lange Arm der Gestapo reichte bis nach China. Es gab plötzlich eine Ortsgruppe der NSDAP, es wehte die Hakenkreuzfahne [...] Ende 1942 Gestapo-Offizier Josef Meisinger nach Shanghai, nachdem er erfolgreich das Warschauer Getto liquidiert hatte. Er wollte mit seinen japanischen Verbündeten über Pläne zur Ermordung der Juden sprechen. Angeblich wollte die Gestapo die Schanghaier Juden auf Flöße treiben und auf dem offenen Meer verhungern lassen. Auch über ein KZ mit Verbrennungsöfen bei Shanghai wurde diskutiert. [...]/ Aber Verständlig hatte nicht sein Auge verloren, um blind und hilflos zu werden, und er organisierte eine Art Untergrund. [...] 
Wie von ihm vorausgesagt, bemühten sich die Japaner noch in den letzten Kriegsmonaten auf Anweisung der deutschen Regierung ein Internierungslager außerhalb von Shanghai fertigzustellen, das aber von den chinesischen Partisanen gemeinsam mit jüdischen Saboteuren zerstört werden konnte.
Kurz nach dem Endes des Pazifikkriegs im August 1945 heiratete Verständig seine rumänische Kellnerin Sofia, und das Ehepaar reiste ein Jahr später nach Deutschland, in die Stadt, aus der Verständig verjagt worden war: Frankfurt am Main!

Verständig und seine Frau hausten in einem sogenannten "Verschlepptenlager" im Vorort Rödelheim. Hier hatten die Sieger viele Überlebende untergebracht, aber die Umstände waren nur unwesentlich besser als in einem KZ. Die Verständigs mussten sich einen Raum mit zwei älteren orthodoxen Juden und deren Frauen teilen, die auf eine Ausreise nach Palästina warteten. [...]" (S.140-43)

Verständig und Krautberg beim Verkauf von Wäschepaketen:
"Er suchte mit zusammengekniffenem Auge die Grabsteine ab, las die Namen. Wischte Schnee von Grabplatten, bis er schließlich fand, was er suchte. Es war ein Familiengrab, und unter den Namen Wilhelm Schütz, Dorothea Schütz, geb. Langer, Herbert Schütz, Minna Schütz geb. Schmittchen, stand der entscheidende, frisch eingravierte Satz: In Erinnerung an unseren geliebten Sohn, unter Offizier Heinrich Schütz, geboren 4. März 1921, gefallen am 12. Oktober bei Smolensk
Fabelhaft! Verständig klatschte in die Hände.
"Schütz" stand deutlich auf dem Messingschild an der Tür des schmucken Zweifamilienhauses. Verständig beugte sich zu dem Klingelknopf und drückte einmal kurz. Ein Gong ertönte, und nach ein paar Sekunden öffnete ein älterer, grauhaariger Herr mit Hornbrille die verglaste Haustür mit Spanngardine.
Ja bitte?
Ist das zufällig hier das Haus von  Familie Schütz?, fragte Verständig naiv.
Ja. Ich bin der Herr Schütz, antwortete der Mann misstrauisch.
Prima! Dann bin ich richtig, rief Verständig fröhlich. Ist denn der Heini zu Hause?
Der Mann wurde ernst.
Wenn Sie unseren jüngsten Sohn, also den Heinrich, meinen, der ist tot, der ist in Russland geblieben.
Was? Verständig begann zu straucheln und musste sich am Türrahmen festhalten. Das ist nicht wahr! Der Heinrich? Ich kann es nicht glauben.
Doch. Leider. Es ist wahr. Kannten Sie denn meinen Sohn?
Was heißt kannten? Gut sogar. Ein Kamerad! Wir waren zusammen in… Warten Sie, bei Smolensk war das, glaube ich. Wir haben noch unsere Adressen ausgetauscht.
Ja. Smolensk, Da ist es passiert. Ein Hinterhalt. Partisanen.
Partisanen? Banditen!
Das können sie laut sagen, aber kommen Sie doch rein. Ein Kamerad von Heinrich ist uns immer willkommen.
Gerda! Hier ist ein Herr… Wie war der Name?
Wehrmann! Wie Wehrmacht, mit einem richtigen Mann hinten, ha, ha.
Krautberg saß bereits über dreißig Minuten in dem kalten Wagen. Die Scheiben waren beschlagen. Er musste an das Lager denken, an die endlosen dunklen Winter. Hopp, hopp, raus, raus! Er wischte sich einen Sehschlitz frei und starte auf das erleuchtete Parterrefenster." (S.156-58)

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