Friedrich Schiller: Der Geisterseher (Gespräch)
"[...]›Gnädigster Prinz‹, fing ich von neuem an, ›hab ich Sie auch recht verstanden? Der letzte Zweck des Menschen ist nicht im Menschen, sondern außer ihm? Er ist nur um seiner Folgen willen vorhanden.‹
»Lassen Sie uns diesen Ausdruck vermeiden, der uns irreführt. Sagen Sie, er ist da, weil die Ursachen seines Daseins da waren und weil seine Wirkungen existieren, oder, welches ebensoviel sagt, weil die Ursachen, die ihm vorhergingen, eine Wirkung haben mußten, und die Wirkungen, die er hervorbringt, eine Ursache haben müssen.«
›Wenn ich ihm also einen Wert beilegen will, so kann ich diesen nur nach der Menge und Wichtigkeit der Wirkungen abwägen, deren Ursache er ist?‹
»Nach der Menge seiner Wirkungen. Wichtig nennen wir eine Wirkung bloß, weil sie eine größre Menge von Wirkungen nach sich ziehet. Der Mensch hat keinen andern Wert als seine Wirkungen.«
›Derjenige Mensch also, in welchem der Grund mehrerer Wirkungen enthalten ist, wäre der vortrefflichere Mensch?‹
»Unwidersprechlich.«
›Wie? So ist zwischen dem Guten und Schlimmen kein Unterschied mehr! So ist die moralische Schönheit verloren!‹
»Das fürcht ich nicht. Wäre das, so wollte ich sogleich gegen Sie verloren geben. Das Gefühl des moralischen Unterschiedes ist mir eine weit wichtigere Instanz als meine Vernunft – und nur alsdann fing ich an, an die letztere zu glauben, da ich sie mit jenem unvertilgbarem Gefühle übereinstimmend fand. Ihre Moralität bedarf einer Stütze, die meinige ruht auf ihrer eigenen Achse.«
›Lehrt uns nicht die Erfahrung, daß oft die wichtigsten Rollen durch die mittelmäßigsten Spieler gespielt werden, daß die Natur die heilsamsten Revolutionen durch die schädlichsten Subjekte vollbringt? Ein Mahomed, ein Attila, ein Aurangzeb sind so wirksame Diener des Universums, als Gewitter, Erdbeben, Vulkane kostbare Werkzeuge[167] der physischen Natur. Ein Despot auf dem Thron, der jede Stunde seiner Regierung mit Blut und Elend bezeichnet, wäre also ein weit würdigeres Glied ihrer Schöpfung, als der Feldbauer in seinen Ländern, weil er ein wirksameres ist – ja was das Traurigste ist, er wäre eben durch das vortrefflicher, was ihn zum Gegenstande unsers Abscheues macht, durch die größre Summe seiner Taten, die alle fluchwürdig sind – er hätte in eben dem Grade einen größern Anspruch auf den Namen eines vortrefflichen Menschen, als er unter die Menschheit herabsinkt. Laster und Tugend –‹
»Sehen Sie«, rief der Prinz mit Verdrusse, »wie Sie sich von der Oberfläche hintergehen lassen, und wie leicht Sie mir gewonnen geben! Wie können Sie behaupten, daß ein verwüstendes Leben ein tätiges Leben sei? Der Despot ist das unnützlichste Geschöpf in seinen Staaten, weil er durch Furcht und Sorge die tätigsten Kräfte bindet und die schöpferische Freude erstickt. Sein ganzes Dasein ist eine fürchterliche Negative; und wenn er gar an das edelste, heiligste Leben greift und die Freiheit des Denkens zerstöret – hunderttausend tätige Menschen ersetzen in einem Jahrhunderte nicht, was ein Hildebrand, ein Philipp von Spanien in wenig Jahren verwüsteten. Wie können Sie diese Geschöpfe und Schöpfer der Verwesung durch Vergleichung mit jenen wohltätigen Werkzeugen des Lebens und der Fruchtbarkeit ehren!«
›Ich gestehe die Schwäche meines Einwurfs – aber setzen wir anstatt eines Philipps einen Peter den Großen auf den Thron, so können Sie doch nicht leugnen, daß dieser in seiner Monarchie wirksamer sei, als der Privatmann bei dem nämlichen Maß von Kräften und aller Tätigkeit, deren er fähig ist. Das Glück ist es also doch, was nach Ihrem Systeme die Grade der Vortrefflichkeit bestimmt, weil es die Gelegenheiten zum Wirken verteilet!‹
»Der Thron wäre also nach Ihrer Meinung vorzugsweise eine solche Gelegenheit? Sagen Sie mir doch – wenn der König regieret, was tut der Philosoph in seinen Reichen?«
›Er denkt.‹
»Und was tut der König, wenn er regieret?«
›Er denkt.‹
»Und wenn der wachsame Philosoph schläft, was tut der wachsame König?«[168]
›Er schläft.‹
»Nehmen Sie zwei brennende Kerzen, eine davon stehe in einer Bauerstube, die andre soll in einem prächtigen Saale einer fröhlichen Gesellschaft leuchten. Was werden sie beide?«
›Sie werden leuchten. Aber eben das spricht für mich – Beide Kerzen, nehmen wir an, brennen gleich lang und gleich helle, und verwechselte man ihre Bestimmung, so würde niemand einen Unterschied merken. Warum soll die eine darum vortrefflicher sein, weil der Zufall sie begünstigte, in einem glänzenden Saal Pracht und Schönheit zu zeigen, warum soll die andre schlechter sein, weil der Zufall sie dazu verdammte, in einer Bauernhütte Armut und Kummer sichtbar zu machen? Und doch folgte dies notwendig aus Ihrer Behauptung?‹
»Beide sind gleich vortrefflich, aber beide haben auch gleichviel geleistet?«
Gegenwärtig fehlt mir die Zeit, mich auf einen Text intensiver einzulassen. Den Geisterseher habe ich wohl zwischen 12 und 17 J. kennengelernt, spannend gefunden und war dann enttäuscht, dass Schiller ihn nicht beendet hat. Zu seiner Stellung in seinem Werk hier in der Wikipedia mehr: Der Geisterseher.
Heute fiel mir unvermutet das Gespräch
in die Hand. Bemerkenswert, wie er Philosophie in den Spannungsroman einfügt, den er gebrauchen konnte, um seine Leser/innen an seiner Zeitschrift Thalia festzuhalten.