04 März 2025

Dickens: David Copperfield - Heiratspläne und Folgen

 »Ich glaube, wir tun gut, Mr. Traddles, es auf eine Beobachtungsprobe ankommen zu lassen. Deshalb sind wir geneigt, insoweit auf Mr. Copperfields Vorschlag einzugehen, daß wir seine Besuche hier gestatten.« »Niemals werde ich Ihnen Ihre Güte vergessen, meine verehrten Damen!« rief ich. Es war mir ein Stein vom Herzen gefallen. »Aber,« fuhr Miß Lavinia fort, »wir wünschen, daß diese Besuche vorderhand so angesehen werden, Mr. Traddles, als ob sie uns gälten. Wir müssen uns hüten, eine formelle Verlobung zwischen Mr. Copperfield und unserer Nichte anzuerkennen, ehe wir nicht Gelegenheit gehabt haben –« »Ehe du nicht Gelegenheit gehabt hast, liebe Schwester Lavinia!« »Sei es,« stimmte Miß Lavinia mit einem Seufzer bei. »Ehe ich nicht Gelegenheit gehabt habe sie zu beobachten.« Location: 294

»Bei dieser Sachlage,« fuhr Miß Lavinia fort und zog wieder ihre Notizen zu Rate, »und da wir seine Besuche unter einer andern Bedingung nicht gestatten können, müssen wir von Mr. Copperfield die bestimmte Zusage auf Ehrenwort verlangen, daß er mit unserer Nichte in keiner andern Weise und ohne unser Wissen in Verkehr tritt, – daß kein Plan, wie beschaffen er auch immer sei, in bezug auf unsere Nichte entworfen wird, ohne daß man ihn zuerst uns unterbreitet.« »Dir, Schwester Lavinia!« »Sei es so, Clarissa, –« sagte Miß Lavinia mit Resignation, »– also mir! Wir müssen dies zu einer ausdrücklichen und ernstlichen Bedingung machen, die um keinen Preis verletzt werden darf. Wir wünschten Mr. Copperfield heute mit einem vertrauten Freunde bei uns zu sehen,« – mit einer Verbeugung gegen Traddles, der sie erwiderte, – »damit über diese Sache kein Zweifel oder Mißverständnis entsteht. Wenn Mr. Traddles oder Sie, Mr. Copperfield, den mindesten Anstand nehmen dieses Versprechen zu geben, so bitte ich Sie, sich die Sache erst zu überlegen.« In höchster Begeisterung rief ich aus, daß keine Sekunde Überlegung nötig sei. Ich legte das verlangte Versprechen in der leidenschaftlichsten Weise ab, rief Traddles zum Zeugen an und nannte mich den verabscheuungswürdigsten Menschen, wenn ich es jemals auch nur im mindesten verletzte. Location: 308

Ich nahm die Glückwünsche meines Freundes entgegen und schwebte in einem Gefühl, als wäre ich in die Regionen ewiger Glückseligkeit versetzt. Genau nach Ablauf einer Viertelstunde traten die Damen mit Würde wieder ein. Sie waren fortgerauscht, als ob ihre Kleider aus Herbstblättern bestünden, und rauschten in derselben Weise wieder herein. Ich verpflichtete mich feierlich von neuem an den vorgeschriebenen Bedingungen festzuhalten. »Liebe Schwester Clarissa,« sagte Miß Lavinia, »das Übrige ist deine Sache.« Miß Clarissa löste jetzt zum ersten Mal ihre verschränkten Arme, ergriff den Brief und warf einen Blick auf die Notizen. »Wir werden uns glücklich schätzen,« sagte sie, »Mr. Copperfield jeden Sonntag zum Essen bei uns zu sehen, wenn es ihm paßt. Wir speisen um drei Uhr.« Ich verbeugte mich. »Im Lauf der Woche,« fuhr Miß Clarissa fort, »werden wir uns glücklich schätzen, Mr. Copperfield beim Tee zu sehen. Unsere Stunde ist halb sieben.« Ich verbeugte mich abermals. »Zweimal in der Woche als Regel, nicht öfter.« Ich verbeugte mich wiederum. »Miß Trotwood, von der in Mr. Copperfields Briefe Erwähnung geschieht, wird uns vielleicht auch besuchen. Wenn Besuche für das Glück aller Beteiligten angezeigt erscheinen, empfangen wir gern Besuche und erwidern sie auch. Wenn es besser ist für das Glück aller Beteiligten, daß keine stattfinden – wie es bei unserm Bruder Francis und seiner Familie der Fall war –, so ist das etwas ganz anderes.« Ich beteuerte, daß meine Tante sich stolz und glücklich schätzen würde, die Bekanntschaft der Damen zu machen, – obgleich ich nicht ganz sicher war, daß sie gut zusammenpassen würden.  Location: 329

»Liebste Dora! Jetzt bist du für immer mein!« »O, bitte nicht,« flehte Dora, »bitte.« »Bist du denn nicht für immer mein, Dora?« »O ja, natürlich! Aber ich bin so erschrocken.« »Erschrocken, mein Herz?« »O ja. Ich kann ihn nicht ausstehn. Warum geht er nicht fort.« »Wer denn, Herzensschatz?« »Dein Freund. Es geht ihn doch gar nichts an! Wie dumm er sein muß!« »Aber liebe Dora – (nichts konnte entzückender sein als ihre kindische Art) – er ist das beste Geschöpf von der Welt.« »Aber wir brauchen keine besten Geschöpfe,« schmollte Dora. »Du wirst ihn bald besser kennen lernen, Liebling, und er wird dir gefallen. Und meine Tante kommt auch bald her, und auch an ihr wirst du viel Gefallen finden, sobald du sie näher kennst.« »O, bitte nein, bringe sie nicht her,« sagte Dora, gab mir schnell und erschrocken einen Kuß und faltete die Hände. »O, bitte nicht! Ich weiß, sie ist eine böse, Unheil stiftende, alte Frau. Bringe sie nicht her –, Doady!« was eine Abkürzung für David sein sollte. Ich sah wohl, Vorstellungen halfen jetzt nichts. So lachte ich und war sehr verliebt und sehr glücklich. Sie zeigte mir Jips neuestes Kunststück, wie er in einer Ecke auf den Hinterbeinen stehen konnte; – er tat es etwa so lange, wie ein Blitz aufleuchtet, und fiel dann wieder zusammen, – und ich weiß nicht, wie lange ich dageblieben wäre, ohne an Traddles zu denken, wenn Miß Lavinia mich nicht holen gekommen wäre. Location: 379

Etwas machte mir große Sorge, als wir so in stillem Glück dahinlebten. Nämlich, daß Dora, wie auf allgemeinen Beschluß, wie ein hübsches Spielzeug behandelt wurde. Meine Tante, mit der sie nach und nach vertraut wurde, nannte sie immer nur »Blümchen«, und Miß Lavinia fand ihr einziges Vergnügen darin, sie zu verhätscheln, ihr das Haar zu locken, Putz für sie zu nähen und sie wie ein Schoßkind zu behandeln. Und die Schwester folgte natürlich Miß Lavinias Beispiel. Ich nahm mir vor, mit Dora darüber zu sprechen, als wir einmal zusammen spazieren gingen. Wir hatten nämlich nach einiger Zeit die Erlaubnis bekommen, allein auszugehen. »Mein Liebling,« stellte ich ihr vor, »du bist doch kein kleines Kind!« »Da haben wirs,« sagte Dora. »Jetzt wirst du wild.« »Wild, meine Liebe?« »Sie sind doch so gut gegen mich,« sagte Dora, »und ich fühle mich so glücklich!« »Das ist herrlich, aber mein Liebling,« sagte ich, »du könntest doch sehr glücklich sein und dabei vernünftig behandelt werden.« Dora warf mir einen allerliebsten vorwurfsvollen Blick zu, fing dann an zu schluchzen und fragte, warum ich mich denn mit ihr verlobt hätte, wenn ich sie nicht ausstehen könnte. Was konnte ich anderes tun, als ihr die Tränen wegküssen und ihr beteuern, wie sehr ich sie liebte. »Ich bin so liebebedürftig,« sagte Dora, »und du solltest nicht so hart gegen mich sein, Doady.« »Ich hart, Herzensschatz? Als ob ich um eine ganze Welt hart gegen dich sein wollte oder könnte.« »Dann schilt mich nicht immer aus!« sagte Dora und machte eine Rosenknospe aus ihren Lippen, »und ich will wieder gut sein.« Location: 398

Dann versuchte ich wie im Scherz, einen mündlichen Unterricht in Haushaltungssachen zu beginnen. Wenn wir an einem Fleischerladen vorübergingen, fragte ich zum Beispiel: »Denke einmal, Schatz, wir wären verheiratet, und du wolltest zum Mittagessen eine Hammelkeule kaufen. Wie würdest du das wohl machen?« Das Gesicht meiner hübschen, kleinen Dora wurde betrübt, und sie machte wieder eine Rosenknospe aus ihrem Munde. »Würdest du wissen, wie man sie kauft?« wiederholte ich dann vielleicht, wenn ich besonders unbeugsam gestimmt war. Dora pflegte in einem solchen Fall ein wenig nachzudenken und triumphierend zu antworten: »Aber der Fleischer weiß doch, wie er sie zu verkaufen hat, was brauche ich es da zu wissen! O Gott, was bist du für ein närrischer Junge!« Ein ander Mal, als ich Dora fragte, was sie wohl tun würde, wenn wir verheiratet wären und ich möchte gern ein delikates irisches Ragout, gab sie zur Antwort, sie würde der Köchin auftragen es zu bereiten. Und dann faltete sie ihre kleinen Hände auf meinem Arm und lachte so entzückend, daß sie bezaubernder war als je. Location: 409

Manchmal wünschte ich, ich könnte mir das Herz fassen, Miß Lavinia zu sagen, sie behandle das Kleinod meines Herzens zu sehr wie ein Spielzeug. Und dann ertappte ich mich immer wieder, daß ich es selber nicht anders gemacht hatte.  Location: 466

An diesem Abend war es nicht, aber wie ich mich wohl erinnere, an dem zweitnächsten, am Samstag, daß ich Agnes mit zu Dora nahm. Ich hatte den Besuch vorher mit Miß Lavinia verabredet, und Agnes wurde zum Tee erwartet. Ich war ganz aufgeregt vor Stolz und Besorgnis; stolz auf meine liebe kleine Braut und besorgt, wie sie Agnes gefallen würde. Auf dem ganzen Weg nach Putney, wo Agnes in der Landkutsche saß und ich außen, malte ich mir Dora immerwährend aus. Einmal wünschte ich mir, sie möchte am liebsten so aussehen wie damals, dann wieder wie ein anderes Mal, und litt durch solche Sorgen ordentlich wie unter einem Fieber. Ich hatte natürlich keinen Zweifel, daß sie sehr hübsch aussehen würde, aber es traf sich, daß sie gerade damals vielleicht am allerschönsten war. Als ich Agnes ihren Tanten vorstellte, hielt sie sich schüchtern versteckt. Ich wußte jetzt, wo ich sie zu suchen hatte, und fand sie richtig wieder hinter der Tür mit zugehaltnen Ohren. Anfangs wollte sie gar nicht kommen und dann bat sie um fünf Minuten Frist. Als sie mir endlich ihren Arm gab, um sich ins Zimmer führen zu lassen, war ihr liebliches Gesichtchen ganz rot und hatte nie so hübsch ausgesehen. Aber als wir in das Zimmer traten und sie blaß wurde, war sie noch zehntausendmal schöner. Sie fürchtete sich vor Agnes. Sie hatte mir gesagt, sie wüßte schon, Agnes wäre »viel zu gescheit.« Aber als sie das heitere, dabei so ernste, gedankenvolle und doch so gute Gesicht erblickte, ließ sie einen leisen Schrei fröhlicher Überraschung hören, legte ihre Arme zärtlich um Agnes Hals und drückte ihre unschuldige Wange an ihr Gesicht. Ich habe mich noch nie so glücklich gefühlt, noch nie so gefreut wie damals, als ich die beiden so nebeneinander sitzen und meine Geliebte so befreit in diese herzlichen Augen blicken sah. Location: 491

Agnes sagte, ich müßte sie wohl zu schwarz geschildert haben, aber Dora berichtigte dies sogleich. »O nein,« sagte sie mit einem Blick auf mich und schüttelte ihre Locken. »Ich habe nichts als Lob über Sie gehört. Er hält so viel auf Sie, daß ich mich ordentlich vor Ihnen gefürchtet habe.« »Meine Zuneigung ist aber kaum des Gewinnens wert,« sagte Agnes lächelnd. »Aber bitte, schenken Sie sie mir,« sagte Dora in ihrer schmeichelnden Art, »wenn es sein kann.« Location: 514

Zärtlich nahmen die beiden jungen Damen von einander Abschied. Dora sollte Agnes schreiben, doch dürfte Agnes es nicht übelnehmen, wenn die Briefe kindisch ausfielen, und sollte jedes Mal antworten. Dann nahmen sie zum zweiten Mal Abschied am Kutschenschlag und zum dritten Mal, als Dora trotz der Vorstellungen Miß Lavinias noch einmal herausgelaufen kam, um Agnes am Kutschenfenster an das Schreiben zu erinnern und gegen mich auf dem Dach die Locken zu schütteln. Location: 518

"[...] Ich sehnte mich schon danach, Doras Lob aus Agnes Munde zu hören. Und, o, wie dieses Lob aus fiel! Wie liebreich und innig empfahl sie das anmutige Wesen meiner zärtlichsten Fürsorge. Wie gedankenvoll prägte sie mir mit ihrer ungekünstelten Anspruchlosigkeit ein, wie sehr ich für das verwaiste Kind zu sorgen habe. Niemals liebte ich Dora so tief und wahr wie an jenem Abend. Als wir ausstiegen und in der sternenhellen Nacht nach dem Hause des Doktors gingen, sagte ich Agnes, daß alles ihr Werk sei. »Du bist nicht weniger ihr Schutzengel wie der meinige, Agnes!« »Ein armer Engel,« antwortete sie, »aber treu.« Der klare Ton ihrer Stimme ging mir so zu Herzen, daß ich fragen mußte: [...]  Location: 537

Im Fenster von Mrs. Strongs Zimmer schien ein Licht, und Agnes deutete darauf hin und wünschte mir gute Nacht. »Mache dir keine Sorgen,« sagte sie und gab mir ihre Hand, »über unser Unglück und über unsre Trübsal! Ich kann über nichts froher sein als über dein Glück. Wenn du mir einmal solltest helfen können, so verlaß dich drauf, daß ich dich darum bitten werde. Und Gottes Segen sei mit dir!« Bei ihrem strahlenden Lächeln und den letzten Tönen ihrer lieben Stimme war es mir, als sähe und hörte ich wieder meine kleine Dora in ihrer Gesellschaft. Ich blieb eine Weile stehen, sah mit einem Herzen voll Liebe und Dankbarkeit zu den Sternen auf und ging dann langsam fort. Location: 557

»Da Sie mich damals nicht verstanden, Master Copperfield,« fuhr Uriah in derselben zudringlichen Weise fort, »so derf ich mir wohl die Freiheit nehmen, untertänigst zu bemerken, da mir unter Freunden sind, daß ich Dr. Strong auf das Benehmen seiner Gattin aufmerksam gemacht habe. Es ging mir eigentlich sehr gegen den Strich, Copperfield, mich in so eine unangenehme Sache einzumengen, aber mir können es nun einmal nicht lassen und müssen uns immer in Dinge mischen, die was uns nichts angehen.« Wenn ich an seinen höhnisch schielenden Blick zurückdenke, wundere ich mich jetzt noch, daß ich ihn nicht an der Gurgel packte und ihm den Atem aus dem Leibe schüttelte. »Ich glaube wohl, ich drückte mich nicht ganz deutlich aus,« fuhr er fort. »Natürlich waren mir beide bestrebt, ein solches Thema möglichst zu vermeiden. Aber endlich hab ich mich doch entschlossen offen herauszureden und Dr. Strong erzählt, daß ... Haben Sie etwas gesagt, Sir?« Das galt dem Doktor, der aufstöhnte. Der Schmerzenslaut hätte jedes Herz gerührt, aber auf Uriah brachte er keine Wirkung hervor. »Ich sagte zu Dr. Strong,« fuhr er fort, »daß jeder sehen müßte, wie Mr. Maldon und die liebenswürdige und gewinnende Dame, was Mrs. Strong ist, zu zärtlich miteinander sind. Die Zeit ist jetzt wahrhaftig ge kommen, wo es Dr. Strong gesagt werden muß. Es war doch jedermann klar wie die Sonne, ehe noch Mr. Maldon nach Indien ging, warum er Gründe suchte, wiederzukommen. Als Sie hier eintraten, Master Copperfield, schlug ich meinem Kompagnon grade vor, Dr. Strong auf Wort und Ehre zu sagen, ob er dieser Meinung nicht schon längst war. Kommen Sie, Mr. Wickfield, möchten Sie nicht so gut sein, das zu sagen. Ja oder nein, Sir? Kommen Sie, Kompagnon!« »Um Gottes willen, lieber Doktor,« sagte Mr. Wickfield, »legen Sie nur nicht zuviel Gewicht auf den Verdacht, den ich vielleicht gehegt habe.« »Da haben wirs,« rief Uriah. »Welch traurige Bestätigung, was?  Location: 607

»Ich bin schwer zu tadeln. Ich glaube, ich bin sehr schwer zu tadeln. Ich habe ein Wesen, dessen Bild ich voll Liebe im Herzen bewahre, Versuchungen und Verleumdungen ausgesetzt – denn ich nenne sie Verleumdungen, und selbst wenn sie in dem innersten Denken des Betreffenden geblieben sind –, deren Zielscheibe dieses Wesen ohne mich nie hätte werden können.« Uriah Heep ließ eine Art Näseln hören. » ... Deren Zielscheibe meine Ännie ohne mich,« fuhr der Doktor fort, »nie hätte werden können. Meine Herren, ich bin jetzt alt, das wissen Sie; ich wüßte heute abends nicht, was mir das Leben noch teuer machen sollte. Aber mein Leben für die Treue und Ehrenhaftigkeit der Dame, die der Gegenstand dieses Gesprächs gewesen ist!« Ich glaube nicht, daß die edelste Verkörperung von Ritterlichkeit, die Verwirklichung der schönsten und romantischsten Gestalt, die je ein Dichter geschaffen hat, dies in ergreifendere und rührendere Worte hätte fassen können, als der schlichte, alte Doktor es tat. »Ich fühle mich nicht imstande zu leugnen,« fuhr er fort, »und habe nur nie viel darüber nachgedacht, daß ich diese Dame, ganz unwissentlich, vielleicht zu einer unglücklichen Ehe verleitet habe. Ich bin des Beobachtens gänzlich ungewohnt und muß daher glauben, daß in diesem Punkte die Augen anderer Leute schärfer sahen als die meinigen.« Ich hatte schon oft des Doktors gütige Art seiner jungen Frau gegenüber bewundert, aber die Hochachtung und Zärtlichkeit, mit der er jetzt von ihr sprach, und die ehrerbietige Weise, mit der er auch den leisesten Zweifel an ihrer Schuldlosigkeit abwies, erhoben ihn in meinen Augen über alle Beschreibung.  Location: 721

»Niemand als ich kennt diesen Mann, Trot,« sagte meine Tante voll Stolz, wenn wir darüber sprachen. »Dick wird sich noch auszeichnen.« Ehe ich dieses Kapitel schließe, muß ich noch von einem andern Vorfall sprechen. Während der Besuch noch bei Dr. Strong war, bemerkte ich, daß der Postbote jeden Morgen Uriah Heep, der die ganze Zeit über in Highgate geblieben war, zwei oder drei Briefe brachte. Sie waren von Mr. Micawber, der sich jetzt eine ausgeschriebene Kanzlistenhandschrift angewöhnt hatte, adressiert. Ich nahm aus diesen kleinen Zeichen an, daß Mr. Micawber sich wohl befinde, und war um so mehr erstaunt, als ich folgenden Brief von seiner liebenswürdigen Gattin empfing. »Canterbury, Montag abends. Sie werden sich wahrscheinlich wundern, lieber Mr. Copperfield, einen Brief von mir zu erhalten. Noch mehr werden Sie über seinen Inhalt erstaunt sein. Und mehr noch darüber, daß ich Ihnen unbedingtes Schweigen abverlange. Aber meine Gefühle als Gattin und Mutter bedürfen der Erleichterung, und da ich meine Familie nicht zu Rate ziehen kann, habe ich niemand, den ich darum bitten könnte, als meinen Freund und früheren Mieter. Sie wissen, lieber Mr. Copperfield, daß zwischen mir und Mr. Micawber, den ich nie verlassen werde, immer gegenseitiges Vertrauen geherrscht hat. Mr. Micawber hat vielleicht manchmal einen Wechsel ausgestellt, ohne mich zu Rate zu ziehen, oder mich hinsichtlich der Verfallzeit getäuscht. Aber im großen ganzen hat er vor dem Altar der Liebe – ich meine damit seine Gattin – keine Geheimnisse gehabt und hat regelmäßig beim Zubettgehen die Ereignisse des Tages mit mir besprochen. Location: 735

Er ist zurückhaltend. Er ist geheimnisvoll. Sein Leben ist ein Rätsel für die Gefährtin seiner Freuden und seines Kummers – ich meine wieder seine Gattin –, und wenn ich Ihnen sage, daß ich so wenig von ihm weiß – außer daß er sich vom Morgen bis zum späten Abend in der Kanzlei befindet –, so wenig von ihm weiß wie von dem Mann im Märchen vom kalten Pflaumenpudding, so deute ich die wirkliche Tatsache nur entfernt an. Aber das ist noch nicht alles. Mr. Micawber ist mürrisch. Er ist streng. Er ist seinem ältesten Sohn und seiner Tochter entfremdet. Er sieht in seinen Zwillingen nicht mehr den Stolz der Familie, selbst den unschuldigen Fremdling, der als letztes Mitglied in unsern Kreis getreten ist, blickt er mit gleichgültigem Auge an. Selbst die allernötigsten pekuniären Mittel zur Bestreitung unserer Ausgaben sind von ihm nur mit größter Schwierigkeit zu erlangen, und unerbittlich verweigert er jede Aufklärung über seine uns zur Verzweiflung bringende Politik des Schweigens. Location: 744

Mit einem herzlichen Gruß von den Kindern und einem Freundeslächeln von dem zum Glück noch nichtsahnenden Fremdling verbleibe ich, lieber Mr. Copperfield, Ihre tiefbetrübte Emma Micawber.« Ich fühlte mich nicht berechtigt, einer Frau von Mrs. Micawber einen andern Rat zu geben als den, sie möge versuchen, ihren Gatten durch Geduld [...]" Location: 749

Drittes Kapitel In schemenhaftem Zug wandern die Phantome jener Tage an mir vorüber. Wochen und Monate verrauschen. Sie kommen mir wenig länger vor als ein Sommertag und ein Winterabend. Jetzt ist die Haide, wo ich mit Dora wandle, ein Blumenfeld so hell wie Gold, und dann liegt wieder alles unter einer Decke von Schnee. Im Augenblick wälzt der Fluß, der eben noch in der Sommersonne glänzte, bewegt von Winterstürmen, dicke Eisschollen vor sich her. Nicht das Mindeste ändert sich im Haus der beiden kleinen vogelähnlichen Damen. Die Uhr tickt über dem Kamin, das Wetterglas hängt in der Vorhalle. Weder Uhr noch Wetterglas zeigen jemals richtig, aber sie genießen das allgemeine Vertrauen. Ich bin mündig geworden. Ich habe die Würde des Einundzwanzigjährigen erlangt. Aber es ist eine Würde, die jeder erlangen kann. Was habe ich also vollbracht? Ich habe das schreckliche stenographische Geheimnis bemeistert. Ich beziehe ein anständiges Einkommen infolgedessen. Ich stehe bei allen Genossen der Kunst wegen meiner Fertigkeit in hohem Ansehen und bin,…| Location: 767

Ich schrieb insgeheim eine Kleinigkeit und schickte sie an eine Zeitschrift, und sie wurde angenommen. Seitdem habe ich den Mut gehabt, ziemlich viele derartige Kleinigkeiten zu schreiben. Jetzt werde ich dafür regelmäßig bezahlt. Im ganzen stehe ich mich recht gut dabei. Wenn ich mein Einkommen an den Fingern meiner linken Hand abzähle, komme ich über den dritten Finger hinaus bis zum Mittelglied des vierten. Location: 773

Ja! Ich stehe im Begriff, mich mit Dora zu verheiraten. Miß Lavinia und Miß Clarissa haben ihre Einwilligung gegeben, und wenn jemals Kanarienvögel aufgeregt waren, so sind sie es.| Location: 788

Meine knabenhaften Träume werden zur Wirklichkeit. Ich will mir den Trauschein holen. Es ist ein kleiner Zettel trotz seiner Wichtigkeit. Und Traddles betrachtet ihn, wie er auf meinem Pult liegt, voll Bewunderung und Ehrfurcht. Da stehen die Namen in der schönen alten geträumten Verbindung, David Copperfield und Dora Spenlow; und dort in der Ecke sieht das väterliche Institut, das Stempelamt, das an den verschiednen Verhandlungen des menschlichen Lebens so wohlwollend Anteil nimmt, auf unsern Bund herab, und dort bittet der Erzbischof von Canterbury gedruckt um Segen für uns und tut es so preiswert, als man es billigerweise erwarten darf. Aber dennoch bin ich wie im Traum; in einem hastigen, aufgeregten, glücklichen Traum! Ich kann gar nicht fassen, daß es wirklich sein kann, und doch bilde ich mir ein, jeder Vorübergehende müßte irgendwie gewahr werden, daß ich übermorgen Hochzeit halten will. Location: 808

Ich habe Agnes von der Canterbury-Kutsche abgeholt. Agnes hat eine große Neigung für Traddles gefaßt, und es ist herrlich anzusehen, wie sie sich begrüßen, und mit welch stolzer Freude er ihr seine Braut vorstellt. Location: 844

Das Übrige ist ein mehr oder weniger unzusammenhängender Traum. Location: 847

Es ist ein Traum, in dem der Geistliche und der Küster erscheinen, ein paar Fährleute und andere hereinkommen, ein alter Seemann, die Kirche mit Rum durchduftend, hinter mir steht. Der Gesang beginnt mit einem Baß, und wir alle sind sehr aufmerksam. Miß Lavinia, der die Rolle einer Vizeersatzbrautjungfer zugefallen ist, fängt zuerst zu weinen an und bringt, wie ich vermute, dem Gedächtnis Mr. Pidgers in Schluchzen eine Huldigung dar; Miß Clarissa greift zum Riechfläschchen; Agnes nimmt sich Doras schützend an; meine Tante bemüht sich, ein Muster von Ungerührtheit zu sein, während ihr Tränen die Wangen herabrinnen, und meine kleine Dora zittert sehr und flüstert kaum hörbar die Responsen. Ich träume, daß wir nebeneinander knieen. Dora zittert immer weniger und weniger, hält aber immer noch Agnes fest bei der Hand. Die Feierlichkeit ist still und ernst vorübergegangen, und wir alle sehen uns an in einer Aprillaune von Tränen und Lächeln, dann liegt meine junge Frau halb ohnmächtig in der Sakristei und ruft nach ihrem armen, ihrem guten Papa. Location: 876

Viertes Kapitel 

Es war so seltsam, als die Flitterwochen vorbei und die Brautjungfern heimgereist waren und ich in meinem eignen Häuschen allein mit Dora saß, ganz aus der Bahn gebracht sozusagen, aus der Bahn der alten, herrlichen Beschäftigung der Brautwerbung. Wie merkwürdig, daß Dora immer da war! Ich konnte es gar nicht fassen, daß ich nicht mehr ausgehen mußte, um sie zu sehen, und mich ihretwegen zu peinigen brauchte oder nur den Kopf zu zermartern, um Gelegenheiten, mit ihr allein sein zu können, auszuhecken. Location: 886

Ich weiß nicht, ob zwei junge Vögel weniger vom Haushalten wissen konnten als ich und meine hübsche Dora. Wir hielten natürlich eine Dienstmagd. Sie besorgte für uns das Hauswesen. Location: 888

Sie hieß Mary Anne Vorbild. Ihr Name wäre, sagte man uns, als wir sie aufnahmen, nur ein schwaches Abbild ihres Charakters. Sie besaß ein Zeugnis so lang wie eine Proklamation und konnte laut diesem Dokument in häuslichen Dingen alles vollbringen, wovon ich jemals gehört hatte, und noch vieles andere, was mir gänzlich unbekannt war. Sie stand in der Blüte der Jahre, war von strengem Gesichtsausdruck und, vorzüglich auf den Armen, einer Art beständiger Masern unterworfen. Sie hatte einen Vetter in der Leibgarde mit so langen Beinen, daß er wie der Nachmittagschatten eines gewöhnlichen Menschen aussah. Location: 916

»Vernünftig sprechen ist noch viel schlimmer als ausschelten,« rief Dora voll Verzweiflung. »Ich habe doch nicht geheiratet, um vernünftig zu sprechen. Wenn du mit so einem armen kleinen Geschöpf wie ich vernünftig zu sprechen beabsichtigtest, hättest du es mir vorher sagen sollen, du grausamer Junge.« Ich versuchte Dora zu beruhigen, aber sie wandte ihr Gesicht weg und schüttelte ihre Locken und sagte: »Du grausamer, grausamer Junge« so oft, daß ich wirklich nicht wußte, was ich tun sollte. Ich ging in meiner Hilflosigkeit ein paar Mal im Zimmer auf und ab und trat wieder vor sie hin. »Dora, mein Liebling!« »Nein, ich bin nicht dein Liebling. Denn es muß dir leid tun, mich geheiratet zu haben, sonst würdest du nicht vernünftig mit mir reden.« Ich fühlte mich so verletzt von der Inkonsequenz dieser Beschuldigung, daß ich Mut faßte, ernsthaft zu sein. »Meine liebste Dora,« sagte ich, »du bist sehr kindisch und redest dummes Zeug. Du wirst dich gewiß erinnern, daß ich gestern schon fort mußte, ehe ich mit dem Mittagessen halb fertig war, und daß es mir am Tag vorher ganz übel wurde, weil ich halbgares Kalbfleisch mit aller Hast herunterschlingen mußte. Heute kann ich gar nichts essen, und wie lange wir auf das Frühstück warten mußten, während das Wasser nicht einmal kochte, will ich gar nicht erwähnen. Ich mache dir gewiß keine Vorwürfe darüber, Liebling, aber angenehm ist es wahrhaftig nicht.« »O du grausamer, grausamer Junge; zu sagen, ich wäre ein garstiges Weib,« jammerte Dora. Location: 940

Aber ich hatte Doras weiches Herzchen verletzt, und sie ließ sich nicht trösten. Sie sah so rührend in ihrem Schluchzen und Klagen aus, daß ich das Gefühl hatte, sie schwer verletzt zu haben. Ich mußte forteilen, kam erst spät nach Hause und wurde die ganze Zeit von solchen Gewissensbissen gefoltert, daß ich mich ganz elend fühlte. Mir war zumute wie einem Mörder, und ein unbestimmtes Gefühl maßloser Verderbtheit wollte mich nicht verlassen. Location: 955

»Meinst du nicht, Tante,« sagte ich, nachdem ich eine Weile ins Feuer geblickt hatte, »daß du dann und wann zu unserm gemeinsamen Vorteil Dora einen kleinen Rat geben könntest.« »Trot,« antwortete meine Tante bewegt, »nein! Verlange das nicht von mir!« Sie sprach in so ernstem Ton, daß ich überrascht aufsah. 

»Ich blicke auf mein Leben zurück, Kind, und denke an so manche, die in ihren Gräbern liegen, mit denen ich auf freundlicherem Fuße hätte stehen können. Wenn ich die Irrtümer anderer Leute bei ihren Heiraten hart beurteilte, so kam dies vielleicht daher, daß ich selbst leider Grund genug hatte, meine eignen hart zu beurteilen. Schweigen wir davon. Ich bin eine launische, mürrische Frau seit vielen Jahren und werde es immer sein. Aber du und ich haben einander einiges Gute getan, Trot, – jedenfalls hast du mir viel Liebe entgegengebracht, mein Sohn, und es darf keine Uneinigkeit zwischen uns entstehen.« »Eine Uneinigkeit zwischen uns, Tante?!« »Kind, Kind,« sagte meine Tante und strich ihr Kleid glatt. »Wie bald sie entsteht, oder wie unglücklich ich unser liebes Blümchen machen würde, wenn ich mich in irgend etwas dreinmischte, vermag nicht einmal ein Prophet voraussagen. Ich will, daß unser Liebling mich gern hat und so sorglos ist wie ein Schmetterling. Denke an dein eignes Vaterhaus nach jener zweiten Heirat und tue niemals mir und dir zum Schaden, was du erwähnt hast.«  Location: 967

»Ihr seid noch nicht lange verheiratet, Trot, und Rom wurde nicht in einem Tag erbaut und auch nicht in einem Jahre. Du hast frei gewählt!« – Mir kam es vor, als ob für einen Augenblick ein Schatten ihr Gesicht überfliege – »Und du hast ein sehr hübsches und dich zärtlich liebendes Mädchen gewählt. Es ist deine Pflicht und wird auch deine Freude sein – das weiß ich natürlich, und ich will dir keine Vorlesung halten –, sie gemäß den Eigenschaften zu schätzen, die sie hat, und nicht nach denen, die ihr fehlen. Die letzteren mußt du in ihr entwickeln, wenn du kannst. Und wenn du es nicht kannst, Kind,« – hier rieb sich meine Tante die Nase – »so mußt du dich eben gewöhnen, auch so auszukommen. Location: 992

Jedermann, der mit uns in Berührung kam, schien uns zu betrügen. Unser Eintritt in einen Laden gab das Signal, auf das alle verdorbenen Waren sogleich herbeigeschleppt wurden. Wenn wir einen Hummer kauften, war er voll Wasser. Unser Fleisch war immer zäh und auf dem Brot niemals Rinde. Um das Prinzip herauszufinden, nach dem eine Keule gebraten werden mußte, um gerade richtig gar zu sein, sah ich selbst im Kochbuch nach und fand dort eine Viertelstunde für jedes Pfund angegeben. Aber das Prinzip gelangte durch seltsames Mißgeschick niemals in Anwendung, und niemals konnten wir den Mittelweg zwischen rohem Fleisch und Kohle treffen. Location: 1,041

»Ich wollte,« begann sie nach einem langen Schweigen wieder, »ich hätte einige Jahre aufs Land gehen und mit Agnes zusammenwohnen können.« Ihre Hände lagen gefaltet auf meiner Schulter, ihr Kinn ruhte darauf, und ihre blauen Augen sahen still in die meinen. »Warum?« fragte ich. »Ich glaube, es hätte mir viel nützen können, und ich hätte viel von ihr gelernt.« »Du mußt bedenken,« sagte ich, »daß Agnes viele Jahre für ihren Vater die Wirtschaft führte. Als Kind schon war sie die Agnes, die wir kennen.« »Willst du mir einen Namen geben, den ich gerne haben möchte, Doady?« »Was für einen Namen?« fragte ich lächelnd. »Es ist ein dummer Name,« sagte sie und schüttelte einen Augenblick die Locken: »kindisches Frauchen.« Ich fragte sie lachend, was sie sich bei diesem Wunsche denke. »Ich meine nicht etwa, du närrischer Junge, daß du mich so rufen sollst, anstatt Dora. Ich will nur, daß du so an mich denken sollst. Wenn du mir bös bist, so denk dir: sie ist doch so kindisch. Wenn ich dich ärgere, so denk dir: ich wußte schon lange, daß sie auch als Gattin nur ein kindisches Frauchen sein wird. Wenn du an mir vermissest, was ich gern sein möchte und vielleicht nie werden kann, so sag dir nur: mein kindisches Frauchen liebt mich doch.« Ich hatte nicht ernsthaft mit ihr gesprochen, denn ich ahnte nicht, daß sie selbst in vollem Ernste war. Aber ihr weiches Gemüt war so glücklich über das, was ich ihr jetzt aus vollem Herzen sagte, daß ihr Gesicht vor Freude strahlte, ehe noch ihre Augen trocken wurden. Location: 1,073

Einmal, als sie sehr ernst und pflichteifrig gestimmt war, setzte sie sich mit der Schreibtafel und einem kleinen Korb voll Rechnungen und andern Papieren, die mehr wie Lockenwickel als sonst etwas aussahen, hin und bestrebte sich, ein Resultat herauszubekommen. Nachdem sie alles aufmerksam miteinander verglichen, Notizen auf die Täfelchen geschrieben, sie wieder weggewischt und alle Finger ihrer linken Hand vorwärts und rückwärts gezählt hatte, machte sie ein so verdrießliches und entmutigtes Gesicht und sah so unglücklich drein, daß es mich ordentlich schmerzte und ich leise zu ihr ging und sagte: »Was ist denn, Dora?« Dora blickte mit hoffnungloser Miene auf und antwortete: »Sie wollen nicht stimmen. Sie machen mir Kopfweh. Sie tun nicht, was ich will.« »Wir wollen es zusammen versuchen, ich will dirs zeigen, Dora,« tröstete ich sie. Ich fing einen praktischen Kursus an, dem Dora vielleicht fünf Minuten lang mit tiefster Aufmerksamkeit zuhörte; aber dann wurde es ihr zu langweilig, und sie brachte Abwechslung in das trockne Thema, indem sie mir die Locken drehte oder versuchte, wie mein Gesicht mit umgeschlagnem Hemdkragen aussähe. Wenn ich ihr stillschweigend wehrte und im Rechnen fortfuhr, machte sie ein so erschrockenes und unglückliches Gesicht, daß die Erinnerung an ihre Worte wie ein Vorwurf über mich kam und ich den Bleistift hinlegte und sie um die Gitarre bat. Location: 1,110

Wirst du böse sein, wenn ich etwas sehr, sehr Albernes sage?« fragte Dora, mir über die Schulter ins Gesicht blickend. »Was denn?« »Bitte laß mich die Federn halten, Doady. Ich möchte etwas zu tun haben während der vielen Stunden, wo du so fleißig bist. Darf ich die Federn halten?« Die Erinnerung an ihren allerliebsten Freudenausbruch, als ich Ja sagte, treibt mir die Tränen in die Augen. Schon beim nächsten Mal und von da an jeden Abend, wenn ich schrieb, saß sie auf ihrem alten Platze mit einem Bündel Federn neben sich. Ihr Triumph, auf diese Art an meiner Arbeit teilzunehmen, und ihre Freude, wenn ich eine neue Feder brauchte, brachte mich auf einen neuen Gedanken. Ich tat, als müßte ich ein paar Seiten Manuskript abschreiben lassen. Und dann strahlte Dora. Die Vorbereitungen, die sie zu solchen großen Arbeiten traf, sind für mich liebe rührende Erinnerungen. Die Schürzen, die sie vornahm, die Lätzchen, die sie aus der Küche borgte, um sich nicht Tintenflecke zu machen, die Zeit, die sie dazu brauchte! Die unzähligen Pausen, die sie einflocht, um Jip anzulachen, als ob er alles verstünde, – wie sie überzeugt war, daß die Arbeit nicht fertig sei, wenn nicht ihr voller Name darunter stünde! Und die Art, mit der sie mir die Schrift überreichte, als wäre es eine Schularbeit, und mir dann, wenn ich sie lobte, um den Hals fiel! Location: 1,130

Fünftes Kapitel 

Ich hatte meine Stellung bei Doktor Strong schon seit geraumer Zeit aufgegeben. Da ich in seiner Nähe wohnte, sah ich ihn häufig, und wir alle kamen hie und da zum Mittagessen oder zum Tee zu ihm. Der »General« hatte bei dem Doktor seinen beständigen Wohnsitz aufgeschlagen. Sie war noch ganz die alte, und die unsterblichen Schmetterlinge schwebten immer noch über ihrem Hut. Mrs. Markleham war, wie das oft vorkommt, viel vergnügungsüchtiger als ihre Tochter. Location: 1,146

Aber wir können nicht erwarten, daß ein Lexikon, besonders wenn es noch nicht fertig ist, Ännie interessiert, nicht wahr?« Der Doktor nickte. »Und deshalb billige ich so sehr Ihre kluge Einsicht,« sagte Mrs. Markleham und schlug Dr. Strong mit dem zugemachten Fächer auf die Schulter. »Es beweist, daß Sie nicht, wie so viele bejahrte Leute, alte Gesichter auf jungen Schultern zu sehen wünschen. Sie haben Ännies Charakter studiert und verstehen ihn. Das finde ich so bewunderungswert.« Selbst das ruhige und geduldige Gesicht Dr. Strongs zeigte sich, wie mir vorkam, peinlich berührt von derartigen Komplimenten. »Deshalb, lieber Doktor«, fuhr der »General« liebreich fort, »können Sie zu allen Zeiten und bei allen Gelegenheiten über mich verfügen. Ich stehe ganz zu Ihren Diensten. Ich bin bereit, mit Ännie in die Oper, ins Konzert, in die Ausstellung und überall hin zu gehen, und nie sollen Sie sehen, daß ich müde bin. Die Pflicht, lieber Doktor, geht allem in der Welt vor.« Sie hielt Wort. Sie gehörte zu den Leuten, die sehr viel Zerstreuung vertragen können, und ihre Ausdauer in dieser Hinsicht war nicht zu ermüden. Selten legte sie eine Zeitung aus der Hand, ohne etwas zu finden, was Ännie gewiß sehr gerne sehen würde. Vergebens wendete Ännie in solchen Fällen ein, daß sie derlei Dinge satt habe. Immer wieder kam ihre Mutter mit Vorstellungen wie: »Liebe Ännie, du wirst es wohl besser wissen, aber ich muß dir schon sagen, mein Kind, daß du durchaus nicht die gehörige Dankbarkeit für die Güte Dr. Strongs beweisest.« Location: 1,386

Ich hatte darüber nachgedacht, was alles geschehen war. Die Worte Mrs. Strongs klangen mir noch in den Ohren: »Es kann kein größeres Unglück in der Ehe geben als Ungleichheit in Gefühlen und Bestrebungen und die erste mißverstandne Regung eines unerfahrenen Herzens.« Location: 1,389

46. Kapitel 

Ich muß etwa ein Jahr verheiratet gewesen sein, als ich an einem Abend, von einem Spaziergang zurückgekehrt, über den Roman, den ich damals schrieb, nachdenkend, an Mrs. Steerforths Haus vorüberkam. Location: 1,409

»Ich höre, Sie wünschten mit mir zu sprechen, Miß Dartle,« sagte ich, die Hände auf eine Stuhllehne gestützt, und lehnte ihre Einladung, mich zu setzen, ab. »Allerdings, Mr. Copperfield. Sagen Sie, ist das Mädchen gefunden worden?« »Nein.« »Und doch ist sie weggelaufen!« Ich sah, wie ihre schmalen Lippen sich zuckend bewegten, als ob sie danach lechzten, Emilie mit Vorwürfen zu überhäufen. »Weggelaufen?« »Ja! Von ihm,« sagte Rosa Dartle* mit einem kurzen Lachen. »Wenn sie noch nicht gefunden ist, wird man sie vielleicht überhaupt nicht finden. Vielleicht ist sie tot.« Eine herausfordernde Grausamkeit lag in ihren Augen. »Ihr den Tod zu wünschen,« sagte ich, »ist vielleicht der freundlichste Wunsch, den ein Wesen ihres eignen Geschlechts aussprechen kann. Es freut mich, daß die Zeit Sie so versöhnlich gestimmt hat.« Location: 1,426

 *"Mrs Steerforth, and her companion, Miss Rosa Dartle, an eccentric young woman who resides with the mother at her home. Miss Dartle was Steerforth's carer when he was a boy, and the two have had a troubled relationship, as is seen from the scar on her lower lip which she received from Steerforth throwing a hammer at her." (Wikpedia)

»Erzählen Sie Mr. Copperfield von der Flucht,« sagte sie gebieterisch und legte den Finger diesmal eher aus Freude als aus Schmerz auf die alte Narbe. »Mr. James und ich, Madam –« »Sprechen Sie nicht zu mir,« unterbrach sie Littimer* mit gerunzelter Stirn. »Mr. James und ich, Sir –« »Auch nicht zu mir gefälligst!« sagte ich. Ohne im mindesten aus der Fassung zu kommen, gab Mr. Littimer mit einer leichten Verbeugung zu erkennen, daß alles, was uns genehm, auch ihm angenehm wäre, und fing von neuem an. »Mr. James und ich waren mit dem Mädchen auf Reisen, seit sie unter Mr. James Schutz Yarmouth verließ. Wir hielten uns an vielen Orten auf und haben vielerlei Länder gesehen. Wir waren in Frankreich, in der Schweiz, in Italien – kurz, fast überall.« Er sah die Stuhllehne an, als ob er zu ihr spräche, und spielte darauf leise mit den Fingern wie auf einem stummen Piano. »Mr. James hing ganz ungewöhnlich an dem Mädchen und war lange Zeit beständiger, als ich ihn gekannt habe, seit ich in seine Dienste getreten bin. Das Mädchen zeigte sich sehr bildungsfähig und erlernte mehrere Sprachen, und niemand würde in ihr das einfache Fischermädchen wieder erkannt haben. Es fiel mir auf, daß sie überall, wohin wir kamen, sehr bewundert wurde.« Location: 1,442

*Der Diener von Steerforth

»In dieser Weise lebte das Mädchen einige Zeit dahin, wobei sie dann und wann sehr niedergeschlagen war, bis sie Mr. James, wie ich glaube, durch ihre Gedrücktheit und schlechte Laune zu langweilen begann. Wenigstens stand die Sache nicht mehr so gut zwischen ihnen. Mr. James fing wieder an ruhelos zu werden und je unruhiger er wurde, desto schlimmer wurde es mit ihr, und was mich betrifft, so muß ich sagen, daß ich wirklich zwischen den beiden ein recht schweres Leben hatte. Aber immer wieder kam die Sache ins Geleise, und die Geschichte dauerte länger, als man hätte erwarten sollen.« Location: 1,447

»Endlich, als im ganzen großen ziemlich viel Worte und Vorwürfe zwischen beiden gewechselt worden waren, machte sich Mr. James eines Morgens aus der Nähe von Neapel, wo wir eine Villa hatten – das Mädchen liebte das Meer sehr –, auf und überließ es, unter dem Vorwand, in einigen Tagen zurückkehren zu wollen, mir, ihr zu eröffnen, er wäre in Berücksichtigung des Wohlseins aller Beteiligten abgereist. Mr. James benahm sich höchst ehrenhaft, denn er ließ dem Mädchen das Anerbieten machen, daß es eine sehr respektable Person heiraten sollte, die bereit war, das Geschehene zu vergessen, und zum mindesten eine ebenso gute Partie war wie irgend eine andere, die das Mädchen im gewöhnlichen Lauf der Dinge hätte erwarten können, denn sie stammte doch von sehr niederer Herkunft.« Location: 1,453

Ich war überzeugt, daß der Schuft von sich sprach, und ich sah meine Überzeugung auch auf Miß Dartles Gesicht ausgeprägt. »Dies also war ich beauftragt ihr mitzuteilen. Ich war bereit, alles zu tun, um Mr. James aus einer peinlichen Verlegenheit zu befreien und die Eintracht zwischen ihm und seiner zärtlichen Mutter, die seinetwegen so viel ausgestanden hatte, wieder herzustellen. Deshalb übernahm ich den Auftrag. Die Leidenschaftlichkeit des Mädchens, als ich ihr seine Abreise mitteilte, überstieg alle Erwartungen. Sie gebärdete sich wie wahnsinnig und mußte mit Gewalt festgehalten werden, sonst hätte sie sich den Kopf an dem Marmorfußboden eingeschlagen oder sich auf eine andere Weise getötet.«  Location: 1,465

»Kurz, wir mußten eine Zeitlang alles aus ihrer Nähe entfernen, womit sie sich und andere Leute hätte verletzen können, und sie einsperren. Dennoch befreite sie sich eines Nachts, brach einen Fensterladen auf, den ich selbst zugenagelt hatte, ließ sich an einem Rebengeländer hinab, und seitdem hat man, soviel ich weiß, nichts wieder von ihr gehört.« »Sie ist vielleicht tot,« sagte Miß Dartle mit einem Lächeln, als ob sie am liebsten die Leiche des armen Mädchens mit Füßen getreten hätte. »Sie hat sich vielleicht ertränkt, Miß,« sagte Mr. Littimer, die Gelegenheit benützend, jemand anzureden. Location: 1,477

»Als es unzweifelhaft war,« fuhr Littimer mit unsäglicher Respektabilität und einer gehorsamen Verbeugung fort, »daß man sie nicht mehr auffinden konnte, begab ich mich zu Mr. James an den Ort, wohin ich ihm hätte schreiben sollen, und unterrichtete ihn von dem Vorfall. Infolgedessen kam es zu einem Wortwechsel zwischen uns, und ich glaubte es meinem Charakter schuldig zu sein, ihn zu verlassen. Ich konnte viel von Mr. James ertragen, doch er beleidigte mich zu sehr. Er verletzte mich. Da ich von dem unglücklichen Zwiespalt zwischen ihm und seiner Mutter wußte und mir vorstellen konnte, wie groß Mrs. Steerforths Sorge sein mußte, nahm ich mir die Freiheit, nach England zurückzukehren und zu berichten – –« »Für Geld, das ich ihm bezahlte,« sagte Miß Dartle zu mir. »Ganz recht, Madam, – und zu erzählen, was ich wußte. Ich glaube nicht,« sagte Mr. Littimer nach kurzem Nachdenken, »daß noch etwas zu berichten wäre. Location: 1,485

Miß Dartle blickte mich fragend an, ob ich noch etwas zu wissen wünschte. Da mir eine Frage sehr auf dem Herzen lag, sagte ich: »Ich möchte von dieser Kreatur« – ich konnte kein milderes Wort finden – »wissen, ob man einen Brief, der von ihrer Heimat aus an sie geschrieben wurde, unterschlagen hat, oder ob er angekommen ist.« Littimer blieb ruhig und stumm stehen, die Augen auf den Boden geheftet, und paßte sorgfältig die Fingerspitzen der rechten Hand auf die seiner linken. Location: 1,489

»Ich bitte um Verzeihung, Miß,« sagte er, wie aus Nachdenken erwachend, »aber so untertänigst ich zu Ihren Diensten stehe, so habe ich doch eine gewisse Position zu wahren, wenn ich auch nur ein Bedienter bin. Mr. Copperfield und Sie, Miß, sind zwei ganz verschiedene Personen, und wenn Mr. Copperfield etwas von mir zu wissen wünscht, so möchte ich mir erlauben, Mr. Copperfield daran zu erinnern, daß er in diesem Fall eine Frage an mich zu richten hat. Ich muß meine Stellung wahren.« Nach einiger Überwindung sah ich ihn an und sagte: »Sie haben meine Frage gehört. Nehmen Sie an, sie wäre an Sie gerichtet gewesen. Welche Antwort haben Sie darauf zu geben?« »Sir,« entgegnete er und spielte wieder mit den Fingerspitzen, »meine Antwort kann keine direkte sein, denn es ist zweierlei, Mr. James an seine Mutter oder an Sie zu verraten. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, daß Mr. James den Empfang von Briefen, die leicht Niedergeschlagenheit und schlechte Stimmung erzeugt haben würden, begünstigt hätte; aber mehr als das möchte ich nicht gerne sagen.« Location: 1,498

Nur noch das eine setzte ich hinzu, als ich bemerkte, daß Littimer fortgehen wollte, nämlich, daß ich ihm bei der leicht zu durchschauenden Rolle, die er bei diesem Schurkenstreich gespielt habe, raten würde, sich nicht zu viel öffentlich blicken zu lassen, da ich dem Ehrenmann, unter dessen Obhut Emly seit Kindheit an gestanden, alles was ich erfahren, mitteilen würde. Location: 1,502

»Ich danke Ihnen, Sir, aber Sie werden entschuldigen, wenn ich Ihnen bemerke, Sir, daß es hierzulande weder Sklaven noch Sklavenaufseher gibt und daß es niemand erlaubt ist, sich auf eigene Faust Recht zu verschaffen. Wer es tut, tut es mehr auf seine als auf anderer Leute Kosten glaube ich. Ich kann daher ruhig sagen, daß ich mich durchaus nicht fürchte überall hinzugehen, wohin es mir beliebt… Location: 1,506

Miß Dartle und ich sahen einander eine Weile schweigend an; ihr Gesichtsausdruck war unverändert. »Er erzählte noch,« begann sie leicht ihre Lippen verziehend, »daß sein Herr an der spanischen Küste herumsegelt und dieses Schifferleben weiter führen will, bis er es satt hat. Aber das wird Sie wohl nicht interessieren. Zwischen diesen beiden stolzen Personen, Mutter und Sohn, besteht eine tiefere Kluft als je vorher, und es ist wenig Aussicht, daß sie sich je…[...] Location: 1,511

Diese Kreatur, aus der Sie einen Engel machen wollen, ich meine das gemeine Mädchen, das er aus dem Schmutz des Strandes aufgelesen hat,« – sie sah mich mit ihren schwarzen Augen fest an – »ist vielleicht noch am Leben, – denn ich glaube, so niedrige Geschöpfe sterben schwer. Wenn sie noch am Leben ist, werden Sie wohl wünschen, diese unschätzbare Perle zu finden und zu beschirmen. Auch wir wünschen das, damit er nicht durch einen Zufall wieder ihre Beute wird. So weit vereinigt uns ein gemeinsames Interesse, und deshalb habe ich nach Ihnen geschickt, um Ihnen zu berichten, was Sie eben gehört haben.« Ich bemerkte an der veränderten Miene ihres Gesichtes, daß jemand hinter mir stand. Es war Mrs. Steerforth. [...]Location: 1,554

»Mr. Peggotty,« sagte ich und nahm den Stuhl an, den er mir anbot, »machen Sie sich nicht auf viel gefaßt, aber ich habe Nachricht.« »Von Emly!« Er legte die Hand krampfhaft auf den Mund und wurde blaß. »Sie gibt uns zwar keinen Anhalt über ihren Aufenthaltsort, aber Emly ist nicht mehr – – bei ihm.« Er setzte sich nieder und hörte im tiefsten Schweigen meine Erzählung an. Ich erinnere mich noch gut des Eindrucks von Würde und sogar von Schönheit, den der geduldige Ernst seines Gesichtes auf mich machte, als er vor sich niedersah, die Stirn auf die Hand gestützt. Er unterbrach mich nicht mit einem Wort. Er schien Emlys Gestalt durch meine Erzählung hindurch zu verfolgen und jede andere achtlos vorbeigehen zu lassen. Als ich fertig war, hielt er die Hände vors Gesicht und blieb stumm. Ich sah eine kurze Weile aus dem Fenster und beschäftigte mich mit den Topfpflanzen. »Was ist Ihre Meinung darüber, Masr Davy?« fragte er endlich. »Ich glaube, sie ist am Leben.« »Das weiß ich nicht. Vielleicht war der erste Schlag zu hart, und in der Verzweiflung ihres Herzens – –! Das blaue Meer, von dem sie so oft sprach –! Hat es ihr vielleicht so viele Jahre deswegen im Kopfe gespukt, weil es ihr Grab werden sollte? – –« Er sagte dies nachdenklich mit leiser erschrockener Stimme und ging in dem kleinen Zimmer auf und ab. »Und doch, Masr Davy, habe ich so bestimmt im Wachen und im Schlaf gewußt, daß ich sie finden werde, und der Gedanke hat mich so aufrecht erhalten und gestärkt, daß ich nicht glauben kann, ich hätte mich geirrt. Nein! Emly lebt!« Location: 1,611

Einmal blieb sie stehen, um einer Musikbande zuzuhören. Dann wanderte sie durch viele viele Straßen, aber unermüdlich folgten wir ihr. Aus der Art ihres Ganges war leicht zu erkennen, daß sie ein bestimmtes Ziel vor sich hatte. Dies, dann der Umstand, daß sie in den belebten Straßen blieb, und vielleicht auch eine seltsame Freude an der geheimnisvollen Weise, mit der wir ihr folgten, ließen mich auf meinem ersten Vorsatz beharren. Endlich lenkte sie in eine dunkle stille Straße ein, wo weder Lärm noch Gedränge mehr war, und ich sagte: »Hier können wir sie anreden.« Wir beschleunigten unsere Schritte.   Siebentes Kapitel Wir befanden uns jetzt in Westminster. Wir hatten umkehren müssen, da sie uns entgegengekommen war. Bei der Westminster-Abtei hatte sie das Licht und das Geräusch der Hauptstraßen verlassen. Sie ging so rasch, als sie aus dem Menschenstrom, der von der Brücke kam, heraus war, daß wir sie erst am engen Flußarm bei Millbank erreichten. In diesem Augenblick bog sie über die Straße hinüber, als ob sie vor den Schritten fliehen wollte, die sie so dicht hinter sich hörte, und ging, ohne sich umzusehen, noch schneller.  Location: 1,638

Marta ging zögernd hinunter zum Rande des Flusses und stand inmitten dieses Nachtbildes, als wäre sie ein Teil des Auswurfes, den der Strom zu Verfall und Verwesung ans Ufer geschwemmt, einsam und stumm da und schaute auf das Wasser. Einige Boote und Jollen lagen im Schlamm, und ihre Schatten setzten uns instand, ihr auf wenige Schritte nahe zu kommen, ohne gesehen zu werden. Ich gab Peggotty ein Zeichen, stehen zu bleiben, und trat hervor, um sie anzureden. Ich näherte mich der einsamen Gestalt nicht ohne ein gewisses Bangen, denn dieses düstere Ziel ihres entschlossenen Ganges und die Art, wie sie dastand, fast eingehüllt in den höhlenartigen Schatten der eisernen Brücke, und auf die in der starken Strömung kraus zitternden Lichter sah, flößten mir Angst ein. Sie schien mit sich selbst zu sprechen. Der Schal war von ihren Schultern gefallen, und sie rang und knotete ihn in der Hand in einer sonderbaren verstörten Weise, fast wie eine Nachtwandlerin. Es lag etwas in ihrem Wesen, was mir die Furcht einflößte, sie könnte vor meinen Augen versinken, ehe es mir gelingen würde ihren Arm zu fassen. In diesem Augenblick rief ich: Marta! Sie stieß einen Schrei des Entsetzens aus und rang mit mir mit solcher Kraft, daß ich kaum glaube, ich hätte sie allein bewältigen können. Aber eine stärkere Hand als die meine faßte sie an der Schulter, und als sie erschrocken aufblickte und sah, wer es war, machte sie nur noch einen schwachen Versuch und sank dann zwischen uns zusammen. Location: 1,650

»Ach der Strom!« rief sie leidenschaftlich. »Ach der Strom!«  Location: 1,654

Er kommt vom frischen grünen Lande her, wo nichts Schlechtes in ihm war, und jetzt schleicht er durch die dunkeln Straßen, besudelt und elend, – und verschwindet wie mein Leben in einem großen Meer, das nie zur Ruhe kommt, – und ich fühle, daß ich mit ihm gehen muß.« Ich habe nie in Worten eine tiefere Verzweiflung gehört als in diesen. Location: 1,669

»Sind Sie gefaßt genug,« fragte ich, »über den Gegenstand zu sprechen, der Sie an jenem Abend, als es so schneite, so interessierte?« Sie fing von neuem an zu schluchzen und gab mit einigen unartikulierten Tönen ihrem Dank Ausdruck, daß ich sie damals nicht von der Türe gewiesen hatte. »Ich will nicht für mich sprechen,« sagte sie nach einer kurzen Pause, »ich bin verdorben und verloren. Ich habe keine Hoffnung mehr. Aber sagen Sie ihm, Sir,« – sie war scheu vor Mr. Peggotty zurückgewichen – »wenn Sie mich nicht zu sehr verachten, daß ich in keiner Weise die Ursache seines Unglücks gewesen bin.« »Es ist Ihnen nie zugeschrieben worden,« erwiderte ich mit gleichem Ernst wie sie. »Sie waren es, wenn ich mich nicht irre,« fuhr sie mit gebrochener Stimme fort, »der an jenem Abend, wo sie sich meiner so erbarmte, in die Küche kam, wo sie so freundlich zu mir war und nicht vor mir zurückschreckte wie die übrigen und mich so voll Liebe unterstützte; waren Sie das nicht, Sir?« »Ja.« »Ich hätte mich längst in den Fluß gestürzt,« sagte sie mit einem Blick voll Entsetzen auf die Wellen, »wenn ein Unrecht gegen sie mir auf der Seele gelegen hätte.« Location: 1,681

Als ich alles verlor, was das Leben kostbar macht, da war der grausamste aller meiner Gedanken der, daß ich jetzt auf ewig von ihr getrennt sein müßte.« Mr. Peggotty, auf den Bord des Bootes gestützt und die Augen niedergeschlagen, bedeckte sein Gesicht. »Als ich damals von Leuten aus unserer Stadt von dem Unglück erfuhr, da war mein allerbitterster Gedanke der, man würde sich daran erinnern, daß sie einst mit mir verkehrte, und sagen, ich hätte sie verdorben, während ich doch, der Himmel weiß es, gern gestorben wäre, wenn ich ihr damit ihren guten Namen hätte wiedergeben können.« Location: 1,694

Plötzlich wendete sie sich an Mr. Peggotty: »Zertreten Sie mich, erschlagen Sie mich! Als sie Ihr Stolz war, hätten Sie geglaubt, ich besudle sie, wenn ich sie auf der Straße mit meinem Kleide gestreift hätte. Sie können ja keine Silbe glauben, die ich spreche! Location: 1,697

Ich sage nicht, daß sie und ich etwas miteinander gemein haben, – ich weiß, daß ein großer, großer Abstand zwischen uns liegt. Ich sage nur mit der ganzen Last meiner Verkommenheit auf dem Herzen, daß ich ihr dankbar bin von ganzer Seele und sie liebe. Location: 1,701

»Marta!« sagte er, »Gott verhüte, daß ich mich zu Ihrem Richter aufwerfen sollte, liebes Kind. Sie wissen nicht zur Hälfte, wie ich im Lauf der Zeit anders geworden bin, wenn Sie das für möglich halten.« Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: »Sie wissen nicht, warum dieser Herr und ich mit Ihnen sprechen möchten. Sie wissen nicht, was wir damit bezwecken. Hören Sie mich an!« Sein Einfluß bannte sie vollständig. Sie stand demütig vor ihm und fürchtete sich, ihm in die Augen zu sehen, aber ihr leidenschaftlicher Schmerz hatte sich gelegt, und sie schwieg. »Wenn Sie an jenem Abend, wo es schneite, etwas von dem gehört haben, was ich Master Davy erzählte, so wissen Sie, daß ich weit, weit weggewesen bin, um meine liebe Nichte zu suchen. Meine liebe Nichte,« wiederholte er mit fester Stimme. »Denn ich liebe sie jetzt mehr, Marta, als je zuvor!« Location: 1,709

»Ich weiß noch, sie hat von Ihnen erzählt,« sagte Mr. Peggotty, »daß Sie von Kindheit an eine Waise gewesen sind und kein Freund sich Ihrer in rauher Seemannsweise annahm. Vielleicht können Sie fühlen, wenn Sie einen Freund gehabt haben würden, daß Sie ihn im Lauf der Zeit lieb gewonnen hätten, und daß meine Nichte mir wie eine Tochter war.« Wie Marta stumm und zitternd dastand, hüllte er sie sanft in ihren Schal ein, den er zu diesem Zweck aufgehoben hatte. »Ich weiß,« sagte er, »daß sie bis ans Ende der Welt mit mir ginge, wenn sie mich wiedersehen würde, aber auch bis ans fernste Ende der Welt fliehen würde, um sich vor mir zu verbergen. Wenn sie auch gewiß nicht an mir zweifelt – nein, das tut sie nicht –« wiederholte er mit einem ruhigen Vertrauen, »so mischt sich doch die Scham hinein und hält uns auseinander.« Location: 1,719

Sie sind ihr dankbar und lieben sie. Helfen Sie uns, sie zu finden, und der Himmel wird es Ihnen lohnen.« Marta sah ihn hastig an, als ob sie an der Richtigkeit dessen, was sie hörte, zweifle. »Sie wollen mir vertrauen?« fragte sie mit leiser erstaunter Stimme. »Ganz und gar,« sagte Mr. Peggotty. Location: 1,744

Wenn ich noch etwas Gutes tun könnte, dürfte ich wieder hoffen. Von meinen Taten ist bis jetzt nur Unheil gekommen. Das erste Mal wird mir jetzt etwas anvertraut. Ich sage weiter nichts und kann weiter nichts sagen.« Sie unterdrückte ihre Tränen, streckte ihre zitternde Hand aus und berührte Mr. Peggotty, als ob eine heilende Kraft von ihm ausginge. Location: 1,771

Davds Tante, Betsey Trotwood, spricht zu ihrem Mann: »Du hast mir den größten Teil alles dessen, was ich besaß, genommen. Du hast für lange Jahre mein Herz gegen die ganze Welt verschlossen. Du hast mich treulos, undankbar und grausam behandelt. Geh und bereue es! Füge nicht noch neues Unrecht zu dem, was du mir bereits angetan hast!« »Ja,« sagte er, »das ist alles recht schön; – nun, ich muß mich wohl vorderhand einrichten, so gut es geht.« Gegen seinen Willen schienen ihn die Tränen meiner Tante zu beschämen, und er schlüpfte aus dem Garten. Mit zwei oder drei raschen Schritten, als ob ich eben des Weges käme, begegnete ich ihm in der Türe. Wir sahen uns im Vorbeigehen an und nicht mit freundlichen Blicken. »Tante,« sagte ich hastig, »schon wieder verfolgt dich dieser Mann? Laß mich mit ihm sprechen.« Sie faßte mich beim Arm. »Kind, komm herein und rede zehn Minuten lang nicht mit mir.« Location: 1,780

»Trot,« sagte sie ruhig, »es war mein Mann.« »Dein Mann, Tante? Ich glaubte, er wäre tot?« »Für mich ist er tot, aber er lebt.« Ich saß in stummer Verwunderung da. »Betsey Trotwood sieht nicht wie der Gegenstand einer zärtlichen Leidenschaft aus,« sagte sie ruhig, »aber es gab eine Zeit, Trot, wo sie an diesen Mann von ganzem Herzen glaubte, wo sie ihn wahrhaft liebte, Trot. Es gibt keinen Beweis von Zuneigung und Liebe, den sie ihm nicht abgelegt hätte. Dafür dankte er ihr, indem er ihr Vermögen vergeudete und ihr fast das Herz brach. Darum legte sie alle solche Gefühle ein für allemal ins Grab und schüttete es zu.« »Meine liebe gute Tante!« »Ich schied großmütig von ihm,« fuhr sie fort und legte ihre Hand in ihrer gewohnten Weise auf die meine. »Nach so langer Zeit, Trot, darf ich wohl sagen, großmütig. Er hatte so schlecht an mir gehandelt, daß ich mich wohl unter leichteren Bedingungen hätte von ihm scheiden lassen können, aber ich tat es nicht. Er vergeudete bald, was ich ihm gegeben, sank immer tiefer und tiefer, heiratete, glaube ich, noch einmal, – wurde ein Abenteurer, ein Spieler und ein Schwindler. Was er jetzt ist, hast du selbst gesehen. Aber als ich ihn heiratete, war er ein schöner Mann,« sagte sie mit einem Widerhall des Stolzes und der Bewunderung alter Zeiten in ihrer Stimme. »Ich glaubte an ihn und hielt ihn in meiner Blindheit für einen vollkommenen Ehrenmann.« Location: 1,800

48.Kapitel 

Ich arbeitete angestrengt an meinem Buche, ohne mich dadurch in der pünktlichen Verrichtung meiner Zeitungspflichten stören zu lassen; und es erschien und brachte mir viel Erfolg. Das Lob, das in meine Ohren tönte, betäubte mich nicht, obgleich ich es wohltuend empfand und gewiß besser von meinem Werke dachte als vielleicht irgend ein anderer Mensch. Meine Beobachtungsgabe hat mir gezeigt, daß jemand, der mit gutem Grund an sich glaubt, sich niemals vor andern rühmt, um sie an sich glauben zu machen. Je mehr Lob ich erntete, desto mehr suchte ich es mir zu verdienen. Location: 1,878

Welcher andere Weg blieb mir noch übrig? »Ihren Geist zu bilden?« Das war so eine Phrase, die hübsch und vielversprechend klang, und ich beschloß, Doras Geist zu bilden. Ich begann sofort. Wenn Dora sehr kindisch war und ich am liebsten mit ihr gescherzt hätte, versuchte ich ernst zu sein – und verstimmte sie und mich dazu. Ich unterhielt mich mit ihr über die Themen, die meine Gedanken beschäftigten; und ich las ihr Shakespeare vor und langweilte sie im höchsten Grade. Ich machte es mir zur Gewohnheit, ihr wie zufällig bruchstückweise in diesem oder jenem Rat Unterricht zu erteilen; – und sie schreckte davor zurück wie vor Knallerbsen. So geschickt und natürlich ich es auch immer anfing, den Geist meiner kleinen Dora zu bilden, immer ahnte sie instinktiv, was ich vorhatte, und wurde eine Beute der ärgsten Befürchtungen. Besonders deutlich merkte ich, daß sie Shakespeare für einen ganz entsetzlichen Menschen hielt. Mit der Bildung ging es also sehr langsam. Ich verwickelte Traddles, ohne daß er es merkte, in meine Pläne, und wenn er uns besuchte, bombardierte ich ihn mit allen möglichen Behauptungen, in der Absicht, Dora so nebenbei dadurch zu erziehen. Location: 1,887

Aber auf Dora brachte es weiter keine Wirkung hervor, als daß sie, dadurch verstimmt, in steter Besorgnis erhalten wurde, die Reihe würde sogleich an sie kommen. Ich sah mich in einen Schulmeister, in eine Schlinge, eine Falle verwandelt; es kam mir vor, als ob ich mit Dora wie eine Spinne mit einer Fliege spielte und beständig aus einem Versteck auf sie losstürzen wollte, aber ich hielt doch monatelang aus, – für die Unannehmlichkeiten dieser Übergangszeit durch die Aussicht, daß dereinst zwischen uns vollständige Übereinstimmung herrschen würde, entschädigt. Aber schließlich sah ich ein, daß ich doch nichts ausgerichtet hatte, Location: 1,893

Bei reiferem Nachdenken kam mir das so wahrscheinlich vor, daß ich meinen Plan, der mir im Entwurf viel besser als in der Ausführung gefallen hatte, aufgab und mich in Zukunft entschloß, mit meinem kindischen Frauchen zufrieden zu sein und nicht mehr zu versuchen, sie zu erziehen. Ich hatte es satt, selber so entsetzlich klug und weise zu sein, und so kaufte ich denn Dora ein Paar hübsche Ohrringe… Location: 1,899

Ich setzte mich neben sie aufs Sofa, hängte ihr die Ohrringe ein und sagte ihr, ich fürchtete, wir wären in der letzten Zeit nicht so gute Kameraden gewesen wie sonst, und daß die Schuld an mir gelegen habe. Location: 1,903

»Es hat nicht den geringsten Zweck,« sagte Dora und schüttelte den Kopf, bis die Ohrringe klingelten. »Du weißt, was ich für ein albernes Ding bin, und daß du mich von Anfang an als solches hast nehmen sollen. Wenn du das nicht tun kannst, so fürchte ich, du wirst mich nie lieb gewinnen. Meinst du nicht manchmal, es wäre besser gewesen .....«… Location: 1,909

»Meinst du nicht auch, es wäre besser gewesen, ich hätte lieber nichts getan als versucht, meines lieben Frauchens Geist zu bilden?« fragte ich, über mich selbst lachend. »Willst du das damit sagen?« »Also das hast du versucht!« rief Dora. »O, was für ein schändlicher Junge!« »Aber ich werde es nie…  Location: 1,914

Du kannst dich nie besser zeigen als so, wie du bist, meine süße Dora; wir wollen keine Experimente mehr machen, sondern leben wie früher und glücklich sein.« »Glücklich sein,« stimmte Dora ein. »Ja! Den ganzen Tag! Und du wirst nicht bös sein, wenn es manchmal ..." Location: 1,918

»Es ist besser für mich, ich bin einfältig als unglücklich, nicht wahr?« »Besser natürlich sein, Dora, als alles andere in der Welt!« »In der Welt! Ach Doady, die Welt ist groß.« Sie schüttelte den Kopf, sah mich mit ihren frohen glänzenden Augen an, küßte mich, brach in heiteres Lachen aus und sprang fort, um Jip… Some highlights have been hidden or truncated due to export limits. Location: 1,924

" [...] wollte ich nicht wieder wie eine Spinne auf der Lauer liegen. Und der Schatten, der nicht mehr zwischen uns sein sollte, wohin fiel der jetzt? Das alte Gefühl, daß mir etwas fehle, durchdrang mein ganzes Leben. Wenn es sich überhaupt verändert hatte, so war es nur stärker geworden; aber es sprach mich an, so unbestimmt wie eine schwermütige Weise, die in der Nacht leise in der Ferne erklingt. Ich liebte mein Weib innig und war glücklich, aber das Glück, das ich mir einst [...] Location: 1,934

Ich liebte Dora stets. Was ich jetzt schreibe, schlummerte und wachte halb auf und schlummerte wieder ein in den innersten Tiefen meines Herzens. An mir verriet sich nichts davon. Es hatte keinen Einfluß auf das, was ich sagte oder tat. Ich trug die ganze Last unserer kleinen Sorgen und aller meiner Projekte; Dora hielt die Federn, und wir fühlten beide, daß die Lasten den Verhältnissen richtig angepaßt und verteilt waren. Sie liebte mich innig und war stolz auf mich, und als Agnes ein paar herzliche Worte an Dora schrieb von dem Stolz und der Teilnahme, mit dem meine alten Freunde von meinem wachsenden Ruhm hörten und mein Buch läsen und mich dabei sprechen zu hören glaubten, las sie mir Dora mit Freudentränen in ihren schönen Augen vor und sagte, ich sei ihr lieber, alter, gescheiter und berühmter Junge. Location: 1,940

»Die erste mißverstandene Regung eines unerfahrnen Herzens!« Diese Worte Mrs. Strong klangen mir damals beständig in der Seele nach; oft erwachte ich mit ihnen mitten in der Nacht und habe sie im Traume auf den Mauern des Hauses gelesen. Ich wußte jetzt, daß mein Herz unerfahren gewesen, als ich mich in Dora verliebt hatte, und daß ich niemals nach unserer Verheiratung hätte fühlen können, was ich jetzt insgeheim fühlte, wenn es wissend gewesen wäre. »Es kann kein größeres Unglück in der Ehe geben als Ungleichheit in den Gefühlen und Bestrebungen!« Auch an diese Worte erinnerte ich mich. Ich hatte mich bestrebt, Dora mir anzupassen, und fand es unausführbar. Jetzt hatte ich mich Dora anzupassen, mit ihr zu teilen, wie ich konnte, und glücklich zu sein, Location: 1,947

Mein zweites Jahr in der Ehe wurde dadurch viel glücklicher als mein erstes, und was noch besser war, es machte das Leben Doras zu lauter Sonnenschein. Aber wie das Jahr verrann, nahmen Doras Kräfte ab. Ich hatte gehofft, daß zartere Hände als die meinigen mir helfen würden, ihren Charakter zu bilden, und daß das Lächeln eines Kindes an ihrer Brust sie aus einem kindischen Frauchen zu einem Weibe machen würde. Es sollte nicht sein. Eine kleine Seele schwebte zögernd einen Augenblick über der Schwelle des irdischen Kerkers und schwang sich dann, nichts ahnend von der drohenden Gefangenschaft, von dannen. Location: 1,980

Meine hübsche Dora! Als sie am nächsten Sonntag herunter zu Tische kam und sich so sehr freute, unsern alten Traddles, der Sonntags immer bei uns aß, zu sehen, glaubten wir, sie würde in wenigen Tagen wieder herumspringen wie früher. Aber es hieß immer: wir müssen noch ein paar Tage warten, und dann immer noch ein paar Tage; und immer noch sprang sie nicht herum. Sie sah ganz allerliebst aus und war sehr fröhlich, aber die kleinen Füßchen, die früher so rasch um Jip herumtanzen konnten, waren jetzt schwer und matt. Ich mußte sie bald jeden Morgen die Treppe herab und jeden Abend wieder hinauf tragen. Sie faßte mich um den Hals und lachte dabei, als geschähe es zum Spaß. Jip bellte und sprang um uns herum, lief voraus  Location: 1,985

Meine Tante, diese beste aller Pflegerinnen, kam hinter uns her, ein lebender Berg von Schals und Kissen, und Mr. Dick hätte keinem Menschen auf Erden sein Amt als Leuchterträger abgetreten.

Yellow highlight | Location: 1,988

[...] mein kindisches Frauchen war die fröhlichste von uns allen. Aber manchmal, wenn ich sie aufhob und sie mir in den Armen leichter vorkam, da beschlich mich ein dunkles Gefühl, als ob ich mich einer noch unsichtbaren Eisregion näherte, die mein Leben zu erstarren drohte. Location: 1,990

bis ich eines Abends, als es stärker als je über mich kam und meine Tante Dora mit dem Abschiedsgruß: »Gute Nacht, liebes Blümchen,« verlassen hatte, mich allein an meinen Schreibtisch setzte und weinte bei dem Gedanken an den verhängnisvollen Namen »Blümchen«, das jetzt wirklich in seiner schönsten Blüte dahinwelkte. Location: 1,993

49. Kapitel 

Eines Morgens brachte mir die Post einen von Canterbury an mich in Doktors Commons adressierten Brief. Ich las zu meiner Überraschung: »Werter Herr! Verhältnisse, die außerhalb des Bereichs meiner persönlichen Kontrolle liegen, haben seit geraumer Zeit ein Aufhören der Vertrautheit bewirkt, Location: 2,005

Wenn Ihre soviel wichtigeren Beschäftigungen Ihnen gestatten, diese unvollkommenen Schriftzüge bis hierher zu lesen, so werden Sie natürlich fragen, was mich zu gegenwärtigem Schreiben veranlaßt. Erlauben Sie mir zu betonen, daß ich die Berechtigung dieser Frage vollkommen zugebe, und gestatten Sie mir, mich weiter auszulassen. Location: 2,016

Indem ich Ihnen melde, daß ich mich an der Außenseite der südlichen Mauer jenes für die Haft im Zivilprozeß errichteten Gebäudes übermorgen abends um sieben einfinden werde, ist der Zweck dieser brieflichen Mitteilung erreicht. Ich fühle mich nicht berechtigt, meinen frühern Freund, Mr. Copperfield, oder meinen frühern Freund, Mr. Thomas Traddles vom innern Juristenkollegium, wenn dieser Herr noch am Leben ist, zu bitten, Location: 2,020

Ich möchte mich nur auf die Bemerkung beschränken, daß zu der angegebenen Stunde und am bezeichneten Orte aufzufinden sein wird, was noch übrig ist von den Trümmern des gefallenen Turmes Wilkins Micawber. P.S. Es ist vielleicht ratsam, obigem noch hinzuzufügen, daß ich Mrs. Micawber hinsichtlich meines Vorhabens nicht ins Vertrauen gezogen habe.« Location: 2,026

Ich grübelte gerade darüber nach und geriet in immer größere Verwirrung, als Traddles eintrat. »Alter Freund,« sagte ich, »du kommst mir wie gerufen. Möchtest du mir nicht mit deinem Urteile beistehen? Location: 2,028

Und ich habe einen von Mrs. Micawber.« Location: 2,029 Traddles, [...] zog einen Brief aus der Tasche und ließ sich den meinigen geben. Location: 2,031 »Gott bewahre, Copperfield,« sagte er und gab mir dann Mrs. Micawbers Brief. 

Er lautete: Ich versichere Mr. T.T., daß ich seine Freundlichkeit nicht in Anspruch nehmen würde, wäre ich nicht an den letzten Grenzen des Wahnsinns angelangt.  Location: 2,039

Mr. T. wird nicht verlangen, daß ich meine Gefühle schildere, wo ich täglich zu hören gewohnt bin, daß Mr. Micawber behauptet, er habe sich dem Teufel verkauft. Geheimniskrämerei bildet seit langem schon seinen vornehmsten Charakterzug und ist längst an Stelle altgewohnten Vertrauens getreten. Location: 2,046

Der Liebe Scharfblick ist nicht leicht zu täuschen, wenn er weiblichen Geschlechtes ist. Mr. Micawber reist nach London! Obgleich er auf das Sorgfältigste heute morgens vor dem Frühstück, als er die Adresse auf den kleinen braunen Mantelsack seiner glücklicheren Tage schrieb, seine Hand verdeckte, so erspähte doch der Adlerblick ehelicher Besorgnis auf das Deutlichste: › ... don.‹ Das Westendziel der Landkutsche ist das ›Goldne Kreuz‹. Darf ich wagen, Mr. T. auf das Flehentlichste zu bitten, meinen irregeleiteten Gatten dort zu treffen und mit ihm zu sprechen? Darf ich Mr. T. bitten, die Vermittlerrolle zwischen Mr. Micawber und seiner zu Tode geängstigten Familie zu übernehmen? O nein, denn das wäre zuviel. Location: 2,053 diese Mitteilung als streng vertraulich zu betrachten und unter keiner Bedingung eine wenn auch noch so entfernte Anspielung darauf in Mr. Micawbers Gegenwart zu machen.  Location: 2,069

[...] als wir nachmittags auch meine Tante zu Rate zogen, war der einzige Entschluß, zu dem wir kamen, der, daß wir das Stelldichein mit Mr. Micawber pünktlich einhalten wollten. Location: 2,072

Als wir ihn anredeten, war er verlegener und weniger vornehmtuend als früher. Location: 2,075

»Meine Herren,« sagte Mr. Micawber nach den ersten Begrüßungen, »Sie sind Freunde in Wort und Tat. Location: 2,180

Ich will niemandes Gastfreundschaft mehr annehmen, bis ich – den Berg Vesuv – zu einem Ausbruch – beschworen habe –, den gotteslästerlichen Schurken – Heep zu verschütten! Einen Bissen anzunehmen – unter diesem Dach – oder gar Punsch – würde mich ersticken, – ehe ich nicht – diesem grenzenlosen Heuchler und Lügner – die Augen aus dem Kopf – gequetscht habe. Location: 2,200

Ich hoffe, ich habe die Bitte um eine Zusammenkunft auf heute über acht Tage frühmorgens in dem Gasthof in Canterbury, Location: 2,203

Wenn die Pflicht erfüllt und die Sühne vollbracht ist, die mich allein in den Stand setzen kann, meinen Mitmenschen wieder ins Antlitz zu schauen, wird man mich nie mehr wiedersehen. Mein einziger Wunsch wird sein, zur Ruhe zu kommen an jenem Ort, wo »Reih an Reih des Dorfes Ahnen in ewgem Schlummer ruhn in engen Zellen« Location: 2,207

50. Kapitel

Mehrere Monate waren seit unserer Begegnung am Ufer des Flusses verstrichen. Ich hatte Marta seitdem nicht mehr wiedergesehen, aber Mr. Peggotty war verschiedene Male mit ihr zusammengetroffen. Trotz ihres eifrigsten Bemühens hatte sie bisher nichts erreicht. Aus dem, was ich erfuhr, ging nichts über Emlys Schicksal hervor. Ich fing bereits an zu zweifeln, ob es jemals gelingen würde, sie wieder aufzufinden, und machte mich allmählich mit dem Gedanken, sie sei tot, vertraut. Mr. Peggottys Glaube hingegen blieb unerschütterlich. Soviel ich weiß – und ich glaube, sein ehrliches Herz verbarg mir keinen seiner Gedanken – wankte er niemals in seiner felsenfesten Überzeugung, daß er sie auffinden werde. Location: 2,216

Ich kann mich erinnern, daß er einmal mitten in der Nacht aufstand, um nach Yarmouth zu wandern, von der Ahnung gequält, das Licht könnte durch einen Zufall nicht im Fenster des alten Bootes stehen. Ein andermal nahm er seinen Wanderstab, als er etwas in den Zeitungen gelesen hatte, was sich auf Emly beziehen konnte, und machte eine Reise von einigen Dutzend Meilen. Er fuhr zur See nach Neapel und zurück, nachdem er meinen Bericht, zu dem mir Miß Dartle verholfen, angehört hatte. Auf allen diesen Reisen gönnte er sich nicht die geringste Bequemlichkeit, denn er wollte Geld sparen um Emlys willen, wenn sie gefunden würde. Location: 2,223

Manchmal abends in der Dämmerstunde, wenn er mich besuchte, bewog ich ihn, während wir langsam im Garten auf und ab gingen, seine Pfeife zu rauchen, und dann trat das Bild seines verlassenen Herdes und der trauliche Eindruck, den es auf meine Kinderaugen gemacht hatte, wenn das Feuer brannte und der Wind um die Hütte stöhnte, lebhaft vor meine Seele. Um eine solche Stunde sagte er mir eines Tages, Marta habe am Abend vorher vor seiner Wohnung gewartet, bis er nach Hause kam, und ihn gebeten, er möge jetzt um keinen Preis London verlassen, ehe sie ihn nicht abermals gesprochen hätte. »Sagte sie Ihnen, warum?« fragte ich. »Ich fragte sie, Masr Davy, aber sie sprach nur wenige Worte, ließ sich bloß mein Versprechen geben und ging wieder.« Location: 2,231

Da ich mir längst abgewöhnt hatte, Hoffnungen zu bestärken, die an Spinnfäden hingen, sagte ich weiter nichts, als daß ich hoffte, es werde bald geschehen. Die Vermutungen, die mir durch den Kopf schossen, behielt ich für mich. Etwa vierzehn Tage später ging ich allein eines Abends in meinem Garten auf und ab. Location: 2,239

In Gedanken verloren wandte ich zufällig meine Blicke dorthin und sah eine Gestalt in einem einfachen Mantel draußen stehen. Sie beugte sich zu mir herüber und winkte. »Marta!« rief ich und eilte auf sie zu. »Können Sie mitkommen?« fragte sie mit erregtem Flüstern. »Ich war bei ihm, und er ist nicht zu Hause. Ich habe das Haus, wohin er kommen soll, aufgeschrieben und die Adresse selbst auf seinen Tisch gelegt. Es hieß, er könne nicht lang ausbleiben. Ich habe Nachrichten für ihn. Können Sie gleich mitkommen?« Location: 2,246

Als ich sie fragte, wohin uns der Kutscher fahren sollte, gab sie zur Antwort: »In die Nähe von Golden Square, und so rasch wie möglich! –«  Location: 2,253

Als wir zu der offnen Tür eines dieser Gebäude kamen, ließ sie meinen Arm los und winkte mir, ihr die Treppe hinauf zu folgen. Location: 2,265

Als nur mehr eine Treppe zwischen uns und dem Dach war, bemerkten wir, daß die Gestalt einen Augenblick vor einer Tür stehen blieb und dann eintrat. »Wer ist das?« flüsterte Marta mir zu. »Sie ist in mein Zimmer gegangen! Ich kenne sie nicht!« Ich hatte sie sehr wohl erkannt. Es war zu meinem Erstaunen Miß Dartle. Ich erklärte meiner Führerin mit wenigen Worten, daß es eine mir bekannte Dame sei, und hatte kaum ausgesprochen, als wir die Stimme Miß Dartles im Zimmer drin hörten, wenn wir auch nicht verstehen konnten, was sie sagte. Location: 2,275

»Es ist mir gleichgültig, ob sie zu Hause ist,« sagte Rosa Dartle hochmütig. »Ich kenne sie gar nicht. Ich komme zu Ihnen!« »Zu mir?« fragte eine sanfte Stimme. Bei ihrem Klange durchzuckte es mich. Es war Emlys Stimme. »Ja,« gab Miß Dartle zur Antwort, »ich komme, um Sie zu sehen. Schämen Sie sich nicht des Gesichtes, das so viel Unheil angestiftet hat?« Bei dem Tone entschlossenen und unbarmherzigen Hasses und der mit Gewalt niedergehaltnen Wut sah ich Miß Dartle so deutlich vor mir, als ob sie leibhaftig vor mir stünde. Location: 2,291

»Um Gottes willen, seien Sie barmherzig!« rief Emly. »Wer Sie auch sein mögen, Sie kennen meine jammervolle Geschichte. Um Gottes willen, seien Sie barmherzig, wenn Gott gegen Sie dereinst barmherzig sein soll.« »Wenn Gott gegen mich barmherzig sein soll!« entgegnete die andere heftig. »Was glauben Sie eigentlich, daß wir miteinander gemein haben!« »Nichts als unser Geschlecht!« sagte Emly und brach in Tränen aus. Location: 2,297

Unser Geschlecht! Sie sind mir eine Ehre für unser Geschlecht!« »Ich habe das verdient,« rief Emly, »aber es ist entsetzlich! O, bedenken Sie, was ich gelitten habe und wie tief ich gefallen bin! Marta, Marta, im Gottes willen, komm, komm zurück!« Location: 2,301

»Hören Sie jetzt, was ich Ihnen sage, und sparen Sie Ihre heuchlerischen Künste für Ihre Dummköpfe auf. Location: 2,303

Sie feile Sklavin!« »Haben Sie Erbarmen!« jammerte Emly. »Haben Sie Erbarmen oder ich werde wahnsinnig!« »Das wäre keine genügende Strafe für Ihr Verbrechen. Wissen Sie, was Sie getan haben? Denken Sie jemals an das Haus, das Sie verwüstet haben?« »O, es gibt keinen Tag und keine Nacht, wo ich nicht daran dächte,« rief Emly; Location: 2,315

Sie gehörten mit zum Geschäft Ihrer Familie und wurden gehandelt wie jede andere Ware. Nichts weiter!« »Sagen Sie das nicht!« rief Emly. »Sagen Sie von mir, was Sie wollen, aber lassen Sie meine Schmach und Schande nicht Leuten entgelten, die so ehrenhaft sind wie Sie. Location: 2,320

»Hier,« sagte sie und deutete mit der Hand auf die Knieende herab, »hier sehe ich die wertvolle Veranlassung des Zerwürfnisses zwischen einer vornehmen Dame und ihrem Sohn, – des Jammers in einem Hause, wo man Sie nicht als Dienstmagd angenommen hätte. Dieses Stück Schmutz aufgelesen am Meeresufer, um eine Stunde lang hochgehalten und dann wieder an seinen ursprünglichen Platz geworfen zu werden!« Location: 2,331

»Sie ihn lieben! Sie!« rief sie und ballte die Faust, als fehle ihr nur die Waffe, um die Ärmste niederzustoßen. Emilie war zurückgewichen, so daß ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich hörte keine Antwort. Location: 2,346

Merken Sie wohl auf, denn was ich Ihnen sage, werde ich auch ausführen. Hören Sie, Sie zarte Fee, was ich sage! Ich werde es auch ausführen!« Ihre Wut gewann wieder einen Augenblick die Oberhand, aber sie ging über ihr Gesicht wie ein Krampf und ließ nur ein Lächeln zurück. Location: 2,353

Wenn Sie morgen noch hier sind, so soll das ganze Haus Ihre Geschichte erfahren und was Sie sind. Ich höre, es wohnen anständige Frauen im Hause, und es wäre jammerschade, wenn solch ein Geschöpf wie Sie unter ihnen leben dürfte. Wenn Sie hier wegziehen und sich in dieser Stadt unter einer andern Beschäftigung als Ihrer wahren verbergen wollen, so werde ich dasselbe tun, sowie ich Ihren Zufluchtsort erfahre. Da ich von einem Gentleman unterstützt werde, der vor nicht langer Zeit um die Ehre Ihrer Hand warb, werde ich schon dahinterkommen.« Location: 2,367

Miß Dartle war bei ihren letzten Worten von der Türe weggegangen, und ich sah sie nicht mehr. »Also vergessen Sie nicht,« hörte ich sie noch sagen, als sie die Ausgangstüre öffnete. »Ich bin entschlossen, bewogen von gewissen Gründen und von Haßgefühl, Sie bis aufs äußerste zu verfolgen, wenn Sie nicht aus meinem Bereiche fliehen oder Ihre Maske fallen lassen. Das wollte ich Ihnen sagen, und was ich sage, führe ich auch aus.« Die Tritte auf der Treppe kamen näher und näher, schritten an Rosa Dartle vorüber, als sie hinunterging, – traten ins Zimmer. »Onkel!« Ein schrecklicher Schrei folgte. Ich wartete einen Augenblick, blickte dann ins Zimmer und sah, wie er sie in seinen Armen hielt. Er sah ihr ein paar Sekunden ins Gesicht, dann küßte er es zärtlich und deckte ein Tuch darüber. »Masr Davy,« sagte er darauf mit leiser bebender Stimme, »ich danke meinem himmlischen Vater, daß er meinen Traum wahr werden ließ! Ich danke ihm aus vollem Herzen, daß er mich auf seinen eignen Wegen zu meinem Liebling geführt hat.« Location: 2,378

51. Kapitel 

Es war noch früh am Morgen des folgenden Tages, und ich ging mit meiner Tante im Garten auf und ab, als man mir Mr. Peggotty meldete. Ich ging ihm entgegen; er trat in den Garten und nahm den Hut ab, wie stets, wenn er meine Tante sah, die er in hoher Achtung hielt. Location: 2,381

Ohne ein Wort zu sprechen trat sie mit herzlicher Miene auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand und klopfte ihn auf den Arm. Das geschah in so ausdrucksvoller Weise, daß sie kein Wort zu sagen brauchte. Location: 2,393

Sie können mir glauben, als ich ihre liebe Stimme hörte und sah, wie sie sich in den Staub beugte, auf den unser Heiland mit seiner gesegneten Hand geschrieben, da fühlte ich, wie [...] Location: 2,438

»Als sie wieder genesen war,« sagte Mr. Peggotty abermals nach einer kurzen Pause, »sann sie auf Mittel, in ihr Vaterland zu gelangen. Der Mann der jungen Frau war wieder heimgekehrt, und beide brachten sie auf einen kleinen Kauffahrteifahrer, der nach Livorno fuhr und von da nach Frankreich. Sie besaß ein wenig Geld, aber es war weniger als nichts, was die armen Leute annehmen wollten für ihre vielen guten Taten. Ich bin fast froh darüber, denn was sie getan haben, ist dort aufbewahrt, wo weder Motten noch Rost hinkommen und wo kein Dieb einbrechen und stehlen kann. Masr Davy, es währet länger als alle Schätze der Welt. Emly erreichte Frankreich und nahm eine Stelle an, in der sie in einem Gasthaus die reisenden Damen bediente. Dorthin kam eines Tages jene Viper. Möge er mir niemals vor Augen kommen! Ich weiß nicht, was ich ihm antäte! Ehe er sie noch sah, entfloh sie schon voll Furcht und Entsetzen. Sie gelangte nach England und stieg in Dover ans Land. Ich weiß nicht, wann ihr der Mut sank, aber auf der ganzen Reise hatte sie beabsichtigt, ihr Vaterhaus aufzusuchen. Kaum hatte sie England betreten, wandte sie sich dorthin. Aber die Furcht, daß wir ihr nicht verzeihen würden, daß man auf sie mit Fingern deuten würde, die Angst, daß von uns einige ihretwegen gestorben sein könnten, Location: 2,449

›Onkel, Onkel,‹ sagte sie zu mir, ›die Furcht, nicht würdig zu sein, das auszuführen, wonach sich mein zerrissenes und blutendes Herz so sehr sehnte, war die Furcht, die mich am meisten bewegte. Ich kehrte um, als mein Herz voll war von Gebeten, ich möchte nachts nach der alten Schwelle schleichen, sie küssen, mein sündiges Gesicht auf sie legen und dort Location: 2,453

Fast in dem Augenblick, wo sie so gänzlich verlassen hier ankam, fand sie eine, wie sie glaubte, freundlich gesinnte anständige Frau, die ihr eine Nähterarbeit zu verschaffen versprach, ihr eine Unterkunft für die Nacht suchen und geheime Nachforschungen nach mir und uns allen anstellen wollte. Als mein Kind,« sagte er laut und mit einer Dankbarkeit, die ihn vom Kopf bis zum Fuß durchbebte, »vor einem tiefern Abgrund stand, als ich sagen oder mir ausdenken kann, da rettete Marta sie getreu ihrem Versprechen.« Location: 2,469

Die ganze Nacht sind Emly und ich beisammen gewesen. Sie hat in der langen Zeit weniger mit Worten gesagt als mit herzzereißenden Tränen. Noch weniger habe ich von ihrem lieben Gesicht gesehen, das unter meinem Dache so schön geworden war. Aber die ganze Nacht lang hielt sie ihre Arme um meinen Nacken geschlungen, und ihr Kopf lag hier; und wir wissen beide genau, daß wir uns auf ewig aufeinander verlassen können.« Location: 2,473

»Es war ein Lichtstrahl für mich, Trot,« sagte meine Tante und trocknete sich die Augen, »als ich den Entschluß faßte, bei deiner Schwester Betsey Trotwood, die mich so täuschte, Pate zu stehen; aber nächst diesem würde mir kaum etwas größere Freude machen, als Pate bei einem Kind dieses guten jungen Geschöpfs zu stehen.«

Keine Kommentare: