09 Oktober 2025

Karl Ove Knausgård

 Karl Ove Knausgård: Die Wiederverzauberung der Welt

Der passende Publikationsort ist die Welt der Literatur in: Welt am Sonntag Nr.40, 5.10.2025, S.3

Alle Besprechungen von Knausgårds Werken machten mich skeptisch: Keine Zeit für so viel Selbstbetrachtung. Dieser Text interessiert mich: Natur wichtiger als umgebende Gesellschaft, daher kein Interesse für Computer.

Und dann: Was ist aus der Welt geworden, die doppelt flach, abstrakt wurde? Was passiert da? Das will Knausgård wissen.

"Die Literatur kann ein Außerhalb errichten. Und sobald es zwei Orte gibt, ist der erste Ort nicht länger gegeben, herrscht er nicht mehr allein, ist er nicht mehr das, was sich von selbst sagt. Mein Problem, mit dem ich nun kämpfe, besteht darin, dass es mir nicht gelingt, ein Außerhalb der Technik zu finden – es kommt mir so vor, als wäre "außerhalb" verschwunden, als wäre es kein möglicher Ort mehr.

Es fühlt sich so an, als wäre die ganze Welt in Bilder von der Welt umgewandelt und auf die Art in das Menschliche hineingezogen worden, das nun alles umfasst. Es gibt keinen Ort, kein Ding, keine Person und kein Phänomen, worüber ich keine Informationen einholen kann. [...]

Entfremdung bedeutet: Distanz zur Welt. Ein fehlender Zusammenhang zwischen ihr und uns. Die Technik kompensiert diesen Realitätsverlust mit Realitätsersatz. Sie kalibriert alle Unterschiede, füllt alle Hohlräume und Risse mit Bildern und Stimmen, bringt alles ganz nah an uns heran – um so den Zusammenhang zwischen uns und der Welt wiederherzustellen. Selbst die Vergangenheit, die noch vor wenigen Generationen für immer verloren war, kann wiederhergestellt werden.

Letzten Winter war ich mit meiner Familie in der neuen ABBA-Show in London, saß dort mitten im singenden und jubelnden Publikum und kämpfte mit den Tränen – im Innersten erschüttert. Die vier Mitglieder von ABBA waren als Hologramme wiedererschaffen worden. Sie bestanden aus Licht, sahen aber lebendig aus und stiegen von einer Plattform unter der Bühne auf – wie aus der Unterwelt – während sie sangen. Sie waren wieder jung, bewegten sich auf der Bühne wie die etwas ungelenken Skandinavier, die sie einst gewesen waren: Björn, Benny, Agnetha und Anni-Frid.

Ihre Körper und Stimmen stammten aus den siebziger Jahren – aber sie agierten und sangen in unserer Zeit, begleitet von einer Liveband, die daneben im Schatten spielte, und vom Jubel der Zuschauer. Es kam mir vor, als wäre die Zeit wie ein Teppich unter mir weggezogen worden – denn wenn ich auf einer Zeitebene mit dem war, was ich sah, war ich gleichzeitig acht und vierundfünfzig Jahre alt. Ein Kind – und ein Mann mittleren Alters. Welle auf Welle aus Nostalgie und Sehnsucht durchspülte mich – aber auch aus Furcht. Denn was ich sah, war ja der Tod.

Es war der Tod, zu dem wir in der Konzerthalle klatschten und sangen. Wir waren Doktor Faustus so wie Marlowe ihn beschrieb, als die schöne Helena aus dem Trojanischen Krieg vor seinen Augen heraufbeschworen wurde. Wir waren Odysseus, so wie Homer ihn beschrieb, als er seine tote Mutter aus dem Hades heraufbeschwor – und dreimal ins Leere griff, als er versuchte, sie zu umarmen. [...]"