13 Februar 2007

Grass

"Grass ist nicht interessiert, die Wahrheit zu erfahren." "perfider Fehler", ungeheure Infamie" hieß es in Reich-Ranickis "Literarischem Quartett". Und über Grass' Wünsche an literarische Kritik meinte Ranicki: "Das hat Goebbels auch gewollt."
Solche Kritik an einem Werk eines der anerkanntesten deutschen Schriftsteller macht neugierig.
Es enthält die Lebensgeschichte Fontanes gespiegelt in einem erfundenen 100 Jahre später geborenen Doppelgänger, der die DDR erleidet und nach ihrem Zusammenbruch in der Treuhandanstalt arbeitet. Begleitet wird er fast stets von seinem "Tag- und Nachtschatten" Hoftaller (nach Schädlichs Tallhover).
Das Buch hat auch aus meiner Sicht seine Schwächen und Längen. Dass die Figuren darin nicht leben, ist keine ganz unzutreffende Kritik - doch nicht nur im Uwe-Johnson-Kapitel, auf das Reich-Ranicki selbst verweist -, sondern spätestens mit dem Auftritt der unehelichen Enkelin des Helden ist sie ganz gewiss eindeutig widerlegt.
Wie diese französische Madeleine mit "Fonty"/Fontane/Theo Wuttke zusammen "Gideon ist besser als Botho" ruft, das wirkt lebendig, auch wenn es eindeutig als hommage an Fontane gedacht ist (Im 21. Kapitel, S.430 meiner Ausgabe). Ist dieser Schluss von "Irrungen, Wirrungen" doch von der Aussagekraft Schillerscher Dramenschlüsse.
Gleichzeitig klingt aber auch das wehmütige "Ich denke dran ... ich danke dir mein Leben" aus dem Feldspaziergang von Botho, Lene und Frau Dörr (am Schluss des 9. Kapitels) an. Doch so munter es gerufen wird, enthält es ja doch eine herbe Kritik am Leben des informellen Mitarbeiters Theo Wuttke. (Da dieser mit Fontane nahezu gleichgesetzt wird, empört die Kritiker natürlich die Rechtfertigung des IM-Daseins, die darin indirekt enthalten ist. - Denn Fontane war zwar ein energischer Kritiker des Bismarckreichs, doch hat er sich damit arrangiert. Nichts mehr von dem Revolutionär von 1848, dem er in seinen Lebenserinnerungen mehr Herz als Verstand nachsagt.)
(Günter Grass: "Ein weites Feld", 1995)

sieh auch:
Jutta Osinski: Aspekte der Fontane-Rezeption bei Günter Grass. Ein Vortrag vom Februar 1996 über den Roman „Ein weites Feld“

"[...] Grass‘ neuer Roman „Ein weites Feld“, dem ich meine Ausführungen widme, hat mir so gut gefallen, daß ich das zum Ausdruck bringen und begründen möchte. Wir sollten die Literaturkritik nicht den Feuilletons überlassen. Dort ist der Roman so oft verrissen worden, daß die Rezensionen wohl viele potentielle Leser, wenigstens in den alten Bundesländern, von der Lektüre abgehalten haben. [...]
Martina hat nichts von Fontane gelesen, aber, ich zitiere, „Sekundärliteratur kriegen wir mit, jedenfalls so viel, daß man den Durchblick hat und ihn einordnen kann, wie unser Prof. sagt, ungefähr zwischen Raabe und Keller“. Fonty versucht darauf, ihr „den immerhin möglichen Gewinn beim Lesen von Originaltexten anzupreisen.“ (S. 296f.) Gegen Martina Grundmann steht Madeleine Aubron, die französische Enkelin Fontys und ebenfalls Germanistikstudentin. Sie hat eine literarhistorische Ausbildung alter Schule genossen und kennt sich in der Biographie des Unsterblichen ebenso gut aus wie in dessen Werken. Und sie ist als eine von Fontys Art dargestellt – ausgestattet mit der Fähigkeit, Texte, Fakten, die Wirklichkeit, wie sie ist, aus der Perspektive von Imaginiertem zu durchdringen und so den Erkenntniswert von Fiktionen für die Wirklichkeit zu bestätigen. [...]
 Fragt man sich, was aus dem dekonstruktivistischen Kampfruf bei Grass und in der Gegenwartsliteratur überhaupt geworden ist, so kann man ihn als widerlegt betrachten: Der Autor ist keineswegs tot, sondern biographische Interessen feiern fröhliche Urständ. [...] Und wenn Grass die Biographie Fontanes zum Muster seiner Fonty-Figur macht, kann, rezeptionsästhetisch betrachtet, vom Tod des Autors ebenfalls keine Rede sein. Ohne eine ziemlich genaue Kenntnis der Biographie Fontanes und seiner Werke, also auch der Unterschiede zwischen historisch-biographischen Fakten, Fiktionen, dem Autor und seinem Roman-Personal kommt man der Konstruktion von „Ein weites Feld“ nicht auf die Schliche. Andererseits aber, von dieser Konstruktion aus betrachtet, aus textheoretischer Perspektive also, ist der Autor doch tot – denn der Roman führt Fontanes Biographie nicht als solche vor, sondern als Wirkung, als Effekt eines Verstehens von Texten. Der Autor Fontane entsteht sozusagen erst im Prozeß der Romanlektüre – er wird im Raum des Intertexts als Autor-ität konstruiert.
Es geht nicht darum, ob ich mich für eine biographistische oder für eine dekonstruktivistische Lektüre entscheide, denn Fontane kann sowohl als Urheber seiner Werke wie auch als literarisches Produkt angesehen werden. Wie sagt Fonty, bevor er abtaucht? „Zweifelsohne werde ich mir selbst nun zum jüngsten Kind meiner Laune“ (S. 779). [...]"

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