20 Juni 2009

Ortega y Gasset

Ortega y Gasset setzt sich in seinem Werk Der Aufstand der Massen von Spenglers "Untergang des Abendlandes" ab und betont, inwiefern im 20. Jahrhundert kein Niedergang, sondern eine Steigerung vorliege:
"[...] die Lebensmöglichkeiten, die heute den Massen offenstehen, decken sich zum großen Teil mit denen, die früher den wenigen vorbehalten schienen. (S.162/63)
[...] Nun stellt aber der Durchschnittsmensch den Boden dar, über dem sich die Geschichte des Zeitalters bewegt; [...] Wenn also das mittlere Niveau jetzt da liegt, wohin sonst nur Eliten gelangten, besagt das schlicht und einfach, daß sich das geschichtliche Niveau plötzlich erhöht hat - (S.165) [...]
Dann beginnt er das 19. Jahrhundert in einer Weise zu schmähen, wie wir es im Blick auf die zwei Weltkriege und mehrfachen Völkermorde des 20. Jahrhundert uns wohl nicht trauen würde:
Es gibt Jahrhunderte, die ihre Wünsche nicht zu erneuern wissen und an Zufriedenheit sterben wie die Drohne nach dem Hochzeitsflug. (S.171)
Nun stellt er das 20. Jahrhundert geradezu als eine Art Jahrhundert des Übermenschen dar:
[...] ein immer offener Horizont von Möglichkeiten zu sein, ist das Wesen des echten Lebens, die wahrhafte Fülle des Lebens. (S.172) [...] Das heißt der Lebensinhalt eines Menschen von mittlerer Art ist heute der ganze Planet; [...]
Indem wir Raum und Zeit aufheben, verlebendigen wir sie, nutzen sie vital aus. Wir können an Mehr Orten sein als früher, Ankunft und Abreise öfter genießen und in kürzerer kosmischer Zeit mehr gelebte zusammendrängen. (S.177)
Auf physischem und sportlichem Gebiet werden heute bekanntlich Leistungen erzielt, die alles aus der Vergangenheit Bekannte in den Schatten stellen. Es genügt nicht, jede einzeln zu bewundern und den Rekord, den sie aufstellt, zu buchen; man muß den Eindruck beachten, den ihre Häufigkeit in uns hinterläßt: sie bringt uns die Überzeugung bei, daß der menschliche Organismus heute über Fähigkeiten und Kräfte verfügt wie nie zuvor. Denn etwas Ähnliches geschieht in der Wissenschaft. Einige Jahrzehnte - nicht länger - brauchte die Forschung, um ihren kosmischen Horizont unwahrscheinlich auszudehnen. Einsteins Physik bewegt sich in so weiten Räumen, daß die alte Newtonsche darin nur eine Bodenkammer einnimmt. [...] Ich lege den Ton nicht darauf, daß Einsteins Physik exakter ist als Newtons, sondern daß der Mensch Einstein von größerer Geistesschärfe und -freiheit ist als der Mensch Newton; genau wie der Boxer heute Faustschläge von besserem Kaliber austeilt als alle seine Vorgänger.(S.179)
Danach nimmt er direkter, aber nicht ganz deutlich auf Spengler Bezug:
Diese Schilderung war notwendig, um dem Gerede vom Niedergang und besonders den Niedergang des Abendlandes zu begegnen, das im letzten Jahrzehnt unter uns umging. Man erinnere sich der Überlegung, die ich anstellte und die mir so einfach wie einleuchtend scheint. Es ist nicht angängig, von einem Niedergang zu reden, bevor man nicht genau gesagt hat, was es denn ist, das niedergeht. (S.180) [...]
Schließlich aber spricht er schließlich auch kritischer von der Anmaßung des Menschen im 20. Jh.:
Das brachte uns darauf, von der Fülle zu sprechen, [...] Und ich schloß damit, daß unsere Zeit durch eine sonderbare Anmaßung ausgezeichnet ist, die sich mehr dünkt als jede Vergangenheit, ja das Gewesene nicht beachtet, keine klassischen und normativen Epochen anerkennt, sondern sich selbst als ein neues, allem Früheren überlegenes und nicht darauf zurückführbares Leben ansieht. (S.180/81)
Und nun kommt er zu dem - angesichts der vorherigen Preisungen der neuen Möglichkeiten - vernichtenden Urteil:
"Sie beherrscht die Welt, aber sich selbst nicht. Sie fühlt sich verloren in ihrem eigenen Überfluß." (S.181)
Schließlich kommt er (1929/30) zu einer Kritik an den Massen, die offenbar schon die Erfahrungen mit dem italienischen Faschismus einbezieht. Der Massenmensch glaube, die gesteigerten Möglichkeiten der Zivilisation seien gleichsam naturhaft vorhanden und es bedürfe keiner kulturellen Anstrengungen, das Niveau der Technik zu wahren, das beim gegenwärtigen Umfang der Weltbevölkerung die Voraussetzung für das Überleben sei.
Die verwöhnten Massen sind nun harmlos genug, zu glauben, daß diese materielle und soziale Organisation [...] auch nie versagt und fast so vollkommen ist wie Naturdinge. (S.193) [...] So läßt sich der absurde Seelenzustand, den sie verraten, zugleich erklären und beschreiben: nichts beschäftigt sie so sehr wie ihr Wohlbefinden, und zugleich arbeiten sie den Ursachen dieses Wohlbefindens entgegen." (S.193/94)
"[...] für mich ist das Unverhältnis zwischen dem Vorteil, den der Durchschnittsmensch aus der Wissenschaft zieht, und der Erkenntlichkeit, die er ihr entgegenbringt - ihr vielmehr nicht entgegenbringt -, das Besorgniserregendste." (S.215)
[...] es erweist sich, daß der heutige Wissenschaftler das Urbild des Massenmenschen ist [...] weil die Wissenschaft selbst, die Wurzel der Zivilisation ihn unentrinnbar zum Massenmenschen, das heißt zum Primitiven, zu einem modernen Barbaren macht. (S.233) [...] Die direkte Folge des einseitigen Spezialistentums ist es, daß heute, obwohl es mehr "Gelehrte" gibt als je, die Anzahl der "Gebildeten" viel kleiner ist als zum Beispiel um 1750." (S.237)
"Erhebt die Masse Anspruch auf selbständiges Handeln, so steht sie gegen ihr eigenes Schicksal auf; da es eben dies ist, was sie jetzt tut, spreche ich vom Aufstand der Massen." (S.239 Hervorhebungen von mir)
Für den Menschen, der sich in einer Welt des Überflusses eingerichtet hat, findet Gasset die Formel vom zufriedenen jungen Herrn und fährt fort: "Die Leute erklären sich lächerlicherweise für jung, weil sie gehört haben, daß die Jugend mehr Rechte als Pflichten besitzt; (S.302) [...]
Dem Massenmenschen geht die Sittlichkeit schlechtweg ab; [...] das ist nicht Amoral, sondern Unmoral. [...} Europa [...] hat sich vorbehaltlos einer glänzenden, aber wurzellosen Kultur verschrieben. (S.303)

(Der Aufstand der Massen, 1929, deutsch 1936)

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