Aus dem Zimmer, in welchem Nikolai schlief, ertönte sein gleichmäßiges Atmen, das seine Frau bis in die kleinsten Nuancen kannte. Während sie so sein Atmen hörte, glaubte sie seine glatte, schöne Stirn vor sich zu sehen und seinen Schnurrbart und sein ganzes Gesicht, das sie so oft in der Stille der Nacht, wenn er schlief, lange betrachtet hatte. Plötzlich regte sich Nikolai und räusperte sich. Und in demselben Augenblick rief der kleine Andrei durch die ein wenig geöffnete Tür: »Papachen, hier steht Mamachen!« Gräfin Marja wurde blaß vor Schreck und machte dem Knaben ein Zeichen, daß er still sein solle. Er schwieg, und dieses für Gräfin Marja furchtbare Schweigen dauerte ungefähr eine Minute. Sie wußte, wie unangenehm es ihrem Mann war, wenn man ihn weckte. Da ließ sich hinter der Tür ein neues Räuspern und eine Bewegung vernehmen, und Nikolais Stimme sagte in mißvergnügtem Ton:
»Nicht eine Minute Ruhe wird einem gegönnt. Bist du da, Marja? Warum hast du ihn denn hergebracht?«
»Ich war nur hergekommen, um nachzusehen ... Ich hatte nicht bemerkt, daß er ... Verzeih ...«
Nikolai hustete eine Weile und schwieg. Gräfin Marja ging von der Tür weg und führte ihr Söhnchen nach dem Kinderzimmer. Fünf Minuten darauf lief die kleine, schwarzäugige, dreijährige Natascha, des Vaters Liebling, die von ihrem Bruder gehört hatte, Papa schlafe und Mama sei im Sofazimmer, zu dem Vater hin, ohne daß die Mutter es merkte. Die schwarzäugige Kleine knarrte dreist mit der Tür, ging auf ihren dicken Beinchen mit energischen, kleinen Schritten zum Sofa hin, und nachdem sie die Lage des Vaters betrachtet hatte, der, ihr den Rücken zuwendend, schlief, hob sie sich auf den Zehen in die Höhe und küßte die Hand des Vaters, die unter seinem Kopf lag. Nikolai drehte sich um; sein Gesicht zeigte ein Lächeln liebevoller Zärtlichkeit.
»Natascha, Natascha!« flüsterte Gräfin Marja erschrocken von der Tür her. »Papachen will schlafen.«
»Nein, Mama, er will nicht schlafen«, antwortete die kleine Natascha im Ton fester Überzeugung. »Er lacht ja.«
Nikolai nahm die Beine vom Sofa herunter, richtete sich auf und nahm sein Töchterchen auf den Arm.
»Komm doch herein, Marja«, sagte er zu seiner Frau.
Gräfin Marja kam ins Zimmer und setzte sich neben ihren Mann.
»Ich hatte vorhin gar nicht bemerkt, daß Andrei hinter mir herlief«, sagte sie schüchtern. »Ich war nur so ohne eigentlichen Zweck hergekommen.«
Nikolai, der auf dem einen Arm seine Tochter hielt, blickte seine Frau an, und als er auf ihrem Gesicht einen Ausdruck von Schuldbewußtsein wahrnahm, umschlang er sie mit dem andern Arm und küßte ihn auf das Haar.
»Darf ich Mama küssen?« fragte er Natascha.
Natascha lächelte verschämt.
»Noch mal!« sagte sie mit befehlender Gebärde und zeigte auf die Stelle, wo Nikolai seine Frau geküßt hatte.
»Ich weiß nicht, weswegen du meinst, daß ich schlechter Laune wäre«, sagte Nikolai als Antwort auf die Frage, die, wie er wußte, seine Frau innerlich beschäftigte.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglücklich und vereinsamt ich mir vorkomme, wenn du so bist. Ich denke immer ...«
»Marja, hört auf, das sind ja Torheiten. Schämen solltest du dich«, sagte er heiter.
(Tolstoi: Krieg und Frieden, Epilog)
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