03 Juli 2014

Der "Knabe" Erwin

Graf Friedrich, der Protagonist des Romans Ahnung und Gegenwart von Joseph von Eichendorff reist in Begleitung des "Knaben" Erwin.
Friedrich küßte den begeisterten Knaben auf die Stirn. Da fiel er ihm um den Hals und küßte ihn heftig, mit beiden Armen ihn fest umklammernd. Voll Erstaunen machte sich Friedrich nur mit Mühe aus seinen Armen los, es war etwas ungewöhnlich Verändertes in seinem Gesichte, eine seltsame Lust in seinen Küssen, seine Lippen brannten, das Herz schlug fast hörbar, er hatte ihn noch niemals so gesehen. Der Bediente trat eben ein, um Friedrich auszukleiden. Erwin war verschwunden. Friedrich hörte, wie er darauf in seiner Stube sang: 
Es weiß und rät es doch keiner, 
Wie mir so wohl ist, so wohl! 
Ach, wüßt' es nur einer, nur einer, 
Kein Mensch sonst es wissen sollt'! 
So still ist's nicht draußen im Schnee, 
So stumm und verschwiegen sind 
Die Sterne nicht in der Höhe, 
Als meine Gedanken sind. 
Ich wünscht', es wäre schon Morgen, 
Da fliegen zwei Lerchen auf, 
Die überfliegen einander, 
Mein Herze folgt ihrem Lauf: 
Ich wünscht', ich wäre ein Vöglein 
Und zöge über das Meer, 
Wohl über das Meer und weiter, 
Bis daß ich im Himmel wär'! [...]

Als Friedrich des Abends an Erwins Tür kam, hörte er ihn drin nach einer rührenden Melodie ohne alle Begleitung eines Instruments folgende Worte singen: 

Ich kann wohl manchmal singen, 

Als ob ich fröhlich sei, 
Doch heimlich Tränen dringen, 
Da wird das Herz mir frei. 
So lassen Nachtigallen, 
Spielt draußen Frühlingsluft,
Der Sehnsucht Lied erschallen 
Aus ihres Käfigts Gruft. 
Da lauschen alle Herzen, 
Und alles ist erfreut, 
Doch keiner fühlt die Schmerzen, 
Im Lied das tiefe Leid. 

Friedrich trat während der letzten Strophe unbemerkt in die Stube. Der Knabe ruhte auf dem Bette, und sang so liegend mit geschlossenen Augen. 
Er richtete sich schnell auf, als er Friedrich erblickte. »Ich bin nicht krank«, sagte er, »gewiß nicht!« – damit sprang er auf. Er war sehr blaß. Er zwang sich, munter zu scheinen, lachte und sprach mehr und lustiger, als gewöhnlich. Dann klagte er über Kopfweh. – Friedrich strich ihm die nußbraunen Locken aus den Augen. »Tu nicht schön mit mir, ich bitte dich!« – sagte der Knabe da, sonderbar und wie mit verhaltenen Tränen.
[...]
Friedrich schaute still in die Nacht, Erwin ihm gegenüber hatte die Augen weit offen, die unausgesetzt, solange es dunkel war, auf ihn geheftet schienen, der Postillon blies oft dazwischen. [...]

Die zwei Jäger hatten sich nicht weit von ihnen um einen Tisch gelagert, der auf dem grünen Platze zwischen den Häusern und dem Rheine aufgeschlagen war, und schäkerten mit den Mädchen, denen sie gar wohl zu gefallen schienen. Die Mädchen verfertigten schnell einen fröhlichen, übervollen Kranz von hellroten Rosen, den sie dem einen, welcher der lustigste schien, auf die Stirn drückten. Leontin, der wenig darauf achtgab, begann folgendes Lied über ein am Rheine bekanntes Märchen:

»Es ist schon spät, es wird schon kalt,
Was reitst du einsam durch den Wald?
Der Wald ist lang, du bist allein,
Du schöne Braut! ich führ dich heim!«

Da antwortete der Bekränzte drüben vom andern Tische mit der folgenden Strophe des Liedes:

»Groß ist der Männer Trug und List,
Vor Schmerz mein Herz gebrochen ist,
Wohl irrt das Waldhorn her und hin,
O flieh! du weißt nicht, wer ich bin.«

Leontin stutzte und sang weiter:

»So reich geschmückt ist Roß und Weib,
So wunderschön der junge Leib,
Jetzt kenn ich dich – Gott steh mir bei!
Du bist die Hexe Lorelei.«

Der Jäger antwortete wieder:

»Du kennst mich wohl – von hohem Stein,
Schaut still mein Schloß tief in den Rhein.
Es ist schon spät, es wird schon kalt,
Kommst nimmermehr aus diesem Wald!«

Der Jäger nahm nun ein Glas, kam auf sie los und trank Friedrich keck zu: »Unsere Schönen sollen leben!« Friedrich stieß mit an. Da zersprang der Römer des Jägers klingend an dem seinigen. Der Jäger erblaßte und schleuderte das Glas in den Rhein. – [...]

 Der eine gesprächige Jäger sagte, es fiele ihm dabei eben ein Lied ein, und sang zu den beiden Grafen mit einer angenehmen Stimme:

»Wir sind so tief betrübt, wenn wir auch scherzen,
Die armen Menschen mühn sich ab und reisen,
Die Welt zieht ernst und streng in ihren Gleisen,
Ein feuchter Wind verlöscht die lust'gen Kerzen. –

Du hast so schöne Worte tief im Herzen,
Du weißt so wunderbare alte Weisen,
Und wie die Stern am Firmamente kreisen,
Ziehn durch die Brust dir ewig Lust und Schmerzen.

So laß dein Stimme hell im Wald erscheinen!
Das Waldhorn fromm wird auf und nieder wehen,
Die Wasser gehn, und Rehe einsam weiden.

Wir wollen stille sitzen und nicht weinen,
Wir wollen in den Rhein hinuntersehen,
Und, wird es finster auf der Welt, nicht scheiden.«

Kaum hatte er die letzten Worte ausgesungen, als Erwin, der durch den Gesang aufgewacht war und bei einem langen Blitze das Gesicht des andern stillen Jägers plötzlich dicht vor sich erblickte, mit einem lauten Schrei aufsprang und sich in demselben Augenblicke über den Kahn in den Rhein stürzte. Die beiden Jäger schrieen entsetzlich, der Knabe aber schwamm wie ein Fisch durch den Strom und war schnell hinter dem Gesträuch am Ufer verschwunden.
Leontin lenkte sogleich ihm nach ans Ufer und alle eilten verwundert und bestürzt ans Land. Sie fanden sein Tuch zerrissen an den Sträuchern hängen; es war fast unbegreiflich, wie er durch dieses Dickicht sich hindurchgearbeitet.

Friedrich und Leontin begaben sich in verschiedenen Richtungen ins Gebirge, sie durchkletterten alle Felsen und Schluchten und riefen nach allen Seiten hin. Aber alles blieb nächtlich still, nur der Wald rauschte einförmig fort. Nach langem Suchen kamen sie endlich müde beide wieder auf der Höhe über ihrem Landungsplatze zusammen. Der Kahn stand noch am Ufer, die beiden Jäger aber unten waren verschwunden. Der Rhein rauschte prächtig funkelnd in der Morgensonne zwischen den Bergen hin. Erwin kehrte nicht mehr zurück.

Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, 2. Buch 14. Kapitel und 15. Kapitel

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