29 September 2015

Kindheit

Kindheit

Da rinnt der Schule lange Angst und Zeit 
mit Warten hin, mit lauter dumpfen Dingen. 
O Einsamkeit, o schweres Zeitverbringen... 
Und dann hinaus: die Straßen sprühn und klingen 
und auf den Plätzen die Fontänen springen 
und in den Gärten wird die Welt so weit -. 
Und durch das alles gehn im kleinen Kleid, 
ganz anders als die andern gehn und gingen -: 
O wunderliche Zeit, o Zeitverbringen, 
o Einsamkeit. 

Und in das alles fern hinauszuschauen: 
Männer und Frauen; Männer, Männer, Frauen 
und Kinder, welche anders sind und bunt; 
und da ein Haus und dann und wann ein Hund 
und Schrecken lautlos wechselnd mit Vertrauen -: 
O Trauer ohne Sinn, o Traum, o Grauen, 
o Tiefe ohne Grund. 

Und so zu spielen: Ball und Ring und Reifen 
in einem Garten, welcher sanft verblaßt, 
und manchmal die Erwachsenen zu streifen, 
blind und verwildert in des Haschens Hast, 
aber am Abend still, mit kleinen steifen 
Schritten nachhaus zu gehn, fest angefaßt -: 
O immer mehr entweichendes Begreifen, 
o Angst, o Last. 

Und stundenlang am großen grauen Teiche 
mit einem kleinen Segelschiff zu knien; 
es zu vergessen, weil noch andre, gleiche 
und schönere Segel durch die Ringe ziehn, 
und denken müssen an das kleine bleiche 
Gesicht, das sinkend aus dem Teiche schien -: 
O Kindheit, o entgleitende Vergleiche. 
Wohin? Wohin? 

Aus: Das Buch der Bilder

(Rainer Maria Rilke)

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