"Du hast eine schöne Rede gehalten, Hippias; deine Beobachtungen sind sehr fein, deine Schlüsse sehr bündig, deine Maximen sehr praktisch, und ich zweifle nicht, daß der Weg, den du mir vorgezeichnet hast, zu der Glückseligkeit würklich führe, deren Vorzüge vor meiner Art glücklich zu sein, du in ein so helles Licht gesetzt. Dem ungeachtet empfinde ich nicht die mindeste Lust so glücklich zu sein, und wenn ich mich anders recht kenne, so werde ich schwerlich eher ein Sophist werden, bis du deine Tänzerinnen entlässest, dein Haus zu einem öffentlichen Tempel der Diana widmest, und nach Indien ziehst, ein Bramine zu werden." Hippias lachte über diese Antwort, ohne daß sie ihm desto besser gefiel. "Und was hast du gegen mein System einzuwenden?" fragte er. "Daß es mich nicht überzeugt", erwiderte Agathon. "Und warum nicht?" "Weil meine Erfahrung und Empfindung deinen Schlüssen widerspricht." [...]
"Warum quälest du dich dann, dir ein Vergnügen zu versagen, das in deiner Gewalt ist." "Weil ich mich dadurch vieler andern Vergnügen berauben würde, die ich höher schätze." [...]
"Das Vergnügen eine gute Handlung zu tun." "Was nennest du eine gute Handlung?" "Eine Handlung, wodurch ich, mit einiger Anstrengung meiner Kräfte, oder Aufopferung eines Vorteils oder Vergnügens, andrer Bestes befördere." "Du bist also töricht genug zu glauben, daß du andern mehr schuldig seiest, als dir selbst?" "Das nicht; sondern ich finde für gut, ein geringeres Vergnügen dem größern aufzuopfern, welches ich alsdann genieße, wenn ich das Glück meiner Nebengeschöpfe befördern kann." [...]
"O Hippias!" rief Agathon hier aus, "ich habe dich, wohin ich dich bringen wollte. Du siehest die Folgen deiner Grundsätze. Wenn alles an sich selbst recht ist, was meine Begierden wollen; wenn die ausschweifenden Forderungen der Leidenschaft unter dem Namen des Nützlichen, den sie nicht verdienen, die einzige Richtschnur unsrer Handlungen sind; wenn die Gesetze nur mit einer guten Art ausgewichen werden müssen, und im Dunkeln alles erlaubt ist; wenn die Tugend, und die Hoffnungen der Tugend nur Schimären sind; was hindert die Kinder, sich wider ihre Eltern zu verschwören? Was hindert die Mutter, sich selbst und ihre Tochter dem meistbietenden Preis zu geben? Was hindert mich, wenn ich dadurch gewinnen kann, den Dolch in die Brust meines Freundes zu stoßen, die Tempel der Götter zu berauben, mein Vaterland zu verraten, oder mich an die Spitze einer Räuberbande zu stellen; und, wenn ich anders Macht genug habe, ganze Länder zu verwüsten, ganze Völker in ihrem Blute zu ertränken? Siehest du nicht, daß deine Grundsätze, die du so unverschämt Weisheit nennest, und durch eine künstliche Vermischung des Wahren mit dem Falschen scheinbar zu machen suchst, wenn sie allgemein würden, die Menschen in weit ärgere Ungeheuer, als Hyänen, Tyger und Krokodille sind, verwandeln würden? [...]"
Hippias ist erstaunt:
"ich habe mehr als vierzig Jahre in der Welt gelebt, und unter einer unendlichen Menge von Menschen von allen Ständen und Klassen, nicht einen einzigen angetroffen, der meine Begriffe von der menschlichen Natur nicht bestätiget hätte, und dieser junge Mensch sollte mich noch an die Tugend glauben lehren? Es kann nicht sein; er ist ein Phantast oder ein Heuchler. [...]"
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