"[...] Die sechs Bände, die im Original Min Kamp ("Mein Kampf") heißen und nummeriert sind, heißen auf Deutsch Sterben, Lieben, Spielen, Leben, Träumen und Kämpfen. [...]
Dieser dickste Band ist der Gipfel von allem. Er bietet eine Spiegelung der Selbstbespiegelung, eine skrupulöse Rückschau, und das Fazit ist ernüchternd: "Will man in die Wirklichkeit eindringen, wie sie für den Einzelnen ist – und irgendeine andere Wirklichkeit gibt es nicht –, will man es wirklich, dann kann man keine Rücksicht nehmen. Und das tut weh. Es schmerzt, wenn keine Rücksicht genommen wird, und es schmerzt, keine Rücksicht zu nehmen. Dieser Roman hat allen in meiner Umgebung wehgetan, und er hat mir wehgetan, und in einigen Jahren, wenn sie groß genug sind, um ihn zu lesen, wird er meinen Kindern wehtun. Hätte ich ihn noch schmerzhafter werden lassen, wäre er noch wahrer geworden. Es war ein Experiment, und es ist missglückt, denn ich habe niemals auch nur annähernd gesagt, was ich eigentlich meine, und beschrieben, was ich eigentlich gesehen habe."
Im ersten Band hatte Knausgård unter anderem erzählt, wie er und sein Bruder die Leiche des Vaters, der am Suff gestorben war, im verwahrlosten Haus der dementen Großmutter entdeckten. Jetzt berichtet er, wie er den Text vor seiner Drucklegung an Freunde und Verwandte schickt und wie sie reagieren; darunter Hanne, eine Liebe aus Schülertagen. Er telefoniert mit ihr. Sie ist einverstanden, doch beim Plaudern merkt er, dass sie sich an verschiedene Dinge erinnern: "Ich erinnerte mich an ein paar Episoden extrem gut. Doch gab es andere, die mir nur vage im Gedächtnis geblieben waren. Denen hatte ich beim Schreiben zu einer Form verholfen. Indem ich zum Beispiel Dialoge erfunden hatte, die eventuell wahrscheinlich, aber nicht wahr waren." Zu einer Form verhelfen: Das ist Knausgårds Methode. Denn er plündert ja nicht bloß das Leben der anderen, er dramatisiert und rhythmisiert es. Seine Autobiografie ist ein Roman, also fiktiv. Aber er lebt vom Authentischen, er ist ein Zwitter. Dieses Zwittrige erweist sich nun als Problem. [...]
Knausgård hält in diesem Buch Gerichtstag über sich selbst. Er begründet seine Poetik des Autobiografischen – und er bezweifelt sie. In der Erzählung Wunschloses Unglück, mit der Peter Handke seiner Mutter, die sich umgebracht hat, ein Denkmal setzt, erblickt Knausgård "ein Buch, in dem sie nicht präsentiert, sondern nur über sie referiert wird". Nicht die diskrete Distanz Handkes ist sein Ziel, sondern das Unmittelbare und Wiedererkennbare. Deshalb ist es ihm so wichtig, die Namen zu nennen. Nur wer einen Namen hat, ist ein Individuum.
Beim Nachdenken darüber fallen ihm Verse von Paul Celan ein: "Der Ort, wo sie lagen, er hat / einen Namen – er hat / keinen. Sie lagen nicht dort." Die Zeilen stehen in Celans längstem Gedicht Engführung (1958). Was jetzt beginnt, ist – wie soll man es nennen: verrückt, großartig? Denn Knausgård interpretiert dieses Gedicht mit einer geradezu verzweifelten Ausführlichkeit. Er will herauskriegen, was es bedeutet. Er will wissen, wie es zu Auschwitz kam, zu einem System, das den Namen annullierte und an seine Stelle das "Wir" setzte. Das Individuum hatte keine Bedeutung mehr. [...]
Er sieht den neunstündigen FilmShoah von Claude Lanzmann, und am Ende resümiert er: "Ich halte es für richtig zu sagen, dass alles, was damals geschah, eben nicht unmenschlich, sondern menschlich war, und dass es gerade deshalb so schrecklich und so eng, ganz eng mit uns selbst und unserem Leben verbunden ist, [...]
Man sieht die drei Kinder leibhaftig vor sich, und selbst noch die panische Suche am Morgen nach passenden Socken für den Jüngsten, der in den Kindergarten zu bringen ist, verfolgt man mit Neugier. Am Ende beschreibt er einen manisch-depressiven Anfall seiner geliebten Frau. Das ist erschütternd zu lesen, obgleich es etwas Ausbeuterisches hat. Der letzte Satz, er werde so etwas ihr und den Kindern nie wieder antun, ist ein Gelöbnis. [...]
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