23 August 2017

Wieland: Zur Beurteilung des Sultans Azor (in: Der goldene Spiegel)

"Azor war weder ehrgeizig noch begierig nach dem Eigentum seiner Untertanen, weder launisch, noch hartherzig, noch grausam. Weit entfernt zu verlangen, daß seine unüberlegtesten Einfälle für Gesetze und Göttersprüche gelten sollten, oder, wie viele seines Standes, sich einzubilden, daß Scheschian bloß um seinetwillen aus dem Chaos hervorgegangen sei, und seine Untertanen für eben so viele Sklaven anzusehen, deren Glück oder Unglück, Sein oder Nichtsein, nur in so fern als es sich auf seinen Vorteil beziehe, in Betrachtung komme, – war er der leutseligste, der mitleidigste und wohltätigste Fürst seiner Zeit. Unwissenheit in den Pflichten seines Standes, Unwissenheit in der Kunst zu regieren, wollüstige Trägheit, und allzu großes Vertrauen zu seinen Günstlingen, die er als seine Wohltäter ansah, weil sie ihm die Last der Regierung abnahmen, Fehler der Erziehung, Schwachheiten des Herzens und des Temperaments, nicht Laster waren es,die ihm die Liebe seiner Völker und die Hochachtung der Nachwelt entzogen haben. Seine größten Fehler waren, daß er mit eignen Augen bloß durch fremde sah; daß seine Ohren nur angenehme Dinge hören wollten; daß er nur sprach was man ihm auf die Zunge legte; und, wenn er auch, entweder durch die natürliche Schärfe seines Geistes, oder durch die Bemühungen irgend eines ehrlichen Narren, der seinen Kopf wagte ihm die Augen zu öffnen, zuweilen eine gute Entschließung faßte, – zu viel Mißtrauen gegen seine eigenen Einsichten und zu viel Gefälligkeit für seine Günstlinge hatte, um seiner Entschließung treu zu bleiben. Indessen muß man gestehen, daß auch das Schicksal nicht ohne alle Schuld an den Fehlern seiner Regierung war. Die Gebrechen und Untugenden Azors würden wenig geschadet haben, wenn es lauter weise und tugendhafte Personen um ihn her versammelt hätte. Er würde solche Leute, wenn sie übrigens eben so witzig und unterhaltend gewesen wären als seine Günstlinge, eben so wert gehalten haben, sich ihnen eben so gänzlich überlassen haben, und Scheschian würde glücklich gewesen sein. Aber freilich zeigt uns die Geschichte des ganzen Erdkreises kein einziges Beispiel, daß ein schwacher und untätiger Fürst, durch einen Schlag mit einer Zauberrute, bei seinem Erwachen auf einmal von lauter Walsinghams und Süllys umgeben gewesen wäre, und wir sind wohl nicht berechtigt, ein solches Wunder vom Schicksal zu erwarten.«" (Wieland: Der goldene Spiegel 1. Teil 11. Kapitel)

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