"Was sollen wir tun, damit die äußerste Verfeinerung der Künste, des Geschmacks, der Leidenschaften, der Sitten und der Lebensart, mit Einem Worte, der Luxus, einer großen Nation so wenig als möglich schade? – Die Natur, Madam, zeigt uns gegen jedes Übel, dem sie uns unterwürfig gemacht hat, auch ein zulängliches Mittel. Sollte es in diesem Fall anders sein? Ich denke, nein. Wenn wir den größten und nützlichsten, folglich den wichtigsten Teil der Nation vor der Ansteckung bewahren können, so haben wir sehr viel, und in der Tat alles getan, was man von einer[76] weisen Regierung fodern kann. Zu gutem Glücke ist nichts leichter. Der größte Teil der Nation von Scheschian ist derjenige, der zum Ackerbau und zur Landwirtschaft bestimmt ist. Die Natur selbst, in deren Schoß er lebt, erleichtert uns die Mühe unendlich; wir haben beinahe nichts zu tun, als ihr nicht vorsetzlich entgegen zu arbeiten. Lassen Sie diese guten Leute ihres Daseins froh werden. Geben Sie nicht zu, daß sich alle übrige Stände unter unzähligen Vorwänden vereinigen, sie auszurauben und zu unterdrücken; daß das unersättliche Geschlecht der Pachter und Einzieher der königlichen Einkünfte, daß Beamte, Richter, Prokuratoren und Sachwalter, Edelleute, Bonzen und Bettler, so unbescheiden und unbarmherzig an ihnen saugen, bis ihnen nur die Haut auf den Knochen übrig bleibt. Lassen Sie dieser unentbehrlichsten und unschuldigsten Klasse von Menschen so viel von den Früchten ihrer Arbeit, daß sie mit frohem Mut arbeiten, daß sie Zeit zur Ruhe, Zeit zu ihren ländlichen Festen und Ergetzungen übrig haben. Wenn allzu großer Überfluß auch diesem Stande, wie allen übrigen, schädlich ist: so lassen Sie uns nicht vergessen, daß zu wenige oder ungesunde Nahrung, daß Mangel an aller Gemächlichkeit, daß Nacktheit, Kummer und Elend ihm ungleich verderblicher sind. Stimmen wir immer die Glückseligkeit unsers Landvolkes um etliche Grade tiefer herab als die Glückseligkeit der Kinder der Natur war; aber lassen wir ihnen so viel, daß es ihnen, ohne alles natürliche Gefühl verloren zu haben, möglich sei mit ihrem Zustande zufrieden zu sein. Unter uns gesagt, schöne Lili, das sind wir ihnen schuldig, in einem unendliche Mal verbindlichern Grade schuldig, als wir es sind unsre Spielschulden zu bezahlen. Aber wenn dies auch nicht wäre, so sind wir es dem Staate, dem ganzen Scheschian schuldig. Denn es gibt kein anderes Mittel (ich fordre alle Ihre Staatskünstler, Goldmacher und Projektmacher heraus, mir ein andres zu nennen), den allgemeinen Wohlstand eines großen Reiches auf einen festen Grund zu setzen als dieses. Wenn das Landvolk Ursache hat zufrieden zu sein, so verlassen Sie Sich wegen des übrigen auf die Zauberei der Natur. Sie hat für unverdorbene Sinne Reizungen, deren Macht unsern ausgearteten unbegreiflich ist. [...]
Sie sehen, schöne Lili, wie wenig das Glück der zwei besten Dritteile von Scheschians Einwohnern dem Sultan unserm Herrn kosten wird. Ich verlange nichts für sie, als Sicherheit bei ihrem Eigentum, und Schutz vor Unterdrückung; die Natur hat alles übrige auf sich genommen. [...]
Die Vorteile davon werden sich auf mehr als Eine Weise auch über den angesteckten Teil verbreiten. Von Zeit zu Zeit werden unsre Großen, werden die reichen und üppigen Bewohner der Hauptstädte, von Überdruß, langer Weile, und von der Notwendigkeit eine abgenützte Gesundheit auszubessern, aufs Land geführt werden; unvermerkt werden sie Geschmack an den einfältigen, aber mit der menschlichen Natur so fein zusammen gestimmten Freuden des Landlebens gewinnen; unvermerkt werden sie eine Menge von Vorurteilen und die dicke Haut der Fühllosigkeit, die sich gleichsam um ihr Herz gezogen hatte, abstreifen; sie werden sich mit neuen Bildern und nützlichen Wahrnehmungen bereichert sehen, [...]
Noch mehr. Die Natur ist fruchtbar. Das Landvolk, sobald es nach seiner Weise glücklich ist, vermehrt sich ins unendliche. Das Land wird eine unerschöpfliche Quelle, woraus die Städte (und bei Gelegenheit vielleicht auch der Adel) mit gesundem frischem Blute wieder angeschwellt werden, welches den Staat in immer währender Jugend und Stärke erhält. Aus den jungen Schwärmen, welche diese Bienenstöcke ausstoßen, werden sich die übrigen Stände ergänzen, und so werden die Verheerungen, die der Luxus anrichtet, beinahe unmerklich bleiben." (Wieland: Der goldene Spiegel 1. Teil 6. Kapitel)
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