13 August 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Nach Breslau

Einundzwanzigstes Kapitel
"[...] Quint selber, nachdem er das Forsthaus verlassen hatte, trat an jenem Abend mit seinen Jüngern jene lange Wanderung an, die, wenn irgend etwas in seinem Leben, eine gewisse Denkwürdigkeit auszeichnet. Er sagte den ungeduldigen Bürgern des kommenden Tausendjährigen Reichs, die ihn eigentlich in die Bahn seines Schicksal hineingedrängt hatten, er sagte ihnen zum Anbeginn, wie es nun seine Hoffnung wäre, daß sie sich bis zu dem Tage, wo alles geschehen würde, was er voraussehe, nicht mehr trennen würden. Er fuhr fort, sie zu streicheln, abwechselnd jedem im Gehen die Hände zu reichen und sie zu liebkosen. Nach einiger Zeit begann eine milde, unerhört reine und ruhighelle Vollmondnacht. Da ersuchte er seine Anhänger, sie möchten ihm immer von jetzt ab, sofern er nichts anderes bestimme, im Gehen eines Steinwurfs Weite den Vorsprung lassen. Und so geschah es. Er blieb ihnen, einsam, meist in dieser Entfernung voran. Sooft er stillstand, blieben auch seine Jünger stehen, wie denn überhaupt von nun an ein Gehorsam bis zur Unmündigkeit ihr Glück und ihre Genugtuung ward. In ihrer Ordnung waren sie bis in die Nähe des Miltzscher Schlosses gelangt, dessen erleuchtete Bibliothek samt dem Speisesaal – da die Gurauer Dame gekommen war – mit vielen hohen Fenstern durch die Bäume des Parkes schimmerte. Ungesehen und unbemerkt zog der ehemalige Günstling und Narr in Christo, Emanuel Quint, durch die verlassenen Wege des Parkes längs des stillen Sees, in dem er zu baden pflegte, dahin. Schweigend folgten ihm seine Begleiter. Da sahen sie, wie er stillestand und wie ein Schwan und nachher ein zweiter, glänzend weiß, aus dem dunklen Teile der Spiegelfläche in jenen hellen, darin sich der Mond und der Himmel spiegelte, zu ihrem Meister herübergerudert kam. Sie sahen, wie er die Tiere fütterte. Quint winkte den Brüdern und sagte halblaut: »Sie wissen noch nicht, daß ich geächtet bin. Aber des Menschen Sohn«, fuhr er fort, »war von jeher von seinen Brüdern und Schwestern verachtet und von seinen Nächsten verfolgt. Er muß auch jetzt noch verachtet, geknechtet und geächtet sein.« Furchtlos ging er mit seinen Jüngern an dem von Stimmengewirr erfüllten Schlosse vorbei, durch ein Mauerpförtchen in das Bereich des Nutzgartens hinein, wo ein unendlich langer, schnurgerader Weg durch verpackte Rosenstöcke, Johannisbeersträucher und gedüngte Beete führte, der im Mondschein gleißend vor ihm und den ängstlich flüsternden, leise tretenden Jüngern lag. Diese sahen nach einiger Zeit, wie Emanuel wiederum stehenblieb und lange nach einem von Efeu dicht übersponnenen Giebel blickte, aber es war nicht die Seite des Hauses, darin sein eigenes Zimmer, sondern die andere, in der Ruth Heidebrands kleines, reinlich gehaltenes Gemach gelegen war. Die Jünger hörten den Meister aufseufzen.  [...]
Der Pfarrer sprach: »Was meinst du damit? Ich verstehe dich nicht.« Quint dagegen: »Ehe man nicht in eure Folterkammern Gottes die Brandfackeln werfen wird, so daß sie vertilgt werden von der Erde, bis man die Stätte nicht mehr erkennt, wo sie gestanden haben, werdet ihr Gott täglich hinrichten.« »Mein Sohn«, sprach der Pfarrer mit halber Stimme, »solche Gedanken sind nicht bloß närrisch: sie sind verbrecherisch.« »Aber es muß die Zeit kommen«, fuhr der Tor in Christo mit Härte fort, »wo man Gott weder auf diesem noch auf jenem Hügel, weder auf diesem noch auf jenem Berge, noch in diesem oder in jenem Hause, noch in dieser oder in jener Kirche, weder in dieser Kathedrale noch in jenem Dom anbeten wird, sondern allein im Geist und in der Wahrheit.« [...]
Mit diesen Worten fiel im Dunkel des Raumes ein Geräusch vieler harter Schläge zusammen, deren Ursache, wie sie bald von einem stürzenden Gefäß, dem Geklirr eines auf die Steinfliesen fallenden Metalleuchters und dem Klingklang von Porzellan und Glasscherben begleitet wurden, dem Pfarrer so wenig wie den Begleitern Quints sogleich deutlich ward. Dann freilich war nicht mehr zu verkennen, daß der persönliche Wahn des Narren einen tobsuchtartigen Ausbruch genommen hatte und er mit seinem derben Schäfer- oder Gartenstock wie rasend unter die heiligen Gegenstände auf den Altären schlug. »Mensch, hebe dich weg«, schrie der Pfarrer, sprang hinzu und suchte die Arme des Tobenden festzuhalten. »Fluch über dich! der du ein entsetzlicher, gottverworfener Kirchenschänder bist!« »Ich bin Christus!« schrie dagegen Emanuel laut, ja gewaltig, so daß es von allen Gewölben widerklang. »Ich sage dir« – und er schlug mit einem mächtigen Schlage das Standkreuz des Hauptaltars herunter –, »dies ist kein Bethaus, sondern es ist eine Mördergrube!« Jetzt hatte der Pfarrer, hatten die Jünger den wütenden Schwärmer und Bilderstürmer angepackt, und nachdem im Dunkel der hallenden Kirche ein längeres, stummes Ringen sein Ende erreicht hatte, schien auch der Kirchenschänder gesättigt zu sein. »Geh! Laß dich nie wieder blicken! Geh! Du bist vom höllischen Dämon besessen! Geh! Gott straft mich durch dich! Geh! Ich befehle es dir!« Diese Worte des Pfarrers, mit starker, befehlender Stimme gesprochen, duldeten keinen Widerspruch. Quint sagte: »Kommt!« und ging, hochatmend, starken Schritts, mit den Seinen davon. [...]"

Dreiundzwanzigstes Kapitel
"[...] Dominik war ein Mensch von bewunderungswürdigen, vielfältigen Anlagen und von einer für sein Alter staunenswerten Gelehrsamkeit und Belesenheit. Er besaß einen Reichtum an Kenntnissen aus der Naturwissenschaft. [...]
Als ob er im Innersten zu ihr gehöre, schloß er sich der einstigen Romantischen Schule an. Er liebte Novalis, der das Wort gesagt hatte: »Deutschheit ist echte Popularität.« Er liebte die ganze Gruppe, weil ihr freies und kühnes Denken nicht in Rationalismus versandete, sondern das Mysterium des Daseins fortgesetzt als solches erkannte und bestehen ließ. Dieser Jüngling vereinigte den Geist und Stolz freier Forschung mit der mystischen Inbrunst eines mehr katholischen Christentums, das ihn mit einem weichen, sehnsuchtsvollen Lyrismus erfüllte. Sein Lieblingsdichter außer Novalis war Hölderlin. Nicht nur sprach er in stillen Stunden gern dieses und jenes seiner Gedichte aus dem Kopfe vor, sondern er führte auch den »Hyperion« in einem zerlesenen Exemplar fast stets in der Tasche. [...]
Was Dominik an Emanuel fesselte, wird vielleicht nach alledem einigermaßen begreiflich sein. Entscheidend für die neuentstandene Abhängigkeit des jungen Genies war natürlich vor allem der Eindruck, den Quintens ganze Erscheinung hervorbrachte. War ihm schon der platteste und gewöhnlichste Mensch ein Mysterium, wieviel mehr dieser Quint, dessen geheimen Anspruch er kannte. So stürzte er sich mit einer vielleicht mehr künstlerischen als blindgläubigen Sucht in die verwirrende Atmosphäre um Quint hinein. Aber es war dabei ein bewußtes, entschlossenes Wollen in ihm, weil er spürte, daß der Weg des Meisters, den er gefunden hatte, dorthin ging, von wo auch ihm die größte Lockung der Ruhe oder des Paradieses ausstrahlte. Dieser, wie er ihn bereitwillig und aus Überzeugung nannte, heilige Mensch war, wie er selber, gleichsam nur verirrt in die Welt. Seht – der Fremdling ist hier – der aus demselben Land sich verbannt fühlt wie ihr; traurige Stunden sind ihm geworden – es neigte früh der fröhliche Tag sich ihm ... Bleibt dem Fremdlinge hold – spärliche Freuden sind ihm hienieden gezählt – doch bei so freundlichen Menschen sieht er geduldig nach dem großen Geburtstag hin. Im Umgang mit Dominik zeigte Quint seltsamerweise eine wie ein Ausruhen wirkende, ungeschraubte Schlichtheit und menschliche Einfachheit. Zwischen beiden, schien es, war, ohne jede Verhandlung, stillschweigend ein fester Pakt geschlossen. Es herrschte eine fast magische Einigkeit. Dominik, der, über einem verrufenen Lokal, bei Bahnschaffnersleuten in Schlafstelle war – wo er ein Kruzifix über dem Bett angebracht und ein anderes auf sein Nachttischchen gestellt hatte –, beschäftigte sich trotzdem nicht viel mit der Heiligen Schrift, und es wurde auch zwischen ihm und Quint kaum je eine Bibelstelle besprochen, ja überhaupt nur ein religiöses Gespräch geführt. Durch ein Wort, das Quint eines Tages geprägt hatte, als der Name des Heilands gefallen war, ward Dominik betört oder, nach seiner Ansicht, aufgeklärt: »Christus? Ich kenne ihn nicht oder bin es selbst!« hatte es gelautet. [...]"
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint Kapitel 21 und 23)

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