18 August 2018

Mutterzunge

Emine Sevgi Özdamar: Mutterzunge

 Zitate: 
Mutterzunge:
"Ich erinnere mich jetzt an Muttersätze, die sie in ihrer Mutterzunge gesagt hat, nur dann, wenn ich ihre Stimme mir vorstelle, die Sätze selbst kamen in meine Ohren wie eine von mir gut gelernte Fremdsprache."

Großvaterzunge:
"Ibni Abdullah sprach: »Selamünaleyküm.« »Aleykümselam.« Es ist eine Gemeinheit, mit einer Orientalin in Deutsch zu reden, aber momentan haben wir ja nur diese Sprache."

"Ibni Abdullah sagte: »Wenn alle Araber ihre Gewehre auf die Erde herablassen und nur barfuß zusammen nach Jerusalem laufen würden. Israelis und Araber müßten unter der Sonne paar Tage Gesicht in Gesicht gucken, ohne Generale. Sieben Brüder, sieben Jahre hat meine Mutter sie in ihrem Körper getragen, Generale haben sie an einem Tag ausgegeben.«"

"Ich hatte Schmerzen in meinem Körper, ein Fieber kam und trennte mich von anderen Lebenden, ich legte mich hin, sah, wie der Schmerz meine Haut aufmachte und sich in meinem Körper überall einnähte, ich wußte, daß in diesem Moment Ibni Abdullah in meinen Körper reingekommen war, dann war Ruhe, Schmerz und Fieber gingen weg, ich stand auf."

 "Die Liebe ist ein leichter Vogel, setzt sich leicht irgendwo hin, und steht schwer auf."

"In der Fremdsprache haben Wörter keine Kindheit."

"»Was machen Sie in Deutschland?« fragte das Mädchen mich. Ich sagte: »Ich bin Wörtersammlerin.« Und Ibni Abdullah, die Seele in meiner Seele, dachte ich und erinnerte mich noch an ein Wort in meiner Mutterzunge: Ruh – »Ruh heißt Seele«, sagte ich zu dem Mädchen. »Seele heißt Ruh«, sagte sie."

"Die Türken sprachen in ihrer Sprache, die mit deutschen Wörtern gemischt war, wofür sie in Türkisch keine Worte hatten, wie: Arbeitsamt, Finanzamt, Lohnsteuerkarte, Berufsschule. Ein gestandener Gastarbeiter sprach: »Sonra Dolmetscher geldi. Meisterle konustu. Bu Lohn steuer kaybetmis dedi. Finanzamt cok fena dedi. Lohnsteuer yok. Bombok. Kindergeld falan alamazsin. Yok. Aufenthalt da yok. Fremdpolizei vermiyor. Wohnungsamt da yok diyor. Arbeitsamt da Erlaubnis vermedi. Ben oglani Berufsschule ye gönderiyorum. Cok Scheiße bu. Sen krankami ciktin.« Ein zweiter gestandener Gastarbeiter sprach: »Krankenhaus da doktorla gavga ettim. Nirde Krankenscheinin dedi. Yahu, doktor, ben krankim. Yahu krank görmüyorum. Yok Krankenschein yok – para yok. Yahu, doktor, dedim. Fabrik yollar Urlauba gidiyorum, Heimweh falan dedim. Doktor: Nikis krank. Gesundschreiben yapti. Ver Gutpapier, ulan, nikis schlecht Papier dedim. Ben Urlauba gidiyorum dedim.«" [...]

"»Nicht traurig sein, Schwesterherz, mein Mann ist auch verrückt geworden.« »Auch Opel-Caravan?« »Nein, Geld schlafen lassen. Weißt du, ich putze Eishalle, Boxhalle, Schrebergarten, Neonlampen, Spinnhäuser, Friedhöfe, Botanischer Garten, Opernbühne. Dann rauche ich eine. Er aber zurückgegangen. Er sagte: ›Ich nicht aushalten können Deutschland.‹ Ich schicke acht Jahre Geld. Im Dorf alles gibt, Tomaten, Auberginen. Ich sagte: ›Ali, kauf einen Lastwagen und bringe unsere Nachbarstomaten ohne Zwischenhändler direkt in die Stadt.‹ ›Nein‹, er sagt. ›Ich will Geld in Bank schlafen lassen. Ein Jahr schlafen, Geld aufwachen, viel mehr Geld‹, sagt er. Er will auf sein Arsch sitzen und mich schlaflos machen hier.« Die Frauen wärmten sich an dem Feuer.
Der Esel schrieb auf seiner kaputten Schreibmaschine einen Brief an seinen deutschen Freund Mathias: »Lieber Mathias, mir geht es nicht aus dem Kopf, als du erzähltest, daß du deine junge Tochter besucht hast. Sie saß da im Kreuzberger Zimmer und bewegte sich zwischen Spiegel und Tisch sowie einer alten Frau, wie vor dem Krieg. An dem Abend habe ich geträumt, ich war in Köln. Die Straßen waren ganz leer. Der Dom und die Häuser lagen auf einem Haufen da, braunrot gestrichen, alle wie von van Goghs Pinsel aus gesehen. Es war keine Stadt mehr. Eine Selbstmordstadtmalerei war das. Ich lief ganz allein, drehte mich um: Dom und Häuser schauten auf mich, ihre Fenster waren beleuchtet. Kein Mensch da. Ich fand mich auf einem Grundstück. Oooh, atmete ich, der Dom kann mir nicht mehr folgen. In dieser Sekunde trat ich mit meinem Fuß auf etwas Weiches, Sumpf. Ich warf meine Jacke über einen Busch und versuchte, mich daran herauszuziehen. Ich sank immer tiefer. Dann saß ich plötzlich in einem Zug: Hamburg-Altona, Intercity … wie in einem Flugzeug. Am Ende des Korridors steht ein Spiegel. – Das Signal für den sofortigen Aufbruch –: Diese Worte las ich in dem Buch, das von einer Frau, die vor mir saß, gelesen wurde. Die Frau von meinem Bauern kam, sagte: »Sie werden meine Haare und meinen Schmuck dem Münchener Kunstmuseum schenken.« Ich sagte darauf: »Ich muß lesen.« Die ganze Vergangenheit wartet auf mich. Da war eine Toastmaschine und es kamen zwei Bücher brennend heraus.« [...]

Karriere einer Putzfrau
Erinnerungen an Deutschland Ich bin die Putzfrau, wenn ich hier nicht putze, was soll ich denn sonst tun? In meinem Land war ich Ophelia. »Wir machen gute Liebe, aber das ist nicht alles, zwischen uns ist Klassenunterschied, und als Frau hast du mich nicht geschützt«, sagte der Mann, mit dem ich im Ehebett stand. Er war ein reicher Sohn mit einem Einzel-Kind-Drama. »Geh in ein Kloster! Geh! Leb wohl. Oder wenn du durchaus heiraten willst, heirate einen Narren, denn kluge Männer wissen ganz gut, was für Monster ihr aus ihnen macht! In ein Kloster geh, und schnell, lebwohl!« sagte er zu mir.

Ich habe ihn gefragt: »Die Klassenunterschiede waren von Anfang an da, warum hast du mich geheiratet?« »Damals waren die Zeiten anders, ich hätte auch eine Putzfrau heiraten können damals«, hat er gesagt. Ein Mund ist nicht ein Sack, man kann ihn nicht oben in Falten legen und zubinden. Was der Kopf denkt, sagt der Mund. Sein Freund, Sohn eines Arztes, selbst ein Medizinstudent, sagte dazu: »Wer schweigt, lebt länger. Als ich meine Frau bei der Polizei sterben sah, wurde ich geheilt. Natürlich stimmt es nicht, daß Frauen mehr reden, aber zu zweit spricht man zuviel, allein kann man auch schweigen, Mylord, es muß kein Geist vom Grabe aufstehen, uns das zu sagen. Trennt euch!« »Ja, richtig, das ist richtig. Und darum, ohne weiteren Umstand, denk ich, wir schütteln uns die Hände und gehen ab.
Sieh doch, es ist die Zeit zum Schweigen und die Demokratie wiederaufzubauen«, sagte mein Mann. »Oh welch ein edler Geist ist hier zerstört.« Als er mit seinem Einzel-Kind-Drama und seinem Medizinstudenten-Freund zum Wiederaufbau der Demokratie ins Restaurant ging, da ging seine Mutter in unsere Wohnung, um zu sehen, ob die Bücher noch auf den Regalen standen oder im Ofen starben, guckte auch ins Bett und die Bettwäsche an! Später sagte sie vor Gericht: »Diese Frau hat meinen Sohn zugrunde gerichtet, die Bettwäsche war schwarz, sie ist eine Zigeunerin, aber leider haben wir es nicht gemerkt.« [...]
Wenn Hamlet bei Ophelia ist, werden Medeas Kinder geschlagen von den Plastikschlangen mit den Boxerhandschuhen, da wird auch Licht ausgemacht, da kommt der Van Gogh, trägt einen Hut, auf dem 12 Kerzen befestigt sind, und malt das Pissoir nur mit schwarzen Farben! Artaud kommt, steht als Profil da, dichtet: »Es gibt keine Gespenster in den Bildern von Van Gogh, keine Visionen, keine Halluzinationen. Dies ist die brennendheiße Wahrheit der Sonne um zwei Uhr nachmittags. Ein träger Zeugungsalptraum, der sich nach und nach aufklärt, ohne Alptraum und ohne Wirkung. Doch das Leiden des Vorgeburtlichen liegt darin.« Der Hund von Eva Braun beißt die Kinder von Medea und die Statisten, Nathan der Weise tritt auf und sagt, er sei der Friedenspfarrer mit Nobelpreis, man solle Medeas Kinder und Männerpissoirbesetzerstatisten in Ruhe lassen. Die Plastikschlangen sagen Schalke, Schalke und telephonieren mit einem hohen Beamten, der in seinem Hotelzimmer den Arsch einer Schwester Ophelias in der Sonne betrachtet und dabei am Telephon sagt: »Beißt, damit eure durch die täglichen Beißübungen geweckte Sehnsucht erfüllt wird.« Er sagt zu der Schwester Ophelias: »Jetzt ziehen Sie sich an, gehen Sie ins Badezimmer, denken Sie, ich bin der Polonius, ihr Vater.«"


Marion Dufresne über Emine Sevgi Özdamar:

"Wenn Özdamar den deutschen Lesern erklärt, dass in ihrer Sprache „Zunge“ „Sprache“ heiße, und sie den Verlust der Mutterzunge beklagt, so liefert sie damit mehr als nur ein Wortspiel oder eine Metapher. Emine Sevgi Özdamar hatte in der Tat lange Zeit ein schwieriges und konfliktreiches Verhältnis zu ihrer Mutter, der sie den Band Mutterzunge widmet. Ich erwähnte bereits die herausragende Bedeutung prägender Frauengestalten in ihrer Kindheit und habe den Einfluss unterstrichen, den die Großmutter auf die Erziehung der Autorin besaß. Nicht zu Unrecht könnte der Eindruck entstehen, dass Özdamar im Grunde der Großmutter Ayse näher steht als der Mutter. Ayses beherztes Handeln rettet den Säugling vor dem Tod und niemand verbringt soviel Zeit mit dem kleinen Mädchen wie diese leidgeprüfte Frau. Ihren Erzählungen lauscht Emine stundenlang, und die Großmutter findet immer eine Antwort auf ihre Fragen, hat stets Verständnis für ihre Sorgen und Probleme. Sie erscheint auffällig oft als eine Art Gegenpol zur Mutter ihrer Enkelin, wobei sich die Opposition beider Frauen in doppelter Hinsicht vor allem in ihrer Sprache zeigt. Während die Großmutter noch ihren Dorfdialekt spricht, bemüht sich Özdamars Mutter um ein „korrektes“ Istanbuler Türkisch, Zeichen ihrer Modernität und Beweis des gelungenen sozialen Aufstiegs. Fatma hat den festen Willen, ihre einfache Herkunft so weit wie möglich vergessen zu machen und strebt die Integration in eine gebildetere, auch finanziell besser gestellte Gesellschaftsschicht an. Sie kämpft tagtäglich gegen das Stigma der Armut und dafür, dass es die Kinder einmal leichter haben als sie. Ein Ereignis, von dem Özdamar in Das Leben ist eine Karawanserei berichtet, ist dabei für unser Anliegen von besonderem Interesse. Als kleines Mädchen verbringt sie die Ferien bei ihrem Großvater in Anatolien. Nach mehr als zweimonatiger Abwesenheit nach Hause kommend, stürzt sie mit ausgebreiteten Armen auf die Mutter zu. Diese aber weicht zurück und wirft dem Kind vor, den anatolischen Dialekt mit nach Hause gebracht zu haben."

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