06 August 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 17 und 18

Siebzehntes Kapitel
[...] Emanuel mußte erschüttert sein durch alle Beweise fast hündischer Liebe und Anhänglichkeit, die ihm von diesen bis zu Tränen durch seine Gegenwart beglückten Menschen entgegengebracht wurden. Und wenn er nun auch entschlossen war, soweit an ihm lag, das Nest zu säubern, in das er ja zu keinem anderen Zwecke gekommen war, so hatte er doch den heißen Wunsch, soweit immer möglich, diesen irren, hilflosen Lämmern ein Hirte zu sein. Hatten doch alle diese Menschen, solange sie lebten, einen leiblichen Hunger nach des Müllers Brot: und war es nicht sonderbar, wie sie trotz leiblichen Mangels und sorgenbelasteter Lebensnot dennoch nach geistigem Brote hungerten? Konnten da ihre unberatenen Einbrüche in die Vorratskammern der Schrift und die Wahl ihrer Nahrung von einem besseren Instinkte geleitet und anders als unbeholfen sein? [...]
»Das Himmelreich gleicht einem Senfkorn«, antwortete Quint, »es gleicht einer Perle, für die ich alles hingebe, es gleicht einem Schatz im Acker, den ich gekauft habe, es ist inwendig in mir, das Eigentum eines Kindes ist das Himmelreich. Aber dein Zion, das aus den Wolken herniederfällt mit Häusern von Gold, mit Tälern aus Jaspis, Saphir und Smaragd, ist es nicht! Warum denn wollt ihr, daß Vater, Sohn und Geist unter Gewitter und Posaunenschall furchtbar aus Wolken niedersteigen, wo doch Vater, Sohn und Geist unerkannt unter euch ist?« Und nun verrichtete Emanuel Quint, der arme Narr in Christo, jene hoffentlich unbedachte Tat der Lästerung, die später, als er eines schweren Verbrechens beschuldigt unter Anklage stand, die Herzen der Richter so sehr verhärtete. Nämlich: er packte ein Bibelbuch, das einer der Brüder Scharf, wie früher gebräuchlich, neben das Licht auf den Tisch gelegt hatte, und warf es, so daß es in Fetzen ging, wider die Wand. Die armen Tagelöhner, trotzdem sie erschraken und eigentlich im ersten Augenblick dachten, es müsse Feuer vom Himmel herabfahren, regten sich nicht. Und: »Ich verbiete euch dieses Buch! hört ihr! ich verbiete euch dieses Buch!« rief nun, gar nicht im Sinne Luthers, Emanuel. »Ich verbiete es euch, weil es eine Scheuer voll Unkraut, eine Scheuer voll Tollkraut, eine Scheuer voll Taumellolch mit nur wenigen Ähren guten Weizens ist. Das Reich Gottes ist wiederum auch hier nur ein Senfkorn darin. Was leset ihr euch aus diesem Buch? Was erntet ihr euch von diesem Acker des guten Hausvaters, in den der böse Feind im Finstern Scheffel und Malter Unkraut gesäet hat? Ihr füllt euch das Blut mit quälenden Ängsten, quälenden Wünschen und Fieberbildern, die lügnerische Hoffnungen sind, bis zum Bersten an! Ihr meinet, wenn ihr vom Gifte des Taumelmohns trunken seid und in läppischer Eitelkeit zu Affen der Allmacht aufgeschwollen, mit Handauflegen und Wundertun, ihr hättet den Heiligen Geist empfangen! Was ihr empfangen habt, ist die Pest der Gier! der Durst der Tollheit! Meint ihr, daß die Liebe zu Jesu eine unbezwingliche Wut der Habsucht ist? Was wollet ihr denn von Gott erbitten? Wälzet ihr euch, und zerrüttet ihr euch und macht eure armen Kehlen heiser, damit der himmlische Vater das Szepter mit euch teile? Und meint ihr, daß es in euren blinden Händen besser aufgehoben als in den seinigen ist? Was reißet ihr doch an Gottes Stuhl? Was zerrt ihr doch an Gottes Gewandzipfel? Was heult ihr? Was kreischt ihr? Warum schlagt ihr mit euren Fäusten, euren groben Absätzen gegen die Himmelstür? Wahrlich ich sage euch, ihr werdet nicht mit der Türe ins Haus brechen, und es liegt auch dahinter weder Brot, Speck noch das kleinste Fäßchen Branntwein für euch! Was leset ihr euch aus diesem Buch? Lügen, Lügen und wieder Lügen! Wie denn die Lüge noch immer auf allen Gärten und allen Äckern am geilsten wuchert! Wie denn die Lüge noch immer Säulen, Tore, Türme und Tempel – die höchsten Säulen, die höchsten Tore, die höchsten Türme, die gewaltigsten Tempel von Gold, Jaspis und Edelsteinen – auf unserer Erde besitzt!«
Es war wohl nicht allzuviel, was die mit hochgezogenen Brauen lauschenden Brüder von diesen heftig gesprochenen Worten begriffen. Es folgte ihnen auch eine große Menge anderer warnend, ja drohend nach, die Quinten doch wohl von dem Wunsche eingegeben wurden, diesen Unfug der Talbrüder abzuschütteln. Jene Monate, die er in der Gärtnerei, in der Bibliothek des Gurauer Fräuleins, beim Miltzscher Schäfer als Samariter, in der Familie Krause und in anderen christlichen Bürgerhäusern zugebracht hatte, konnten nicht spurlos an ihm vorübergehn. Dennoch sah er die Brüder nicht von einem neuen Kastenstandpunkt an, und nicht ein solcher war es, der den Abstand zwischen ihm und ihnen vergrößerte. Dagegen konnte man aus der Art und mutigen Kraft seiner Reden schließen, daß sich die Kraft seines eigensinnigen Wahnes in der Stille vervielfacht hatte. [...]
In Wahrheit sah Emanuel Quint den Heiland kaum mehr im Bibelbuch, das er ja auch mißhandelt hatte, sondern, schrecklich zu sagen, nur noch in sich selbst und als sich selbst. Der heilige Wahn ward zurückgedrängt und hatte dort, seit jenem Kerkertraume, wo Christus in Quinten buchstäblich hineingegangen war, Zeit gefunden, sich festzunisten. Damit hatte sich etwas im Betragen des Narren in Christo eingestellt, was keineswegs von dem Schlage seiner früheren Bescheidenheit und Demut war. Gegner, die es später bemerkten, nannten es einen lächerlichen Hochmutsgeist von Unfehlbarkeit, er selbst die Freiheit der Kinder Gottes. »Machet euch frei von dem Dienste des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes«, sagte er oft, wenn seine Freunde ihm eine gewisse heitere Sicherheit und Sorglosigkeit, trotz des ihm eigenen Ernstes, zum Vorwurf machten. [...]
Jedermann in der Mühle war schlafen gegangen. Es war eine abgelegene, nur durch viele Gänge und Treppchen zu erreichende Kammer, in der sich Quint mit Ruth befand. Er senkte den Kopf, entrang die Hände und begann im Raum auf und ab zu schreiten. In dieser Minute – man hörte den Gang seiner bloßen Füße nicht –, wo er bald die Gardine, bald den gelben, mit allerlei Tand und bäurischen Raritäten gefüllten Glasschrank streifte, fand er sich nicht nur mit der Flucht der kleinen Ruth aus dem Elternhause, sondern auch mit dem Umstand ab, dessen er völlig sicher war, daß man keinem andern als ihm die Schuld dieses Streiches zumessen würde. Dann sagte er nur: »Du hast uns in eine schlimme Lage gebracht.« Ruth wandte sich um und sagte dagegen: »Wie kann ich anders, wenn ich nicht meinen Bräutigam versäumen soll?« Er sagte: »Ihr alle seid unverständig!« »Lehre mich«, sagte sie, »daß ich verständig bin!« Er dagegen: »Ehre Vater und Mutter und betrübe sie nicht! Gedenke der Ängste, die sie jetzt ausstehen! Im besten Falle wird man uns finden und bringt dich und mich durch Gendarmen nach Hause zurück.« Ruth sagte, das werde der Vater nicht zulassen. Als Emanuel sie befremdet musterte, fügte sie noch die Worte an: »Ich meine den Vater, der in dir ist.« Emanuel wurde ungeduldig. Er begann: »Was suchst du? Was willst du von mir? Von den Legionen Engeln eures himmlischen Vaters weiß ich nichts. Ihre Schwerter stehen mir nicht zu Diensten. Ich bin keines irdischen Königs noch eines schwertgewaltigen Gottes Sohn. Ich bin nur ein armer Menschensohn. Wer mir nachfolgt, dessen nackte Füße werden über scharfe Steine gehen. Der Regen wird ihn durchnässen, der Hagel auf seinen Scheitel schlagen. Er wird Almosen nehmen, wo man sie gibt. Er wird, wie ich, verachtet, verdorben und am Ende einem schmachvollen Tode überliefert sein.« In diesem Augenblick hatte Ruth in Hast ihre durchlaufenen Schuhe von den Füßen gelöst, den Mantel und ihr kleines dunkles Mieder heruntergerissen und warf sich wildschluchzend mit den Worten: »Kreuzige mich, ich will vor dir sterben!« an Quintens Brust. Quint begann ihren Scheitel zu streicheln, aber er hielt seine Lippen fern von der schmalen weißen Rinne, die ihm so nahe war und von der aus das Haar zu beiden Seiten in einem dunklen und duftigen Glänze das Haupt umfloß. Seine Hände mieden die kindlichen Schultern, die sich zuckend an ihn anschmiegten, so daß er an bebende Flügelrücken eines jugendlichen, verstoßenen Engels denken mußte oder eines verflognen vielleicht: eine Vorstellung, die ihm durch die liebliche und berauschende Fremdartigkeit dieses ganzen neuen Erlebens aufgedrängt wurde. Emanuel biß die Zähne zusammen und wehrte sich mit der ganzen ihm eigenen, bewußten Kraft gegen die Welle, die in ihm aufbrandete. Er rang mit ihr und besiegte sie. Die Arme der lieblichen Gärtnerstochter mit Zartheit lösend und an den heiß umklammernden Händen herunterziehend, hatte er bald durch den gütigsten Zuspruch das Mädchen einigermaßen zur Ruhe zur Ruhe gebracht.
Mit eigenen Händen zog er ihr dann die Stiefelchen an, half ihren nackten Armen in die Ärmel ihres Mieders hinein, verdeckte darin die schönen Schultern und legte auch noch den Mantel, den er vom Tische nahm, sorgsam darum.
Endlich sagte er: »Ruth, nun komm, jetzt wollen wir ohne Verzug zurück zu den armen Eltern gehen.«
Da stand das Kind und regte sich nicht und sprach geraume Weile kein Wort. Aber wie Quint, überwältigt von Mitleid, die Hand um sie legte und ihr Haupt herauf an den kummervollen Strahl seines ernsten Antlitzes bog, war ihr Gesicht von Tränen gedunsen.

Achtzehntes Kapitel
In diesem Augenblick quietschte die Zimmertür, und der Kopf des böhmischen Josef streckte sich durch den geöffneten Spalt mit einem pfiffig grinsenden Ausdruck herein. Dann schien es, als wollte er sich zurückziehen, aber nun fragte ihn Quint, in einem erstaunlichen Ton von Gelassenheit, was er wünsche und was sein Begehren wäre. [...]
In der Backstube, als der böhmische Josef gegangen war, mußte sich Ruth auf Quintens Drängen mit Brot, Butter und Kaffee stärken, dessen man eine reichliche Menge, in einem Bunzlauer Topf, noch heiß, in der Röhre fand. Dann traten beide, leisen Tritts aus der Haustür gehend, von niemand in der Mühle bemerkt, den Rückweg an.   Im Beginne der Reise waren sie einsilbig. Noch immer mit gedunsener und wie erstarrter Miene schritt die kleine Ruth neben Quint, während der Narr, grüblerisch und betreten, das Schweigen nicht brechen mochte. Die kleine Heilige, die triebhaft und opfermutig ihren irdisch-himmlischen Hochzeitsflug unternommen hatte, ward wie gelähmt, weil sie annahm, Liebe und Opfer sei nun durch den süßen Freund und himmlischen Bräutigam verworfen worden. Nach und nach aber, während des Wanderns, das Quinten die eigentlich angemessene Form des Daseins war, stieg in ihm jene volle und große Empfindung auf, die zweifellos religiösen Charakter hatte, wenn auch sie es vornehmlich war, die ihn immer wieder über die berechtigten Forderungen der ihn umgebenden Welt erhob. Soweit man diese Empfindung – und man bedenke, wie das bewußte Leben selber nichts anderes als eine Empfindung ist! –, soweit man sie zu schildern vermöchte, würde man das eigentliche Urphänomen im religiösen Leben dieses wunderlichen Separatisten zu begreifen imstande sein. Das Leben in der gesamten Natur, die wir kennen, insonderheit alles organische Leben, vollzieht sich für uns in Form von Bewegung, insonderheit durch Geburt, Tod und Wiedergeburt. So war denn auch in Quintens Seele die tiefste Erfahrung immer wieder das göttliche Sterben und das göttliche Auferstehen. [...]
Quint vergaß aber nicht, daß Ruth neben ihm ging. Sie hat bekannt, daß der Sonderling, den sie den Heiland nannte, ihre Hand ergriffen, noch bevor sie das Dorf und den Wagen erreichten, und bis dahin, etwa eine Stunde Wegs, nicht mehr freigegeben hat. Sie hat ferner versichert, wie es denn auch der Wahrheit entsprach, sie sei dadurch wie durch einen himmlischen Zauber gestärkt, getröstet, ja mit der Gewißheit eines ewigen himmlischen Glückes erfüllt worden. Sie hat schließlich behauptet, daß der arme Narr verzückt und in einer heiligen Glorie mit Jesus, Moses und Elias geredet habe: trotzdem doch, nach ihrer Meinung, Emanuel selber der Heiland war. Die Ursache ihres Irrtums war diese: Emanuel fing nach einiger Zeit, während er ihre Hand in der seinen hielt, in beinahe hymnischer Weise zu reden an, wobei sie der tiefen, immer heller werdenden Röte des Sonnenaufgangs entgegenpilgerten. [...]
Da sagte zu seinem Schaden der Narr: »Habe ich denn eine Sünde begangen?« »Das wirst du wissen!« schrie Herr von Kellwinkel. »Du wirst wissen, was du an der Familie deines Wohltäters, was du an diesem betörten Mädchen begangen hast! Welche Mittel, welche Schliche, welche niederträchtigen Lügen, welche Lumpereien und Betrügereien mußt du angewandt haben, nichtsnutziger, fauler, arbeitsscheuer Rumtreiber du, bis dieses wohlerzogene Bürgerkind so weit gebracht war, Anstand und Sitte so weit außer acht zu lassen, daß sie mit dir, bei Nacht und Nebel, das Haus ihrer schwergeprüften Eltern verließ und so vollkommen in die Gewalt deiner schmutzigen Pfoten geriet.« Bei diesen Worten nahmen die Bauernweiber und Landarbeiter gegen Quint eine drohende Haltung an. Ein gewisser Tagelöhner, mit dem Quint zuweilen bei Gelegenheit seiner Feldgänge einige Augenblicke philosophiert hatte, benutzte jetzt die Gelegenheit, um sich bei Kellwinkel einzuschmeicheln. Indem er hervortrat, behauptete er: Quint halte die Leute vom Arbeiten ab. Er mache sie unlustig, mache sie aufsässig, indem er Weiber und Kinder gewöhnlich frage, ob denn das Zuckerrübenhacken oder das Heil ihrer Seele wichtiger sei. [...]
In der Familie des Lehrers Krause gab es Emanuels wegen Tränen und Kämpfe, denn auch Krause wollte nun, im Widerspruch zu Marien, nichts mehr mit dem Narren zu tun haben. Maria dagegen verteidigte ihn. Bei ihrer Verteidigung blieb sie nicht gerade gerecht in ihrem Urteil über Ruth Heidebrand, die sie ein überspanntes Mädchen nannte. Sie fügte hinzu: die krankhafte Überspanntheit der kleinen Ruth wäre ja doch viel mehr etwas Altbekanntes als eine Neuigkeit.
Alle ihre Einwände halfen Marien indessen nichts. Ihr Vater hatte im Schrecken der Nachricht von Ruths Verschwinden den festen Entschluß gefaßt, nun ebenfalls von dem gefährlichen Narren abzurücken. Ob er trotzdem noch etwas für ihn fühlte, wußte man nicht.
Übrigens hatte der arme und außergewöhnliche Dorfschulmeister, dessen friedliche und behagliche Existenz in dem Wohlwollen vieler Freunde wurzelte, nach dem, was vorgefallen war, keine Wahl mehr in seinem Verhalten zu Quint. Es war nicht ratsam, ja überhaupt nicht tunlich, sich dem allgemeinen Urteil, das ihn richtete, entgegenzustellen. Man lief Gefahr, mit dem Narren als eine Person genommen, gebrandmarkt und aus der Gesellschaft verstoßen zu werden.
Emanuel wurde nicht empfangen, als er am Gründonnerstag – wo die Kinder in allen Dörfern in Scharen mit ihrem Bittgesang und ihrem Gründonnerstag-Bettelsäckchen von Tür zu Tür herumliefen – an die Tür der Krauseschen Schule kam. Dagegen sah er, als er sich annäherte, Nathanael Schwarz aus der Türe gehn, von dem es bekannt war, daß er vor einigen Jahren um die Hand Mariens geworben hatte.
Schwarz machte einen großen Bogen um Quint und verschwand in Eile durch ein Quergäßchen. Emanuelen wurde nun von der Magd der kurze, ihn von der Schwelle weisende Bescheid überbracht; sie hatte eben die Tür vor seiner Nase zugeschlossen, da fiel aus einem Mansardenfenster, von unsichtbarer Hand geworfen, ein Umschlag mit einem Kärtchen herab, das Quint erst draußen im Feld entzifferte; es trug die Worte: »Ich glaube an dich!«
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint Kapitel 17 und 18)

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