09 März 2019

Wilhelm Raabe: Holunderblüte

Text
Wikipediaartikel:
"[...] Den Kern der Erzählung bildet Jemimas Erzählung von der Tänzerin Mahalath, die auf dem jüdischen Friedhof in Prag begraben liegt. Jemima leitet die Kerngeschichte durch den Ausruf „Das bin ich“ ein, wobei sie auf das Grab deutet. Die tragische Geschichte über eine Jüdin folgt, die sich unglücklich in einen jungen Adligen verliebte und an einem kranken Herzen starb. Ein ebenso krankes Herz besitzt Jemima selbst, und sie weiß, dass sie – wie zuvor Mahalath – daran sterben wird.
Damit ist die Grundproblematik der Novelle dargelegt: In allen drei Figurenpaaren geht es um ein krankes Herz und um eine gesellschaftlich nicht legitimierbare (Liebes-)Beziehung. Der Tod der Frauen lässt die Männer mit dem Gefühl der Schuld zurück.[...]"

"Wenn aber Raabe vorgeworfen wurde, er habe im Hungerpastor ein einseitiges Bild des Judentums entworfen, konnte er seelenruhig erwidern, er habe das alte ehrwürdige Judentum, besonders im leidenden Getto, immer mit schuldigem Respekt behandelt: in Höxter und Corvey wie in Holunderblüte." (Walter Haußmann: Nachwort zu "Das letzte Recht - Holunderblüte" Reclam 8485, Stuttgart 1961, S.96)

Zitate:
"Doch das hat eigentlich nichts mit diesen Aufzeichnungen zu tun; ich will nur an einem neuen Beispiele zeigen, welch ein wunderliches Ding die menschliche Seele ist. Nicht ohne guten Grund überschreibe ich dieses Blatt: Holunderblüte; der Leser wird bald erfahren, was für einen Einfluß Syringa vulgaris auf mich hat." (Text)

Vom heutigen Sprachgebrauch ausgehend wird man verwirrt, wenn man von den weißen und blauen Blüten des Holunders liest, bis man bemerkt, dass für Raabe Holunder gleichbedeutend mit Flieder (Syringa vulgaris) ist.

Das Lied, das der alte Mann  auf dem Klavier vorfindet und das eine Vorausdeutung auf die zentrale Handlung darstellt:

"Des Menschen Hand ist eine Kinderhand,
Sie greift nur zu, um achtlos zu zerstören;
Mit Trümmern überstreuet sie das Land,
Und was sie hält, wird ihr doch nie gehören."


Wie Jemima Löw am Beispiel von Mahalath auf ihr eigenes Schicksal in der Zentralhandlung vorausdeutet:
"Jemima Löw las den Shakespeare nicht, hatte auch in ihrem Leben nichts von dem Mann gehört, und sie verstand aus meinen verworrenen Reden über diesen Punkt nur, daß ich sie mit allerlei christlichen und heidnischen Frauen vergleiche, und lächelte ungläubig, und eines Tages, um die Mitte des Herbstes, als die ersten winterlichen Ahnungen durch die Welt gingen, als die Blätter des Flieders nicht weniger wie alle andern Blätter sich bunt färbten, – eines Tages um die Mitte des Herbstes faßte sie meine Hand und zog mich durch einen düstern Gang nach der Mauer des Kirchhofs zu einem Grabstein, den wir bis jetzt noch nicht betrachtet hatten.
Auf diesen Stein deutete sie und sprach:
»Das bin ich!«
In hebräischer Schrift stand auf dieser Platte:
Mahalath
Und darunter die Jahreszahl:
1780.
Wie kam es, daß ich so sehr erschrak? War es nicht Torheit, daß ich so erstarrt, wortlos das Mädchen neben mir ansah?
Ja, es lachte nicht, es freute sich nicht eines gelungenen närrischen Einfalls. Ernst und traurig, mit gekreuzten Armen stand es da, lehnte sich über den Stein und sagte, ohne eine Frage abzuwarten:
»Sie hieß Mahalath, und sie war Mahalath, das ist eine Tänzerin. Sie hatte ein krankes Herz wie ich und ist die letzte gewesen, welche auf diesem unserm Beth-Chaim eingesenkt wurde, – die allerletzte. Nachher hat's der gute Kaiser Joseph verboten, daß sie noch einen aus unserm Volk hier zu Grabe brächten; die Mahalath ist die letzte gewesen. Der gute Kaiser hat auch die Mauern der Judenstadt niedergeworfen und hat ihr seinen eigenen milden und glorreichen Namen zu seiner und unserer Ehre gegeben. Er hat dies Gefängnis zerbrochen und uns atmen lassen mit dem andern Volk; der Gott Israels segne seine Asche.«
»Aber wer ist die Mahalath? Was hast du mit der Mahalath, Jemima?« rief ich.
»Sie hatte ein krankes Herz, und es zersprang.«
»Sei keine Törin, Mädchen, was weißt du von dieser Toten, die im Jahre siebenzehnhundertachtzig begraben wurde?«
»Wir gedenken lange unserer Leute. Ich kenne die Mahalath ganz genau und weiß, daß ihr Los das meinige sein wird.«
»Dummes Zeug!« rief ich; aber Jemima Löw drückte plötzlich die Hand auf das Herz, und über ihr Gesicht zuckte es, als erdulde sie einen großen physischen Schmerz.
Ich erschrak wiederum heftig, und als sie meine Hand nahm und dieselbe auf ihre Brust legte, erschrak ich noch mehr.
»Hörst du, wie es klopft und pocht, Hermann? Das ist die Totenglocke, welche mir zu Grabe läutet. Du bist ein großer Doktor und hast das nicht gemerkt?«
Dieses Letzte sagte sie mit einem so hellen Lächeln, daß die Idee dieses frühen Sterbens mir um so schrecklicher erschien. Ich faßte beide Hände des Mädchens und schrie sie zornig an: »Scherze nicht auf so tolle Weise! Alles will ich dir hingehen lassen, nur nicht solche Worte.«
»Es ist kein Scherz«, antwortete sie, »soll ich dir die Geschichte der Mahalath erzählen?«"
(Holunderblüte Kapitel 3)

zur Fortsetzung

Weitere Raabe-Lektüre:
"[...] Von den Dohlen bis zu den Glocken ist nur ein Schritt; – die Stadt hat, so viele Jahrhunderte hindurch sie existiert, sich noch nie und nimmer ihr Geläut zuwidergehört. Sie besitzt ein Theater und hat dann und wann ganz gute Gelegenheit, sich mit aller Vergangenheits- und Zukunftsmusik bekannt zu machen; aber ein Ohr für ihre Glocken hat sie sich unter allen Umständen bewahrt.[...]"
Wunnigel (Text)  Inhalt u.a. (Wikipedia)

Keine Kommentare: