Zitat:
Kühn über die heutige historische Aufführungspraxis mittelalterlicher Lieder:
"Es zeigt sich: wir wollen nach Möglichkeit und sichtbar werden, wo wir Vergangenes sichtbar machen, wollen möglichst leise fast unhörbar werden, wo wir Vergangenes hörbar machen. Ich bin auch in dieser Hinsicht Sohn meiner Zeit: ich finde das richtig so. Aber mit Seitenblicken versuche ich zugleich, das Besondere der Situation der Position bewusst zu machen, die ja nicht nur für mich allein bezeichnend ist. [...] aber so behutsam wir historische Materialien behandeln – im Umgang mit der Natur zeigen wir eine Rigorosität und Rigidität, die keine Generation vor uns gekannt hat. Unter dem Vorwand der Flurbereinigung wurden ganze Landschaften umgemodelt: Hohlwege zugeschüttet, Bäche verrohrt, Hügelkonturen verändert (in Weinbaugebieten), dazu die rücksichtslosen Linienführungen im Dienste der Maschinen – nein, wir sind nicht ängstlicher geworden als unsere Vorfahren oder Altvordern, auch wir setzen uns entschieden in Szene, nur hat sich der Schauplatz verlagert. In Kirchen legen wir alte Malereien vorsichtig frei, versuchen, sie von allen späteren Zutaten, womöglich Verfälschungen zu befreien, aber die Natur übermalen, verfälschen wir in dicken, tristen Farben, deren chemische Ausdünstungen sich nicht verflüchtigen wollen." (S. 273/74)
Als Beleg für die Fremdartigkeit des Mittelalters (größere Bandbreite des geduldeten Verhaltens*) führt Kühn als Beispiel Folgendes an:
"Für Könige und Kaiser jener Zeit ist unberechenbares, vielfach explosives Verhalten dokumentiert, auch vor für hohe Gefolgsmänner. Beispielsweise Heinrich von Pappenheim, Marschall des Kaisers Friedrich Barbarossa, Marschall des Kaisers Heinrich VI., Marschall des Königs Philipp von Schwaben, Marschall des Kaisers Otto IV., zuletzt Marschall des Kaisers Friedrich II.: er reist mit König Otto nach Rom, zur Kaiserkrönung; in Padua findet ein Ostermahl statt; Der Truchseß gibt einem Pagen, der Kuchen stibitzt hat, eine Ohrfeige; der Marschall zieht sein Schwert und tötet den Truchseß; Otto gerät in Rage und will den Marschall hinrichten lassen; der Marschall fällt über den hünenhaften Otto her, reißt ihn am Bart, bringt ihn zu Fall; der Marschall wird dennoch begnadigt, darf dem Kaiser aber nicht mehr unter die Augen treten; später rettet er Otto im Kampf das Leben, dafür wird er vom Kaiser reich beschenkt, mit Gütern und Ämtern.
Je deutlicher die Konturen der Lebensformen und Lebensumstände von Menschen des 13. Jahrhunderts, desto stärker die Kontraste heutiger Lebensformen und Lebensumstände."
(S.322/23)
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Von der Antike bis ins Mittelalter schrieb man mit Schreibgriffeln auf Wachstafeln. Diese waren nur für den täglichen Gebrauch bestimmt, nicht für dauerhafte Überlieferung. Deshalb sind sie nicht als Originale erhalten, wohl aber im Bild. Griffel hat man aber immer wieder gefunden. - Kühn nutzt diese Tatsache dafür, sich zu überlegen, ob Neidhart seiner Frau Mechthild Liedtexte diktiert haben und wie weit sie dabei Partnerin gewesen sein könnte. (S.393/94)
Vorstellung durch den Fischer Verlag:
"[...] Im zweiten Band seiner ›Trilogie des Mittelalters‹ rekonstruiert Kühn die »Lebensreise« dieses Sängers, der von Auftritt zu Auftritt zog, um vor meist höfischem Publikum zu singen. Jeder Anspielung der eigens übersetzten Lieder folgend, spürt Kühn den Möglichkeiten, ja, Wahrscheinlichkeiten nach. Aus der Perspektive der »Fahrenden« schildert er, was Reisen damals bedeutete: auf schlechten Straßen und Wegen, bedroht von Krankheiten und Seuchen, konfrontiert mit Elend, Hunger und Schmutz.[...]"
Eine Liedübersetzung von Dieter Kühn:
"Neidhart
und die Bauern: ein wichtiges Kapitel in einem Buch über Neidhart.
Einleitend, vorbereitend stelle ich eins der Winterlieder vor, wie
sie Neidhart in Bayern gedichtet (und komponiert) haben
wird.
Sing, du Goldhun, und ich geb dir Weizen
(und sogleich
ward ich froh)
sagte sie, um deren Gunsten ich singe.
Ach, so fällt der Simpel auf Versprechen rein,
immerdar.
Würd es wahr,
hätte sich noch nie zuvor ein Mann
Derart hochgemut wie ich gefühlt.
Kann sie denn, mit ihrer Fröhlichkeit,
meinen Schmerz
Von mir nehmen? Ach, mein Leid ist groß ...
Räumt die Hocker und die Stühle raus!
Sing, du Goldhun, und ich geb dir Weizen
(und sogleich
ward ich froh)
sagte sie, um deren Gunsten ich singe.
Ach, so fällt der Simpel auf Versprechen rein,
immerdar.
Würd es wahr,
hätte sich noch nie zuvor ein Mann
Derart hochgemut wie ich gefühlt.
Kann sie denn, mit ihrer Fröhlichkeit,
meinen Schmerz
Von mir nehmen? Ach, mein Leid ist groß ...
Räumt die Hocker und die Stühle raus!
Tischgestelle
rausgetragen!
Heute werden wir uns müdetanzen.
Reißt die Stube auf, dann wird es kühl,
und der Wind
weht gar sanft
Um die Mädchen, über Leibchen.
Wenn die Reienführer nicht mehr singen,
seid ihr alle eingeladen
(und wir auch)
Nach der Fiedel hofgerecht zu tanzen.
Horcht nur – in der Stube höre ich Tanz!
Junge Männer,
Nichts wie hin!
Bauernmaderln gibts in Scharen!
Viele Kehrreim-Tänze sah man dort.
Zweie geigten.
Als sie schwiegen
(was die lustigen Buam nur freute!),
ward im Wettstreit vorgesungen.
Es schallte durch die Fensterlöcher.
Adelhalm
tanzt nur zwischen jungen Mädchen.
Saht ihr einen Bauern je so aufgedreht
Wie ihn dort?
Großer Gott!
rausgetragen!
Heute werden wir uns müdetanzen.
Reißt die Stube auf, dann wird es kühl,
und der Wind
weht gar sanft
Um die Mädchen, über Leibchen.
Wenn die Reienführer nicht mehr singen,
seid ihr alle eingeladen
(und wir auch)
Nach der Fiedel hofgerecht zu tanzen.
Horcht nur – in der Stube höre ich Tanz!
Junge Männer,
Nichts wie hin!
Bauernmaderln gibts in Scharen!
Viele Kehrreim-Tänze sah man dort.
Zweie geigten.
Als sie schwiegen
(was die lustigen Buam nur freute!),
ward im Wettstreit vorgesungen.
Es schallte durch die Fensterlöcher.
Adelhalm
tanzt nur zwischen jungen Mädchen.
Saht ihr einen Bauern je so aufgedreht
Wie ihn dort?
Großer Gott!
Der
ist vorne weg in meinem Reien.
Einen Gürtel, gut zwei Hände breit,
braucht seinen Schwert.
Würdevoll
kommt er sich in seiner neuen Jacke vor.
Sie besteht aus vierundzwanzig Stücklein Stoff,
und die Ärmel reichen an die Finger.
Seine Kleidung
sieht man nur an dummen Gecken!
Äußerst bäurisch ist die Kostümierung,
die er trägt.
Wie ich höre,
spitzt er sich auf Ave, Tochter Engelbolds.
Bin ganz sicher: dabei fällt er rein.
Diese Frau wäre es wert,
Daß ein Graf sich mal in sie verliebt.
Geb ihm deshalb ganz diskret den Rat,
daß er sich von hier verdrückt.
Andernfalls
käme er in Mainz mit blauen Augen an.
Seine Jacke ist nicht schön genug geschlitzt,
Sein Gesang
trägt nicht weit –
also soll er sie in Ruhe lassen.
Diesen Sommer sah er sie
wie täglich Brot.
Rot vor Scham
wurd ich, wenn sie beieinander saßen.
Der ich gerne diente – würd sie mein,
hätt sie freie Auswahl an Besitz:
Reuental
ganz für Sie! Ich hab ein weites Herz ...
Ist dies nur literarisches Spiel? Oder gibt es Entsprechungen zwischen solch einem Liedtext und damaliger gesellschaftliche Realität?" (S.142-144)
Lesenswert sind auch die Lieder von Tannhûser (S.374-377) 1: über die Mittelmeerfahrt auf dem Kreuzzug, 2. die überzogenen Aufgaben, die eine adlige Dame ihrem Verehrer stellt, sowie das Wechselgespräch von Mutter und Tochter von Neidhart (S.377-79)
Einen Gürtel, gut zwei Hände breit,
braucht seinen Schwert.
Würdevoll
kommt er sich in seiner neuen Jacke vor.
Sie besteht aus vierundzwanzig Stücklein Stoff,
und die Ärmel reichen an die Finger.
Seine Kleidung
sieht man nur an dummen Gecken!
Äußerst bäurisch ist die Kostümierung,
die er trägt.
Wie ich höre,
spitzt er sich auf Ave, Tochter Engelbolds.
Bin ganz sicher: dabei fällt er rein.
Diese Frau wäre es wert,
Daß ein Graf sich mal in sie verliebt.
Geb ihm deshalb ganz diskret den Rat,
daß er sich von hier verdrückt.
Andernfalls
käme er in Mainz mit blauen Augen an.
Seine Jacke ist nicht schön genug geschlitzt,
Sein Gesang
trägt nicht weit –
also soll er sie in Ruhe lassen.
Diesen Sommer sah er sie
wie täglich Brot.
Rot vor Scham
wurd ich, wenn sie beieinander saßen.
Der ich gerne diente – würd sie mein,
hätt sie freie Auswahl an Besitz:
Reuental
ganz für Sie! Ich hab ein weites Herz ...
Ist dies nur literarisches Spiel? Oder gibt es Entsprechungen zwischen solch einem Liedtext und damaliger gesellschaftliche Realität?" (S.142-144)
Lesenswert sind auch die Lieder von Tannhûser (S.374-377) 1: über die Mittelmeerfahrt auf dem Kreuzzug, 2. die überzogenen Aufgaben, die eine adlige Dame ihrem Verehrer stellt, sowie das Wechselgespräch von Mutter und Tochter von Neidhart (S.377-79)
Liedbeispiel (Original)
* Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation nimmt einen Jahrhunderte währenden Prozess der Zähmung und Domestizierung der Menschen an.
Zitat aus der Wikipedia: "Je größer und dichter die Menschenräume werden, je stabiler die Gewaltmonopole werden, je ausdifferenzierter die gesellschaftlichen Funktionen, „desto mehr ist der Einzelne in seiner sozialen Existenz bedroht, der spontanen Wallungen und Leidenschaften nachgibt; desto mehr ist derjenige gesellschaftlich im Vorteil, der seine Affekte zu dämpfen vermag, und desto stärker wird jeder Einzelne auch von klein auf dazu gedrängt, die Wirkung seiner Handlungen oder die Wirkung der Handlungen von Anderen über eine ganze Reihe von Kettengliedern hinweg zu bedenken.“ (Bd. II, S. 322, 383, 404)."
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