Der Amu-Darja - An der Grenze zu Transoxanien
Aus der Geschichte sprengen die kurzmähnigen Pferde
heran, die Steppen dehnen sich, die Sümpfe drohen. Reisende aller Jahrhunderte haben sich auf diesen Grenzfluss, der den Norden Afghanistans gegenüber dem ehe
maligen russischen Reich, dem heutigen Tadschikistan,
Usbekistan und Turkmenistan abgrenzt, zubewegt, mühsam, unter Qualen und oft ohne ihn zu erreichen, weil
Überfälle, Entbehrungen, Malaria, Wurmbefall, Seuchen
dazwischenkamen. Maulbeerbäume und Tamarisken
waren die Vorboten des fernen Flusses. Man bewegte sich
in Karawanen durch die Sanddünen, und entgegen ka
men aus Transoxanien, dem Land jenseits des Stroms,
weitere Karawanen. Von ihren Kamelen hingen die Kanister mit dem Benzin, das man neben vielen anderen
Waren aus dem ehemaligen Russland auf der anderen
Flussseite bezog.
Der Amu-Darja, im Altertum auch Oxus genannt, versammelt eine mythische Landschaft um seine Ufer, von
der der Dichter Rudaki, der »Karawanenführer der Dichtkunst« genannt, im 9. Jahrhundert nach Christus fabelt,
seine rauen Ufer seien Seide unter den Füßen, seine Wellen sprängen bis zum Zaumzeug der Pferde vor Freude
über den Heimkehrer. [...]
Marco Polo hat hoch oben im Pamir die Quelle des
Stroms besucht, und am 19. Februar 1838 steht hier
der britische Leutnant John Wood, auf dem »Dach der
Welt«, wie er es nennt, über dem See des Bam i Dünjah
oder des Sir i kol, wie die Kirgisen den Quellsee des
Amu-Darja tauften, während sich vor dem staunenden
Fremden die »gefrorene Wasserfläche erstreckte, aus deren westlichen Ende der junge Oxus entsprang«. Der
schöne See, so schrieb er, besitze die »Form eines Halbmondes«.
Doch von hier aus ist es noch weit bis zu den Tälern
Nordafghanistans, und der Reisende fragt sich: Wie willst
du diese Grenzen überqueren, die Berge, die Flüsse, die
Gefechtslinien, zuletzt durch die Steppe kommen, wo die
Bewegung immer ziellos scheint. Das ist ihr Schönes.
Und wenn es einer wie Robert Byron bis an den Oxus schafft, dann hat er geschwärmt und zurückgeblickt auf
die armen Schlucker, die verendeten, bevor sie ihn er
reichten. [...]
Endlich eine Ausbuchtung, eine kleine Anhebung der
Horizontlinie. Das sind die Schafherden, bewacht von
einem jungen Hirten, der auf einem Sandhügel schläft,
einem zweiten, der zu Pferde gemächlich im Kreise trabt,
und drei bösen Hunden, die sich auch gegen Wölfe und
Schakale durchsetzen müssen und immer kampfbereit
sind. Immerhin fraßen die Wölfe im Krieg selbst von den
zurückgebliebenen Leichen.
Der Hirte weiß das, er rutscht von seinem Sandhaufen
und nähert sich ein paar Schritte. Unter seinem langen
Filzmantel trägt er einen Pullover, eine wattierte grüne
Jacke, eine Nadelstreifenweste. Mit dem langen Stab in
seiner Hand stützt er sich, schützt und dirigiert er die
Schafe, an die siebenhundert sind es, behütet von zwischen zehn und vierzehn Schäfern in dieser Gegend, gefährdet von Taranteln, Schlangen, Schakalen.
Wo er schläft?
»Irgendwo in der Steppe.«
Woher er sein Wasser bezieht?
»Es sind sechs Stunden mit den Tieren bis zur nächsten
Quelle.«
»Und ist die Herde sicher?«
»Manchmal kommen Diebe und klauen ein paar
Tiere. Aber was soll ich machen? Wir beklauen uns dann
wechselseitig.« [...]
»Was isst du?«
»Mein Brot mit etwas Fett, das ich hier in einem Döschen mit mir führe.«
Er zeigt es.
»Und warum hängst du hier rum?«, protestiert Turab
humoristisch, »statt dir in der Stadt eine vernünftige Arbeit zu besorgen?«
»Ich kann nicht.«
Er hört, wo wir zu Hause sind.
»Ihr lebt in einem guten Land, in dem es immer Regen
gibt.«
»Was verdienst du?«
»Ich bekomme ein Zehntel aller neugeborenen Schafe
eines Jahres. Wenn ich Glück habe, sind das fünfzig.«
»Wie alt bist du?«
»Weiß ich nicht. Vielleicht 21?«
»Aber du hast noch keinen Bart!«
»Kannst du mir nicht sagen, wie alt ich bin?«
Die Gespräche der Afghanen untereinander sind oft
so. Gleich sind sie bei den Lebensumständen, eigentlich
bei den vertraulichen Dingen. Nie wird eine Frage abgelehnt oder selbst in Frage gestellt. Man teilt die Geschichte wie die Atemluft. [...]
Während wir trinken, schwärmen die Kinder aus, um
den Ältestenrat zusammenzurufen, und da stehen sie
dann, fünfundzwanzig Männer, die meisten mit Turban
und in langen Gewändern, mit würdevollen, tief ernsten, auch schwermütigen Gesichtern, und mitten darin Nadia, die Exil-Afghanin, die nur mit dem Kopfschleier bedeckt, aber offenen Gesichts durch die Menge der Alten
geht, dem Gemeindehaus zu, wo sie sich die Bitten des
Rates anhören wird.
Der Saal ist gerade fertig geworden, der Stolz der Gemeinde. Man hat ihn in einer Anwandlung von Übermut
oder Idealismus mit hellblauen Wolkenmotiven ausgemalt. Das wirkt in dieser Umgebung so befremdlich neumodisch wie ein Wellnessbad unter Nomaden.
Wir sitzen auf Kissen im Kreis. Von außen drängen immer mehr Männer in den Raum. Dazwischen wieseln die
Jungen mit Tellern voller Pistazien, Mandeln, Trockenobst und Hülsenfrüchten. Es sind auch ein paar eingewickelte Bonbons auf den Tellern. Das alles kommt, ohne
dass wir eine Anweisung gehört hätten. Nur berichtet Nadia später, dass man hinter den Kulissen ausgeschwärmt
sei, um Zutaten für ein richtiges Essen herbeizuschaffen,
doch habe man sie nicht zusammen bekommen.
Kaum ergreift sie das Wort, wird es ganz still. Die Alten mit ihren in den Lebenswinter eingetretenen Gesichtern, ihrer Zukunftsangst, ihrem Festhalten an allem, was
ihnen ihre Tradition lässt, sie blicken in Nadias offenes
Gesicht und sehen, wie empfindlich die Zeit sich ändert.
Sie alle haben Nadias Vater noch gekannt. Deshalb fällt
es ihnen wohl leichter, der Tochter zuzuhören. Sie brauchen auch kein Vertrauen zu fassen, sie haben es. Aber
ihre Bitten sind groß und, gemessen an Nadias Möglichkeiten, maßlos.
Das Licht im Raum tritt plötzlich übergangslos in eine
Dämmerstimmung ein. Die Alten beißen ein paar Mandeln auf, wenden aber den Blick nicht von Nadias Gesicht, forschen, was wohl von ihr zu erwarten sei für den
Bau eines tieferen Brunnens, einer Schule, für die Besoldung eines Arztes, der sich der hiesigen Krankenstation
annähme, denn da ist niemand.
Die meisten Krankheiten kommen aus dem Wasser,
manchmal verenden Tiere im Brunnen und verunreinigen ihn, mancher ungebildete Bauer wirft einen Kadaver
zur Entsorgung einfach in den Schacht, auch Malaria
grassiert, und Nadia hört das alles an, geduldig wie zum
ersten Mal, dabei haben alle diese Geschichten die gleiche Struktur. Blicke ohne Lidschlag befestigen sich an ihren Zügen. Viele der Gesichter sind sehr fein geschnitten,
manche tendieren ins Mongolische, Asiatische. Niemand
bettelt, niemand klagt, niemand ringt die Hände, rauft
die Haare, verliert die Haltung.
Was ihre Versorgung angeht, so können sie sich in guten Jahren sechs Monate lang mit dem Verkauf von Teppichen und Vieh über Wasser halten, die zweite Hälfte
des Jahres müssen sie aus dem Eigenanbau bestreiten.
Mit dem Sonnenaufgang sind die Bauern auf den Feldern
oder bei den Tieren. Sie frühstücken Brot mit Tee und,
wenn sie haben, mit Milch.
Ich schreibe, was der Bauer berichtet. Mit dezenter
Beteiligung blickt der Raum auf das, was mich offenbar
interessiert, kaum senke ich den Stift aufs Papier, liegt
ihr Blick darauf. Was hier erzählt wird, das ist doch alles ihr normales Leben. Was soll es da zu schreiben geben?
Dass die Minengefahr auf den Feldern groß ist? Gewiss,
aber gegen die Wölfe anzukommen ist auch nicht einfach.
Die glücklichsten Bauern sind die, die einen Ochsenpflug besitzen und eine Kuh ihr eigen nennen, auf die
sie sich verlassen können. Solche Bauern können sich
manchmal sogar Dünger leisten.
»Aber schmeckt es nicht besser ohne Dünger«, frage
ich, und alles lacht, glücklich, dass sich Fremde so einig
sein können.
Das Gespräch wendet sich dem Ackerbau zu, den Ernten, dem spät ausgesäten Reis. Hinter einer Schule haben
wir ein paar Mohnblumen entdeckt. Von wo mögen
diese Samen hierher geflogen sein? Von der Straße aus
hat jedenfalls noch niemand ein Mohnfeld entdecken
können.
»Wir bauen keinen Mohn an«, konstatiert der Ortsvorsteher trocken.
»Und uns hat man gesagt, du hast vierzig Kilo gewonnen aus deinen Feldern«, ruft Turab, alles lacht erneut,
und dafür haut der Angesprochene dem Sprecher mehrmals kameradschaftlich auf die Schulter.
Doch sollten wir glauben, in diesen Dörfern verberge
sich irgendwo ein geheimer Wohlstand, dann wären wir
im Irrtum. Die Feldarbeit ist mühselig, ganz neue Dürrezeiten zerstören die Ernten, die Kinder gehen häufig schon um sechs Uhr früh in die Schule, damit sie
am späten Vormittag den Eltern wieder helfen können, [...] (S.360-370)
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30 April 2019
Roger Willemsen: Die Enden der Welt. - Der Amu-Darja
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