27 September 2019

Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel

"[...] Der eigentlichen Handlung geht ein Kapitel voran, das in Form einer historischen Abhandlung abgefasst ist und die Entwicklung der von Hesse entworfenen Welt darstellt 
(Das Glasperlenspiel. Versuch einer allgemeinverständlichen Einführung in seine Geschichte). Nach der Handlung (Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht) folgen kleinere literarische Werke, deren Autorschaft Hesse der Hauptfigur Josef Knecht zuschreibt: einige Gedichte (Die Gedichte des Schülers und Studenten) sowie Die drei Lebensläufe, die Knechts Leben in verschiedene geschichtliche Epochen zurückprojizieren sollen (Der RegenmacherDer Beichtvater und Indischer Lebenslauf). Wie auch im Hauptteil variiert Hesse hier sein altes Thema von Meister und Jünger, und zwar vorwiegend in der Form, dass der zeitweise ungetreue Jünger am Ende reuig zu seinem Meister zurückkehrt, um dessen Nachfolge anzutreten.[...]" (https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Glasperlenspiel)

"[...] Darum dürfen die Kastalier in keiner der Kulturdisziplinen, die sie so meisterhaft durchschreiten, Inhalte schaffen, denn solche würden erneute Fragmentierung bedeuten. Dem kastalischen Orden ist das archetypische Zeugungsverbot auferlegt³. Auf der Suche nach dem übergeordnet Gemeinsamen untersuchen die Ordensbrüder Musik oder Literatur von Epochen, komponieren selbst aber kein Blockflötenstück, und auch ernsthaftes Dichten ist seit Jahrhunderten verpönt. Den Studenten ist jede künstlerische Eigenschöpfung untersagt, mit Ausnahme des Schreibens fiktiver Lebensläufe. [...]
Gilt es ein Vorbild für Josef Knechts Lebenslauf zu finden, so ist es das Leben des Kung Fu Tse: Er lebte in einer Zeit der Auflösung, der sich bekämpfenden Reiche. Die Rettung sah er im Studium des Altertums, in dem er den zeitlosen Gehalt suchte und in ein Neues wandelte. Er war Zeremonienmeister; bekleidete hohe Ämter, entsagte ihnen und starb unbeachtet und zurückgezogen im Kreise seiner Schüler. Gegenüber Frauen war Kung Fu Tse gleichgültig; drei Dingen maß er höchsten Wert bei: der Pädagogie, der Musik und dem Spiel des I-Ging. Sein vornehmes Ziel galt der Heranbildung einer aristokratischen Elite; im Lernen sieht Kung Fu Tse den einzigen Weg zur Vollkommenheit, der Sinn alles Lernens ist die Praxis. Er glaubte an eine höchste Ordnung; nie glaubte er, dass vollendetes Wissen in der Welt möglich sei. Menschenliebe und Gerechtigkeitssinn hielten ihn an, über das Tao in einem Maße zu schweigen, dass ihn die Legende zum Kontrahenten von Laozi machte. [...]
Seine bemerkenswerte Komplexität verdankt das Glasperlenspiel zum guten Teil der sorglosen Versammlung verschiedener Philosophien. Stets bleibt Hesse unscharf, behauptet, wo er erweisen müsste, beschreibt, wo er gestalten sollte und woran sich die literarische Qualität eines Werkes bemisst. [...]
Hesses Romane erfuhren in den 60er Jahren eine zweite, unerwartete Rezeptionswelle. Was die Literaturwissenschaft so erstaunte, war, dass die euphorischsten Reaktionen nicht von Hesses traditioneller Zielgruppe kamen, sondern von Teenagern aus den Vereinigten Staaten bis Japan, denen der Bildungsroman und die deutsche romantische Subjektivität unbekannt waren. Was Hesse von anderen Autoren der Vor- und Nachkriegszeit jedoch abhebt und so modern macht, ist der Selbsterfahrungsstil seiner Werke.
    Die Selbstsuche und Selbsterfahrung, schon immer vorhanden als Privileg von wenigen, ist als Massenerscheinung ein Phänomen der Moderne. Wo der Glaube verloren geht, beginnt die Suche. [...]
Der überschwängliche Prophet Timothy Leary erkannte im Glasperlenspiel sogar die hellsichtig scharfe Vorwegnahme des digitalen Zeitalters. [...]
Damit hat die digitale Maschinerie in einer pervertierten Form erschaffen, wonach Platoniker und Mystiker sich Jahrhunderte gesehnt haben und was die alten „Spiele“ wie Astrologie oder I-Ging nur ungenügend vermochten: eine geistig erfahrbare Welt aus Symbolen und Regeln, in der nichts ohne Sinn ist. So wie der Glasperlenspieler, erlebt auch der zwanghafte Programmierer oder Computerspieler einen beglückenden Zustand der Versenkung – Syntax und Regeln seines magischen Kosmos sind alles, was er zur Lösung seiner Probleme benötigt, die äußere Welt wird zur Zwischenwelt. [...]"
(Ivor Joseph Dvorecky: Hermann Hesses „Glasperlenspiel“, 2015, signaturen-magazin.de)

Von Hesses Werken haben mich Demian und Siddharta am meisten beeindruckt, das war in meiner Jugend. Zu den anderen Werken habe ich nicht so den Kontakt gefunden. Das Glasperlenspiel habe ich zwar geduldig durchgelesen, aber ohne große Anteilnahme. 
Die Darstellung des "feuilletonistischen Zeitalters" konnte ich mit keiner mir bekannten Wirklichkeit in glaubhafte Verbindung bringen. Die digitale Repräsentation Welt durch Computersimulation und Computerspiel hat es zur Zeit meiner Lektüre noch nicht gegeben. Die Vorformen, die existierten, waren mir noch unbekannt, auch wenn ich übungshalber in der 9. Klasse eine Bewerbung als Programmierer bei der Zuse KG geschrieben habe.

Insgesamt habe ich die Hesse-Verehrung als Bewunderung für sein Werk nicht nachvollziehen können. Imponiert hat mir die persönliche Haltung, sein Pazifismus und seine - freilich recht einzelgängerische - Selbständigkeit.
Hesse hat keine lebensvollen Gestalten geschaffen wie etwa das Personal der Buddenbrooks oder das der Fontaneschen Romane, das einen als vertraute Bekannte durch das Leben begleitet. Schon gar nicht in seinem "Glasperlenspiel". Josef Knecht bleibt sehr abstrakt, so wie das Spiel, das er spielt.
Aber mit dem Älterwerden interessiert mich das Biographische und Autobiographische mehr. Und da hat Hesse viel zu bieten.
Bei Betrachtung eines Bildbandes über sein Leben und Werk beeindruckt mich sehr die Vielseitigkeit seiner Tätigkeit und seiner Kontakte. Und eindrucksvoll ist, wie offen er sein Lebensgefühl in allen Krisen dargestellt hat. Nicht als Vorbild, aber als Stärkung für seine Leser. Und dann seine Persönlichkeit und seine Bereitschaft, die Flüchtlinge der Nazizeit zu unterstützen und seine Leser ernst zu nehmen.
Nicht wegen der Sprachkraft, nicht wegen eines Realismus, aber wegen der Person, die dahinter steht, werde ich ihn wieder lesen. Auch weil ich sein Gedicht "Stufen" - ganz im goethe-epigonalem Stil geschrieben - halb widerwillig - wegen der Aussage mehr und mehr zu schätzen gelernt habe.

Zwei Bemerkungen von Dvorecky möchte ich noch hervorheben:
"Stets bleibt Hesse unscharf, behauptet, wo er erweisen müsste, beschreibt, wo er gestalten sollte [...]
Der überschwängliche Prophet Timothy Leary erkannte im Glasperlenspiel sogar die hellsichtig scharfe Vorwegnahme des digitalen Zeitalters."
Als ich jetzt wieder in das Glasperlenspiel hinein gesehen habe, habe ich den Eindruck gewonnen, als habe Hesse sich sogar ausdrücklich bemüht, dem Grundsatz "Bilde Künstler, rede nicht." entgegen zu handeln. So wie Stifter sich in Nachsommer und Witiko bemüht, nicht den charakteristischen, treffenden Ausdruck zu gebrauchen, sondern einen möglichst allgemeinen. 
Hesse verzichtet freilich nicht ganz auf Gestaltung. Und ein Teil der Abstraktheit ist auch dem Gegenstand geschuldet, dem Gasperlenspiel, das gleichsam von allen Wissenschaften und Künsten nur die inhaltsfreien Strukturen übernimmt, so wie Algorithmen nicht Handlungen wiedergeben, sondern nur Handlungsrezepte sind. (Daher scheint mir der Bezug auf das "digitale Zeitalter" treffend.)
Aber das abstrakte Spiel, die Ordenswelt Kastaliens sollen Hesse ja auch ermöglichen, die Abgrenzung vom nationalsozialistischen Terrorsystem in einem Maße aufrechtzuerhalten, wie es der Schweiz nicht gelungen ist.
Thomas Mann hat in Doktor Faustus seinen Helden vom Bösen erfassen lassen und darunter gelitten, dass er sich beschreibend so nah auf das Böse einließ, dass es ihm zur Qual wurde. 
Das Böse ist aus dem Glasperlenspiel hinausabstrahiert. 


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