12 Dezember 2019

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich: Heinrichs Aufbruch (Vergleich der beiden Fassungen)

"[...] »Da habe ich schon angefangen, deinen Koffer zu packen, weil du sonst vor Abgang der Post nicht mehr fertig würdest.«
Heinrich guckte in den Koffer; mit richtigem Sinn hatte die gute Frau Mappen und Bücher auf den Boden gebreitet; nur [16] hatte sie mit weniger Zartheit verschiedene Bogen und Papiere nicht genugsam zusammengeschichtet, so daß einige derselben an den Wänden des Koffers gekrümmt wurden, was der Sohn eifrig verbesserte. Für Papier haben die meisten Hausfrauen überhaupt nicht viel Gefühl, weil es nicht in ihren Bereich gehört. Die weiße Leinwand ist ihr Papier, die muß in großen, wohlgeordneten Schichten vorhanden sein, da schreiben sie ihre ganze Lebensphilosophie, ihre Leiden und ihre Freuden darauf. Wenn sie aber einmal ein wirkliches Briefchen schreiben wollen, so findet sich kaum ein veraltetes Blatt dazu, und man kann sich alsdann mit einem hübschen Bogen Postpapier und einer wohlgeschnittenen Feder sehr beliebt bei ihnen machen.
Auch hier erwies es sich, daß die Mutter eigentlich die schweren Gegenstände zuunterst gepackt hatte, um die zwölf schönen neuen Hemden zu schonen, welche sie jetzt hineinlegte.
»Trage doch recht Sorge für deine Hemden«, sagte sie, »ich habe das Tuch selbst gesponnen; siehst du, diese sechs sind fein und schön, sie stammen aus meinen jüngeren Jahren, diese sechs hingegen sind schon gröber, meine Augen sind eben nicht mehr so scharf. Alle aber sind schneeweiß, und wenn du auch, während sie noch gut sind, feinere Kleider anschaffen könntest, so darfst du doch meine Wäsche dazu tragen, weil es anständige und ehrbare Leinwand ist. Wechsle recht gleichmäßig ab, wenn du sie der Wäscherin gibst, damit nicht ein Teil zuviel gebraucht wird, und verfasse immer einen genauen Waschzettel. Und daß du mir nur das Weißzeug und dergleichen mehr estimierst als bisher und nichts verzettelst! Denn bedenke, daß du von nun an für jedes Fetzchen, das dir abgeht, bares Geld in die Hand nehmen mußt und es doch nicht so gut bekömmst, als ich es verfertigt habe. Wenigstens untersteh dich nicht mehr und wische deine kotigen Schuhe auf Spaziergängen mit neuen Taschentüchern ab, welche du nachher wegwirfst, wie du neulich getan hast! Halte auch deine zwei Röcklein gut und ordentlich und hänge sie immer in den Schrank, anstatt sie zu Hause anzubehalten [17] und halbe Tage lang so zu lesen, wie ich dich schon oft ertappt habe. Besonders wenn du sie ausbürstest, fahre nicht mit der Bürste darauf herum wie der Teufel im Buch Hiob, daß du alle Wolle abschabst!«
»Das verwünschte Kleiderputzen«, entgegnete hierauf der Sohn, welcher unterdessen beim Ausbreiten der Kleidungsstücke seine Hände auch immer unnützerweise im Koffer hatte, »das verwünschte Kleiderputzen wird überhaupt nun ein Ende nehmen; denn wenn man in der Fremde ist und sich eine ordentliche Wohnung mieten muß, so bekommt man die Bedienung mit in den Kauf. Es reut mich jeder Augenblick, den ich mit dem widerlichen Geschäft zugebracht habe.«
»Das ist wieder der Hans Obenhinaus!« rief etwas heftig die Mutter, »Bedienung! ich sage dir, lasse dich lieber nicht bedienen, wenn du dich dadurch billiger einrichten kannst. Ich sehe nicht ein, warum du nicht selbst deine Sachen in Ordnung halten solltest, während du sonst stundenlang in die Berge hineinstarrst!«
»Das verstehst du halt nicht!« hätte Heinrich fast gesagt, fand es aber für gut, die Worte zu verschlucken und sich dafür mit dem festen Vorsatze zu wappnen, hinfüro keine Schuhbürste mehr anrühren zu wollen. Das undankbare Kind vergaß hiebei gänzlich, wie rührend ihn die Mutter oft überrascht hatte, wenn er beim Antritt irgendeiner kleinen Reise, oder wenn Fremde im Hause waren, seine Schuhe glänzend gewichst fand, just wenn er mit Seufzen und falscher Scham vor dem Besuche an das verhaßte Geschäft gehen wollte.
Indessen war Frau Lee besorgt, noch eine Menge Kleinigkeiten auf die geschickteste Weise in dem Koffer unterzubringen. Dann brachte sie ein mächtiges Stück feine Seife, wohl eingewickelt, eine zierliche Nadelbüchse, Faden und Knöpfe aller Art in einem artigen Schächtelchen, eine Schere, eine gute neue Kleiderbürste, unterschiedliche Tuchabschnitzel, welche seinen Kleidungsstücken entsprachen, zusammengerollt und mit einem[18] Bindfaden vielfach umwunden, und die sie ihm ja nicht zu verlieren empfahl, indem ein gewandter Schneider die Existenz eines Rockes mit dergleichen manchmal um ein volles Jahr zu fristen vermöge. Sie geriet hiebei wieder in einigen Konflikt mit dem Sohne, welcher alle vorhandenen Lücken für die verschiedenen Bruchstücke einer alten Flöte, für ein Lineal, eine Farbenschachtel, einen baufälligen Operngucker usw. in Beschlag nehmen wollte. Ja, er machte, obgleich er kein Mediziner war, doch einen vergeblichen Versuch, einen defekten Totenschädel, mit welchem er seinem Kämmerchen ein gelehrtes Ansehen zu geben gewußt hatte, noch unter den Deckel zu zwängen. Die Mutter jagte ihn aber mit widerstandsloser Energie von dannen, und man behauptet, daß das greuliche Möbel nicht lange nachher einem ehrlichen Totengräber bei Nacht und Nebel nebst einem Trinkgelde übergeben worden sei. [...] 
Endlich saß er seiner Mutter beim Frühstück gegenüber, auf dem Stuhle, auf welchem der dreijährige Knabe schon geschaukelt hatte. Es war nun alles getan und vorbereitet; ein Mann hatte den Koffer nach der Post geholt – es war eine Totenstille in der Stube. Die Morgensonne umzirkelte die altertümlichen, ererbten Porzellantassen, welche Heinrich schon zwanzig Jahre lang durch die Hände seiner Mutter gehen sah, ohne daß je eine zerbrochen wäre. Es war ein feierlicher Moment gewesen, als er für würdig erfunden ward, sein Kinderschüsselchen mit einer dieser bunten und vergoldeten Tassen versuchsweise zu vertauschen.
Frau Lee hätte ihrem Sohne noch gern allerlei gesagt; aber sie konnte mit ihm gar nicht sentimental sprechen, sowenig als er mit ihr. Endlich sagte sie schüchtern und abgebrochen:[20]
»Werde nur nicht leichtsinnig und vergiß nicht, daß wir eine Vorsehung haben! Denke an den lieben Gott, so wird er auch an dich denken, und mach, daß du bald etwas lernst und endlich selbständig werdest; denn du weißt genau, wieviel du noch zu verbrauchen hast und daß ich dir nachher nichts mehr werde schicken können, das heißt, wenn es dir übel ergehen sollte, so schreibe mir ja, solange du weißt, daß ich selbst noch einen Pfennig besitze, ich könnte es doch nicht ertragen, dich im Elend zu wissen.«
Der Sohn schaute während dieser Anrede stumm in seine Tasse und schien nicht sehr gerührt zu sein. Die Mutter erwartete aber keine andern Gebärden, sie wußte schon, woran sie war, und fühlte sich etwas erleichtert. Ach, du lieber Himmel! dachte sie, eine Witwe muß doch alles auf sich nehmen; diese Ermahnungen zu erteilen, dazu gehört eigentlich ein Vater, eine Frau kann solche Dinge nicht auf die rechte Weise sagen; wenn das arme Kind nicht zurechtkommt, wie werde ich die Sorge mit dem gehörigen klugen Ernste vereinigen können?"
(Keller Heinrich 1. Fassung 1. Band 1. Kapitel)

"[...] Dort harrte die Mutter mit der letzten kleinen gemeinsamen Mahlzeit, die sie bereitet; die nächste sollte sie nun allein verzehren. Die Morgensonne erfüllte das Gemach mit ihrem [478] Scheine, und ich betrachtete, als wir einsilbig am Tische saßen, durch die Stille wie befremdet, die schlichten weißen Vorhänge, das alte Wandgetäfer, das Hausgeräte, wie wenn ich alles dies nie wiedersehen sollte. Das Frühstück war etwas reichlicher als gewöhnlich bedacht, hauptsächlich damit ich nicht in den nächsten Stunden Schon hungrig zu werden und Geld auszugeben brauchte, aber auch weil die Mutter sich mit dem Reste den übrigen Tag hindurch nähren und heute für sich allein nicht mehr kochen wollte. Als sie das beiläufig sagte, ward ich ganz betreten und wollte erwidern, sie müsse das ja nicht tun, wenn ich nicht eine traurige Vorstellung mit mir nehmen solle. Allein ich brachte kein Wort hervor, an dergleichen Äußerungen nicht gewöhnt, indessen die Mutter nach Worten suchte, um diejenigen letzten Ermahnungen an mich zu richten, die sonst einem Vater obliegen. Da sie aber die Welt nicht kannte noch die Tätigkeiten und Lebensarten, denen ich entgegenging, und doch wohl fühlte, daß etwas nicht richtig sei in meinen Geschichten und Hoffnungen, ohne daß sie nachweisen konnte, worin es lag, so beschränkte sie sich schließlich auf den kurzen Zuspruch, ich solle Gott nie vergessen. Dieses Allgemeine, welches freilich alles umfaßte und ausdrückte, was sie mir hätte sagen können, weil ich ein ungebrochenes theistisches Glauben und Fühlen in mir trug, nahm ich mit dem Schweigen entgegen, das von selbst eine Bejahung ist. Und da zugleich die Kirchenglocken einfielen und eine um die andere rasch zusammenklangen, so blieb jenes Wort das letzte zwischen uns gesprochene; denn die Minute war da, wo ich aufzubrechen hatte. Ich sprang auf, nahm Mantel und Tasche und gab der Mutter die Hand zum Lebewohl. Unter der Stubentüre, als sie mich begleiten wollte, drängte ich sie sanft zurück, zog die Türe zu und eilte allein auf die Post, von wo ich bald darauf in einem der schweren, mit fünf Pferden bespannten Eilwagen saß, die jeden Morgen im Trabe die steilen, schlecht gepflasterten Gassen der Bergstadt hinunterrasselten. [...]" (Keller: Der grüne Heinrich, 2. Fassung, 3. Band  10. Kapitel

Aus der Sicht des Ich-Erzählers braucht auf Einzelheiten des Kofferpackens nicht eingegangen zu werden. Statt dessen wird der Totenschädel, "
das greuliche Möbel", zu einer etwa 18 Seiten umfassenden Erzählung von Zwiehahn ausgebaut, die ein merkwürdiges Licht auf Heinrichs gesamtes Unternehmen in Deutschland wirft.  

sieh auch: 
http://www.waltermorgenthaler.ch/keller/GH/GH_Parallel.htm (Text des Romans: die beiden Fassungen parallel)

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