27 Dezember 2019

Keller: Der grüne Heinrich - Heimkehr (2. Fassung)

Bei seiner Rückkehr erkennt Heinrich, dass die Hoffnung auf eine Verbindung mit Dortchen Schönfund ein Trugbild war, das ihn daran gehindert hat, früher zu seiner Mutter zurückzukehren.
Im Unterschied zur ersten Fassung des Romans [Interpretation des Schlusses der 1. Fassungkommt Heinrich aber früh genug zurück, um seine Mutter noch lebend zu erleben, von ihr angesehen zu werden - wenn auch ohne Kontaktmöglichkeit - und ihr dann die Augen zuzudrücken und die Totenwache zu halten.
So gibt die 2. Fassung gibt Raum für einen versöhnlichen Schluss.
Wie der aussieht, wird hier vorgestellt.


"[...] Der Gedanke, daß unglücklicher Zufall und die Arglist Gewinnsüchtiger die Hand im Spiel gehabt, erleichterte keineswegs die Last, welche jählings auf mein Gewissen fiel mit einem Gewichte, gegen welches der Druck von Dorotheas eisernem Bilde leicht wie eine Flaumfeder schien; oder auch umgekehrt: ich möchte sagen, daß die Schwere in ein Gefühl der Leerheit überging, wie der höchste Kältegrad einem Brennen gleicht. Es war fast, wie wenn meine eigene Person aus mir wegzöge. Die Aufforderung der freundlichen Nachbarsleute, das Nachtlager bei ihnen zu nehmen, lehnte ich ab, weil es mir unmöglich schien, die Mutter allein zu lassen. Ich ging mit der anbrechenden Abenddämmerung in unser Haus zurück. Jetzt stand auch der schwärzliche Spenglermeister unter seiner Stubentüre; ich grüßte ihn, und er lud mich mit forschendem Blick ein, bei ihm anzukehren, was ich ausschlug, indem ich nur um ein Licht bat. Mit einem solchen versehen, stieg ich wieder unter das Dach hinauf, trat in das Kämmerchen und zündete das alte Messinglämpchen an, bei dessen Schein ich sie die Jahrzehnte hindurch in den langen Winterabenden hatte sitzen sehen. Das Lämpchen war vernachlässigt und nicht mehr blank, jedoch mit Öl gefüllt. Da lag sie nun in ihrem Frieden, und ich, der ich so gedankenlos gezögert, zu ihr zu kommen, fand jetzt nur noch einigen Trost an ihrer stillen Gegenwart, an deren Aufhören ich nicht denken durfte. Ich machte mir mit meiner unglücklichen Schachtel zu schaffen, öffnete dieselbe und zog den feinen Wollenstoff hervor, den ich zu einem Kleide bestimmt hatte. Im Begriff, das Stück auseinander zu falten und es als leichte schützende Decke über das Bett und die Leiche zu legen, um es ihr nur irgendwie noch nahezubringen, fiel mir doch die Nutzlosigkeit einer so gezierten Handlung in so ernster Stunde auf die Seele; ich wickelte das Zeug zusammen und verbarg es wieder in der Schachtel. Obschon ich von der mehrtägigen Fußreise ermüdet war, brachte ich nun die Nacht aufrecht auf dem Strohsesselchen am Fenster zu und schlief dennoch zeitweise, wobei allerdings das Erwachen jedesmal zwiefach schmerzlich war, wenn ich mich aufs neue der Gegenwart der stillen Mutter versicherte. [...]"

Heinrich entdeckt einen Text seiner Mutter:
"»Wenn es nun Gott wirklich geschehen läßt, daß mein Sohn unglücklich werden und ein irrendes Leben führen sollte, so tritt die Frage an mich heran, ob nicht mich, seine Mutter, die Verschuldung trifft, insofern ich es in meiner Unwissenheit an einer festen Erziehung habe mangeln lassen und das Kind einer zu schrankenlosen Freiheit und Willkür anheimgestellt habe. Hätte ich nicht suchen sollen, daß unter Mitwirkung Erfahrener einiger Zwang angewendet und der Sohn einem sicheren Erwerbsberufe zugewendet wurde, statt ihn, der die Welt nicht kannte, unberechtigten Liebhabereien zu überlassen, die nur geldfressend und ziellos sind. Wenn ich sehe, wie wohlgestellte Väter ihre Söhne zwingen, oft schon vor dem zwanzigsten Jahre ihr Brot zu verdienen, und wie das solchen Söhnen nur zu nützen scheint, so fällt der traurige, altbekannte Selbstvorwurf mir doppelt schwer, und ich hätte in meiner Arglosigkeit nie gedacht, daß eine solche Erfahrung mich jemals heimsuchen könnte. Freilich habe ich seinerzeit um Rat gefragt; als man aber den Wünschen des Kindes nicht zustimmte, hörte ich auf zu fragen und ließ es gewähren. Damit habe ich mich über meinen Stand erhoben, und indem ich mir einbildete, ein Genie in die Welt gesetzt zu haben, die Bescheidenheit verletzt und das Kind geschädigt, daß es sich vielleicht niemals erholen wird. Wo soll ich nun die Hilfe suchen?« 
Hier brach die Schrift ab; denn vom nächsten Worte stand nur noch der Anfangsbuchstabe. An wen der Brief gerichtet war, ob er mit oder ohne obiges Bruchstück oder gar nicht abgegangen, wußte ich nicht, und eine Antwort fand ich unter den aufbewahrten Briefschaften nicht vor. Wahrscheinlich hatte sie die Sache doch unterdrückt. Dagegen verschmolz sich nun die in dem Gedichte von dem verlorenen Glücke aufgeworfene wunderliche Rechtsfrage mit derjenigen des Brieffragmentes und fiel mir zu Lasten als dem einzigen haftbaren Inhaber der Schuld. So war nun der Spiegel, welcher das Volksleben widerspiegeln sollte, zerschlagen und der Einzelmann, der an der Volksmehrheit so hoffnungsreich mitwachsen wollte, rechtlos geworden. Denn da ich die unmittelbare Lebensquelle, die mich mit dem Volke verband, vernichtet hatte, so besaß ich kein Recht, unter diesem Volke mitwirken zu wollen, nach dem Worte: Wer die Welt will verbessern helfen, kehre erst vor seiner Türe. [...]"

Doch er entschließt sich später dann doch dafür, als kleiner Beamter seinem Volk zu dienen. 
Dazu tragen auch die Nachrichten bei, die er über Dortchen Schönfund  vom Grafen erhält:
»Was unser Dortchen betrifft«, fuhr er fort, »so erfährt sie, und wir anderen mit ihr, in gehäuftem Maße auch ihr Teil. Seit Du weg bist, hat sich das Abenteuer begeben, daß sie – meine blutsverwandte Nichte und nichts anderes geworden ist! Ich kann Dir den Hergang nicht des weitern auseinandersetzen, nur mit ein paar Strichen andeuten: Von der bald nach dem Tode meines in den südamerikanischen Händeln umgekommenen Bruders ebenfalls verstorbenen Witwe ist durch Letzten Willen verordnet worden, es solle das Kind durch zuverlässige Leute seinen deutschen Verwandten zugesandt werden. Diese Leute sind aber untreu gewesen. Um gewisse Vermögensteile, die man unvorsichtigerweise ihnen zugleich mitgegeben hat (übrigens unbedeutende Summen), behalten zu können, haben sie mir das Kind auf dem Wege der Aussetzung in die Hände gespielt. Sie haben sich richtig bei jenen Auswanderern nach Südrußland befunden oder sich ihnen vielmehr auf dem Wege in der Donaugegend angeschlossen und die Sache sehr schlau angestellt. Da aus Amerika nie mehr eine Nachfrage anlangte, so wenig wie früher ein Bericht von der Absendung des Kindes und dem Tode der Mutter, so hat alles so geschehen können. [...]
Vor vier Wochen hat sich Gräfin Dorothea W...berg (eigentlich heißt sie von Haus aus Isabel) mit einem jungen Freiherrn Theodor von W...berg verlobt. Das ist nämlich ein hübscher und wackerer Gesell aus einer Linie der so benamsten Leute, welche die unsrige seit Jahrhunderten nichts mehr angeht. Man wird ihm den Grafentitel verschaffen und ich werde gestatten, daß das Majorat auf ihn übergeht. Denn ich habe ebensowenig Grund, das Fortbestehen des Namens zu verhindern, als dasselbe zu wünschen. Wie die Dinge stehen, ist es mir absolut gleichgültig, wenn ich etwa von dem Vergnügen absehe, das ich dem Kinde mache, indem ich seinem Bräutigam gefällig bin. 
Nun kommt aber noch eine Betrachtung, die uns beide angeht, lieber Freund Heinrich! Ich habe gut gesehen, daß Du Dich in Dortchen verliebt hast! Ich habe getan, als sähe ich es nicht, weil ich mich in dergleichen nicht mische, wo die Leute sich selbst helfen können und wissen, was sie zu tun haben. Besonders die langhaarige Nation ist so unberechenbar, daß es nicht lohnend ist, sich ohne Not mit gutem Rate bloßzustellen. Auch Du bist dem Kinde nicht gleichgültig gewesen und auch jetzt noch gut angeschrieben, und es stellt sich die Sache ungefähr so: Hättest Du, was Du als maßhaltender Mensch nicht getan hast, während Deines Hierseins die Zeit und Deinen Vorteil wahrgenommen, oder hättest Du bald nach der Ankunft in Deinem Vaterlande von Dir hören lassen, so wäre, glaub ich, Dorothea bis zur Stunde die Deinige geblieben. Nachdem Du aber eine so rätselhafte Zeit hast verstreichen lassen, ist sie über diese Kluft weggesprungen, als der entschlossene Freier erschien, der sie zugleich in so glücklicher Weise wieder in die weltliche Ordnung einreiht. Aber auch von diesem Begreiflichen abgesehen, müssen wir die Unbeständigkeit des Kindes, soweit eine solche vorhanden ist, nicht hart beurteilen. Die guten Weiblein sind so auf sich selbst angewiesen und müssen im Grunde die Suppe, die sie sich einbrocken, oft so ganz allein ausessen mit allerlei Leiden und Schmerzen, daß sich hieraus die Plötzlichkeit wohl erklären läßt, mit der ihre Instinkte zuweilen umschlagen. [...]"

Da kommt Heinrich zu der Erkenntnis:
"[...] der Umweg über das Grafenschloß hatte mich nicht nur die Mutter, sondern auch den Glauben an ihr Wiedersehen und an den lieben Gott selbst gekostet, alles Dinge indessen, deren Wert nicht aus der Welt fällt und immer wieder zum Vorschein kommt. [...]" (Keller: Der grüne Heinrich 2. Fassung)

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