26 Dezember 2020

Homer: Odyssee

 Proömium

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,

Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung,

Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat

Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,

Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.

Aber die Freunde rettet' er nicht, wie eifrig er strebte;

Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben:

Toren! welche die Rinder des hohen Sonnenbeherrschers

Schlachteten; siehe, der Gott nahm ihnen den Tag der Zurückkunft.

Sage hievon auch uns ein weniges, Tochter Kronions.


Alle die andern, soviel dem verderbenden Schicksal entflohen,

Waren jetzo daheim, dem Krieg entflohn und dem Meere:

Ihn allein, der so herzlich zur Heimat und Gattin sich sehnte,

Hielt die unsterbliche Nymphe, die hehre Göttin Kalypso,

In der gewölbeten Grotte und wünschte sich ihn zum Gemahle.

Selbst da das Jahr nun kam im kreisenden Laufe der Zeiten,

Da ihm die Götter bestimmt, gen Ithaka wiederzukehren,

Hatte der Held noch nicht vollendet die müdende Laufbahn,

Auch bei den Seinigen nicht. Es jammerte seiner die Götter;

Nur Poseidon zürnte dem göttergleichen Odysseus

Unablässig, bevor er sein Vaterland wieder erreichte.

Dieser war jetzo fern zu den Aithiopen gegangen:

Aithiopen, die zwiefach geteilt sind, die äußersten Menschen,

Gegen den Untergang der Sonnen und gegen den Aufgang:

Welche die Hekatombe der Stier' und Widder ihm brachten.

Allda saß er, des Mahls sich freuend. Die übrigen Götter

Waren alle in Zeus' des Olympiers Hause versammelt.

Unter ihnen begann der Vater der Menschen und Götter;

Denn er gedachte bei sich des tadellosen Aigisthos,

Den Agamemnons Sohn, der berühmte Orestes, getötet;

Dessen gedacht er jetzo und sprach zu der Götter Versammlung:[441]

Welche Klagen erheben die Sterblichen wider die Götter!

Nur von uns, wie sie schrein, kommt alles Übel; und dennoch

Schaffen die Toren sich selbst, dem Schicksal entgegen, ihr Elend.

So nahm jetzo Aigisthos, dem Schicksal entgegen, die Gattin

Agamemnons zum Weib und erschlug den kehrenden Sieger,

Kundig des schweren Gerichts! Wir hatten ihn lange gewarnet,

Da wir ihm Hermes sandten, den wachsamen Argosbesieger,

Weder jenen zu töten noch um die Gattin zu werben.

Denn von Orestes wird einst das Blut Agamemnons gerochen,

Wann er, ein Jüngling nun, des Vaters Erbe verlanget.

So weissagte Hermeias; doch folgte dem heilsamen Rate

Nicht Aigisthos, und jetzt hat er alles auf einmal gebüßet.

Drauf antwortete Zeus' blauäugichte Tochter Athene:

Unser Vater Kronion, der herrschenden Könige Herrscher,

Seiner verschuldeten Strafe ist jener Verräter gefallen.

Möchte doch jeder so fallen, wer solche Taten beginnet!

Aber mich kränkt in der Seele des weisen Helden Odysseus

Elend, welcher so lang, entfernt von den Seinen, sich abhärmt

Auf der umflossenen Insel, der Mitte des wogenden Meeres.

Eine Göttin bewohnt das waldumschattete Eiland,

Atlas' Tochter, des Allerforschenden, welcher des Meeres

Dunkle Tiefen kennt und selbst die ragenden Säulen

Aufhebt, welche die Erde vom hohen Himmel sondern.

Dessen Tochter hält den ängstlich harrenden Dulder,

Immer schmeichelt sie ihm mit sanft liebkosenden Worten,

Daß er des Vaterlandes vergesse. Aber Odysseus

Sehnt sich, auch nur den Rauch von Ithakas heimischen Hügeln

Steigen zu sehn und dann zu sterben! Ist denn bei dir auch

Kein Erbarmen für ihn, Olympier? Brachte Odysseus

Nicht bei den Schiffen der Griechen in Trojas weitem Gefilde

Sühnender Opfer genug? Warum denn zürnest du so, Zeus?

(1. Gesang)


Inhaltsüberblick:

    "1. bis 4. Gesang

Der Rat der Götter beschließt, Odysseus die Heimkehr zu ermöglichen. Dafür wird der Götterbote Hermes zur Nymphe Kalypso gesandt, die Odysseus sieben Jahre lang auf ihrer Insel zurückgehalten hat. Unterdessen begibt sich die Göttin Athene in Odysseus’ Heimat Ithaka, wo seine Frau Penelope von zahlreichen Freiern bedrängt wird, einen von ihnen zu heiraten. In Gestalt des väterlichen Freundes Mentes überredet Athene Odysseus’ Sohn Telemachos, sich auf die Suche nach dem vermissten Vater zu machen. Dieser segelt daraufhin nach Pylos zu Nestor und begibt sich anschließend zu Menelaos nach Lakonien, um Informationen über seinen verschollenen Vater zu bekommen. Die Freier planen in der Zwischenzeit einen Mordanschlag auf Telemachos und bereiten einen Hinterhalt an der zwischen Ithaka und Samos gelegenen Insel Asteria vor.

5. bis 8. Gesang

Hermes gelingt es, Kalypso zu überreden, Odysseus ziehen zu lassen. Auf einem selbstgebauten Floß verlässt Odysseus Kalypsos Insel Ogygia. Doch als am 18. Tag das Phaiakenland bereits in Sichtweite ist, erregt sein Widersacher, der Meeresgott Poseidon, einen Sturm, der das Floß schwer beschädigt und zum Kentern bringt. Mit Unterstützung der Nymphe Ino Leukothea rettet sich Odysseus mit letzter Kraft schwimmend an die Küste Scherias, der Heimat der Phaiaken. Er begegnet am Strand der Königstochter Nausikaa, die ihm den Weg zum Palast ihrer Eltern weist. Diese nehmen Odysseus gastfreundlich auf.

9. bis 12. Gesang

Im zentralen Teil des Epos erzählt Odysseus im Haus des Phaiakenkönigs Alkinoos die Geschichte seiner Irrfahrten 
(siehe unten: 
Die Irrfahrten des Odysseus).

13. bis 16. Gesang

Nun werden die beiden Handlungsstränge, die Telemachie und die eigentliche Odyssee, zusammengeführt. Odysseus kehrt mit Hilfe der Phaiaken nach Ithaka heim, muss sich aber im Haus des treuen Sauhirten Eumaios verbergen, bis er den Kampf mit den Freiern wagen kann. Inzwischen bricht Telemachos aus Sparta auf. Ohne bei Nestor zu übernachten, begibt er sich, nachdem er abends Pylos erreicht, direkt auf sein Schiff und kehrt nach Ithaka zurück. Dem Anschlag der Freier, vor denen ihn Athene gewarnt hat, kann er entgehen. Er begibt sich zu Eumaios und trifft dort auf seinen Vater Odysseus.

Odysseus erschießt seine Gegner

17. bis 20. Gesang

Zu seinem Schutz verleiht Athene Odysseus die Gestalt eines Bettlers. Als solcher kehrt er nach 20 Jahren in sein Haus zurück, wo ihn zunächst nur sein alter sterbender Hund Argos wiedererkennt, später auch die alte Magd Eurykleia. Insgeheim bereitet sich Odysseus auf den Kampf mit den Freiern vor.

21. und 22. Gesang

Bei einem Bogenkampf gibt sich Odysseus zu erkennen und tötet mit Hilfe von Telemachos und Eumaios die Freier sowie die Mägde und Knechte, die sich als untreu erwiesen haben.

23. und 24. Gesang

Odysseus sieht nach 20 Jahren seine Frau Penelope wieder. Doch erst nachdem sie ihn mit einer List auf die Probe gestellt hat, erkennt sie in ihm den Gatten. Anschließend besucht Odysseus seinen alten Vater Laërtes. In der Unterwelt preisen Achilleus und Agamemnon, Odysseus’ Mitkämpfer vor Troja, dessen siegreiche Heimkehr. Die Göttin Athene schlichtet den Streit zwischen Odysseus und den Verwandten der getöteten Freier. "
(Wikipedia: Die 24 Gesänge)

Schluss des Epos:


Aber Odysseus fiel und Telemachos unter die Feinde,

Hauten und stachen mit Schwertern und langgeschafteten Spießen.

Und nun hätten sie alle vertilgt und zu Boden gestürzet;

Aber die Tochter des Gottes mit wetterleuchtendem Schilde,

Pallas Athene rief und hemmte die streitenden Scharen:

Ruht, ihr Ithaker, ruht vom unglückseligen Kriege!

Schonet des Menschenblutes und trennet euch schnell voneinander!

Also rief die Göttin; da faßte sie bleiches Entsetzen:

Ihren zitternden Händen entflogen die Waffen, und alle

Fielen zur Erd, als laut die Stimme der Göttin ertönte.

Und sie wandten sich fliehend zur Stadt, ihr Leben zu retten.

Aber fürchterlich schrie der herrliche Dulder Odysseus

Und verfolgte sie rasch, wie ein hochherfliegender Adler.

Und nun sandte Kronion den flammenden Strahl vom Olympos,

Dieser fiel vor Athene, der Tochter des schrecklichen Vaters.

Und zu Odysseus sprach die heilige Göttin Athene:

Edler Laertiad, erfindungsreicher Odysseus,[775]

Halte nun ein und ruhe vom allverderbenden Kriege,

Daß dir Kronion nicht zürne, der Gott weithallender Donner!

Also sprach sie, und freudig gehorcht' Odysseus der Göttin.

Zwischen ihm und dem Volk erneuete jetzo das Bündnis

Pallas Athene, die Tochter des wetterleuchtenden Gottes,

Mentorn gleich in allem, sowohl an Gestalt wie an Stimme.

(24. Gesang)


Kann dieses Werk vom selben Autor verfasst worden sein wie die Ilias? Zu welchem Zeitpunkt wäre die Entstehung eines Werks, das so deutliche Zeichen der Mündlichkeit trägt, überhaupt denkbar? Diese Fragen werden heute zusammengefasst als Forschungsgegenstand Homerische Frage behandelt.

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