08 März 2022

Rüdiger Safranski: Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung

 Rezensionen

bei Perlentaucher

Burkhard Müller : Me, myself and I, SZ 4.3.22

"[...] Als Abschluss wählt er Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" und folgt dem anscheinend unwiderstehlichen Drang, sie zu interpretieren: "Doch wenigstens solange man lebt, ist es nie zu spät für den eigenen Eingang, dafür, ein Einzelner zu sein." Unter den vielen Deutungen, die diese Geschichte über den Mann vom Land und den Türhüter schon gefunden hat, ragt diese durch ihren außergewöhnlich sonnigen Charakter hervor."

ZUM INHALT:

Luther (S.32ff) habe sich, so S. beim Versuch der Emanzipation von der väterlichen Autorität ins Kloster begeben, wo er materiell unabhängig vom Vater war, dann aber beim Versuch, ein vorbildlicher Mönch zu sein, über Askese und Selbstquälerei in eine Sackgasse geraten, als er dann bei der Passage im Römerbrief die Gnade erfuhr, glauben zu können, dass seine eigenen Anstrengungen gar nicht erforderlich seien. Das sei freilich nicht ein ruhiger Endzustand, weil ihn immer wieder Zweifel, "Anfechtungen", überkamen, ob er nicht doch vom Teufel, statt von Gott geritten sei. 

Montaigne (S: 46 ff) sieht S. in der Tradition der Nominalisten ganz auf die Einzelheit ausgerichtet, weil alles sich von allem unterscheide, also nicht für alle Einzelheiten gelte. Sein Buch sei das erste, das - hier greift S. Montaignes Selbstaussage auf -, das nur das eigene Weltverständnis zu erkunden suche. Die kirchlichen und "staatlichen" Regeln erkennt er an, weil sie das, was ihn wirklich angeht, nicht betreffen. - Dies ganz im Gegensatz zu Luther, der mit seiner Befreiungserfahrung alle missionieren will.

Erste Zwischenbilanz
"Dass man unterschieden wird, von außen und von anderen, ist gewissermaßen die passive Seite des Unterschiedes. Doch es gibt auch die aktive. Man will sich zu seinem Vorteil unterscheiden und empfindet es als kränkend, wenn dieser Unterschied nicht bemerkt wird. Darum geht der Kampf um Anerkennung: Man möchte als dieser Besondere, der man ist, anerkannt werden. Normativ gesehen ist die Gleichheit die Voraussetzung, und der Unterschied und seine Anerkennung sind das Ziel". (S.64 )

Genau das, was bei den "Diversen" gegenwärtig geschieht.

Rousseau S.67 ff

Sich selbst als der originellste Einzelne gesehen und anderererseits im Gesellschaftsvertrag totale Unterwerfung unter die Gesellschaft gefordert.

Diderot S.80ff

Der Einzelne als geselliges Genie

"Das wahre Selbst ist ihm eine leere Mitte, wo man nichts findet, was einem Halt gibt. Wahrheiten sind nicht tief drinnen zu finden, sondern draußen im gesellschaftlichen Spiel, ..." (S.80)

Freundschaft mit Rousseau, die völlig zerbricht; er heilt sich mit der Erzählung "Rameaus Neffe", wobei der Neffe Züge von Rousseau trägt, aber sich weniger als von sich selbst überzeugt gibt.

Stendhal S.93ff

Stendhal  strebte Erfolg bei Frauen, Ruhm und Geld an. Das ergänzt sich zum Teil, doch beim Geld muss er leider, um den Eindruck zu erwecken, den er erwecken will, über seine Verhältnisse leben. 

Zweite Zwischenbetrachtung S.104ff

Kierkegaard S.109ff

Max Stirner S.128ff

Nietzsche

Thoreau S.141ff
"Stirner kommt an bei sich selbst, seinem schöpferischen Nichts. Für Thoreau aber öffnet sich eine ganze Welt: er hat entdeckt: Eine Natur, wie er sie bisher noch nicht erlebt hat, eine Natur, die ihm erlaubt und ihn auch dazu zwingt, von sich selbst abzusehen und die Herausforderung ihrer überwältigenden Präsenz anzunehmen. Stirner verliert bei seinem Befreiungsversuch die Welt, Thoreau gewinnt sie. Der eine schrumpft, der andere weitet sich. Der eine verarmt bei der Abwehr, der andere gewinnt bei der Hingabe."
"Das Leben im Wald hatte ihn gelehrt, dass die Natur ihn zu sich selbst zurückruft, dass sie ihm die Verantwortung für seine Existenz nicht abnimmt. Sie spendet nicht das Glück pränataler Geborgenheit. Sie ist keine Mutter. In der Natur hatte er sich entdeckt in mitten von etwas Absolutem, das man nicht besetzen kann, sondern dem gegenüber man sich nur behauptet, wenn man es versteht, sich einzufügen. Dort am Walden-Teich war ihm etwas gelungen, was ihm das Leben in der Gesellschaft allein nicht hätte geben können: Nämlich draußen in der Gesellschaft mitzukämpfen für die Befreiung und dabei mit sich selbst verbunden zu bleiben." (S.152)

Dritte Zwischenbetrachtung S.153 ff

Stefan George S.158ff

Ricarda Huch S.174 ff

Im Schatten des Zeitalters der Massen Simmel, Weber, Gustave Le Bon S.187ff

Jaspers und Heidegger S.205ff


Hannah Arendt (S.224ff)
Hier bewährt sich für mich Safranskis Fähigkeit, ganz wenige Punkte zentral zu stellen und von da aus zu erklären.

Die ersten Schritte ihrer politischen Philosophie Arbeiten und Herstellen und dem Handeln, das Freiheit, das spezifisch Menschliche ermöglicht, sind meist im wesentlichen schon bekannt. Dass der Mensch als denkendes (über etwas denkendes) Wesen in einen Dialog mit dem anderen in sich selbst tritt (ihr Verständnis von Gewissen) meist weniger. 
Eichmann als der "banal Böse" ist der Gewissenlose im wahrsten Sinne des Wortes, der deshalb zum Rädchen in einer Maschine werden kann. [Hitler, über den ich von ihr nichts gelesen habe, wäre danach etwas anderes, weil er im Handeln ein von sich selbst gesetztes Ziel verfolgte, das er natürlich von anderen übernommen hatte, aber das er sich zu eigen machte, dem er nicht mechanisch folgte.] 

Zu beachten ist freilich, dass Eichmann am Schluss, als die Judenvernichtung Hitler nicht mehr interessierte, sie weiter verfolgte. Da hat er offenbar die ihm gestellte Aufgabe so sehr als sein Werk empfunden, dass er es aus Selbstliebe vollenden wollte.

Das Zwei in Eins im über etwas denkenden Menschen von Arendt war mir neu und ist für mich ein Bild für das Philosophieren überhaupt. (Bemerkenswert, dass Safranski Arendts Philosophie in vielem als Gegenbild zu der Heideggers sieht.)

Jean Paul Sartre, S.236 ff

Ernst Jünger S.251ff
Im Arbeiter wird die Gesellschaft organisiert um ein Produkt zu erstellen, der einzelne ist nur wichtig als Teil der Produktionsmaschine. (Vergleiche: Herstellen bei Hannah Arendt)
Ernst Jünger spricht von seinen Schriften vor Ende des Zweiten Weltkrieges als von dem Alten Testament. Die danach sei das Neue Testament. Seine Schrift der 'Waldgänger 'von 1950 ist also das erste Buch des 'Neuen Testaments'.
"Das Bild des Waldgang als changiert zwischen Gottsucher und Partisanen, wie auch die Gesellschaft mal totalitär und mal bloß konformistisch erscheint.
Doch bei alledem hält sich im 'Waldgang' eine Idee durch, die vielfach variiert wird: es geht um die Seinsverdichtung, die dann erfahren wird, wenn jemand sich entschließt, aus der Statistik heraus zu treten und seine unverwechselbare eigene Existenz zu ergreifen. Dabei entscheidet sich dann, Zitat Jünger "ob er sein So-Sein höher als sein Da-Sein schätzt."
Das beschreibt ganz gut, worum es eigentlich geht beim Versuch, ein Einzelner zu sein. (S.260)



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