"[181] Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen. [...]
In den hohen Gebirgen unsers Vaterlandes steht ein Dörfchen mit einem kleinen, aber sehr spitzigen Kirchturme, der mit seiner roten Farbe, mit welcher die Schindeln bemalt sind, aus dem Grün vieler Obstbäume hervor ragt, und wegen derselben roten Farbe in dem duftigen und blauen Dämmern der Berge weithin ersichtlich ist. Das Dörfchen liegt gerade mitten in einem ziemlich weiten[183] Tale, das fast wie ein länglicher Kreis gestaltet ist. Es enthält außer der Kirche eine Schule, ein Gemeindehaus und noch mehrere stattliche Häuser, die einen Platz gestalten, auf welchem vier Linden stehen, die ein steinernes Kreuz in ihrer Mitte haben. Diese Häuser sind nicht bloße Landwirtschaftshäuser, sondern sie bergen auch noch diejenigen Handwerke in ihrem Schoße, die dem menschlichen Geschlechte unentbehrlich sind, und die bestimmt sind, den Gebirgsbewohnern ihren einzigen Bedarf an Kunsterzeugnissen zu decken. [...]
Der größte Herr, den die Dörfler im Laufe des Jahres zu sehen bekommen, ist der Pfarrer. Sie verehren ihn sehr, und es geschieht gewöhnlich, daß derselbe durch längeren Aufenthalt im Dörfchen ein der Einsamkeit gewöhnter Mann wird, daß er nicht ungerne bleibt, und einfach fortlebt. Wenigstens hat man seit Menschengedenken nicht erlebt, daß der Pfarrer des Dörfchens ein auswärtssüchtiger oder seines Standes unwürdiger Mann gewesen wäre. [...]"
(Stifter: Bergkristall, S.181/83)
Es dauert 17 Seiten, bis die Hauptpersonen geboren werden, bis die Handlung beginnt. Die fortlaufende Handlung beginnt erst nach 20 Seiten. Nicht üblich, aber auch nicht völlig ungewöhnlich.
Mir fiel bei der heutigen Lektüre als Besonderheit auf, dass zwar von Handwerkern gesprochen wird, aber nur sehr abstrakt. Ihre Berufe werden verschwiegen:
"Diese Häuser sind nicht bloße Landwirtschaftshäuser, sondern sie bergen auch noch diejenigen Handwerke in ihrem Schoße, die dem menschlichen Geschlechte unentbehrlich sind, und die bestimmt sind, den Gebirgsbewohnern ihren einzigen Bedarf an Kunsterzeugnissen zu decken." (S.183)
Etwas später freilich wird sehr ausführlich über den Schuster berichtet, bevor die Hauptpersonen überhaupt nur genannt werden. Diese die Konkretion vermeidende Darstellung ist typisch für Stifters Altersstil. Als er die Erzählung herausbrachte 1845, war er aber erst 40 Jahre, der Titel war damals noch "Der heilige Abend". In der Sammlung "Bunte Steine" von 1853 hatte sie, angepasst an die anderen Erzählungen, den Titel "Bergkristall".
Berühmt ist sie für ihre Schilderung von Eis und Schnee, eine von Stifter auch an anderen Stellen intensive betriebene Übung.
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