Peter Bichsel: Über Gott und die Welt. Texte zur Religion (Hrsg. Andreas Mauz). Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009 (st 4154)
Bichsel schreibt nicht im übertragenen Sinne über "Gott und die Welt", sondern über Gott und die Welt und sein Verhältnis zu diesen beiden und zur Kirche.
Der Herr ist mein Trotz
"Ich bin ein anderer - das ist Trotz.
Und der wunderbare Satz von Dorothee Sölle ist ein trotziger Satz: "Christ sein bedeutet das Recht, ein Anderer zu werden." [...] Ich weiß nicht ob ich an einen Gott glaube [...]
Trotzdem, trotzdem – ich brauche ihn. Nicht einfach als Tröster und Helfer, nicht einfach als einen bei dem sich der Leichtathlet durch Bekreuzigen einen Hochsprungweltrekord erbetet – ich brauche ihn, damit das alles, was ist, nicht sinnlos ist – und damit das alles, was ist, nicht alles ist." (S.12)
"Ich brauche ihn nicht, um zu überleben. Ich brauche ihn nur, um leben zu können. [...] Ich brauche ihn, damit es sinnvoll ist, dass diese Welt mich überlebt." (S.13)
Abschied von einer geliebten Kirche
Bichsels Eltern gehörten zur Kirche, weil es sich so gehörte, weil sie sich richtig verhalten wollten. Aber sie sprachen nicht davon.
Seine Mutter hielt ihn zwar dazu an, in die Sonntagsschule zu gehen, war aber wohl nicht gläubig. Religiöses behandelten sie mit Diskretion. Sein Vater war pietistisch aufgewachsen und im Blauen Kreuz. Aber er "hatte später nicht die geringsten Beziehungen zur Brüdergemeinde und zum Blauen Kreuz - vielleicht eher eine unausgesprochene Ablehnung" (S.126) "Meine Eltern nahmen meine Erziehung ernst, und ich hatte eine sehr schöne, fast ungetrübte Kindheit. Es fiel mir leicht, gehorsam zu sein. Rebellion gegen meine Eltern war von mir her undenkbar. Allerdings begann ich sehr früh, Bücher zu lesen, war altklug und fühlte mich bald meinen Eltern intellektuell überlegen, was – das sei ihnen hoch angerechnet – nicht zu den geringsten Schwierigkeiten führte." (S.127)
Das religiöse Bekenntnis wurde zu meinem Emanzipationserlebnis. Ich hatte sozusagen den Dreh gefunden, gegen meine Eltern zu rebellieren, ohne dass sie viel dagegen haben konnten. Ich tat ja nichts Schlechtes im religiösen Sinne, ich verstieß nur gegen ihren Grundsatz der Diskretion. Ich betrieb meine rebellische Emanzipation mit ihren Mitteln: ich betrieb und übertrieb sie.
Der tempelreinigende Jesus gefiel mir besonders; "Ein feste Burg ist unser Gott" war mein Lied. Ich war geneigt, ein zorniger Christ zu werden, dafür geeignet war ich überhaupt nicht. Im Grunde genommen war ich ängstlich bis auf die Knochen und ebenso wie meine Eltern darauf bedacht, als lieb und nett und anständig zu gelten. [...] Ich war zwar nicht Mitglied einer verbotenen, wohl aber einer kleinen Kirche. Ich war Mitglied einer etwas belächelten Kirche, und es bereitete mir schelmisches Vergnügen, dass mir diese Kirche niemand verbieten konnte, weil die verlogene Mehrheit von sich behauptete, sie sei christlich und kirchlich und anständig. Für mich war das damals wie Schnippchenschlagen und in diesem Sinne die lustigste, die munterste und die dialektischste Linke, die ich je erlebte.
Ich las täglich die Losungen. [...]" (S. 128)
Als er mit 16 Jahren ins Lehrerseminar eintrat, führte er lange theologische Gespräche mit dem katholischen Pfarrer.
"Er riet mir übrigens immer wieder dringend von einer Konversion ab. Meine Beziehungen zu ihm waren der Beweis, dass ich ein religiöser Christ sei. Die Schulleitung gab mir in aller Deutlichkeit zu verstehen, dass mir dieser Kontakt schaden könne, dass ich als Nichtkatholik kein Recht auf diesen Kontakt habe. Ich erlebte ein zweites Mal meine Religiosität als Emanzipationsmittel, mein Christsein als Anderssein, mein Bekenntnis als Rebellion. [...]
In jener Zeit begann mein Abschied von der Kirche, ohne dass ich es merkte. Ich bekam ein intensives Interesse an Theologie angefangen bei Kierkegaard; ich hatte den Ehrgeiz, den ganzen Karl Barth zu lesen. Mein Abschied von der Kirche begann damit, dass ich aus meinem Glauben eine Wissenschaft machen wollte. Ich ersetzte meine Frömmigkeit durch Interesse." (S.130)
"Mein Bekenntnis und die Kirche habe ich in meiner Jugendzeit als Emanzipationshilfe erlebt. Diese Funktion kann die Kirche für mich nicht mehr erfüllen. Oder anders gesagt: sie hat der weltlichen Anständigkeit keine eigene entgegenzusetzen. Sie glaubt dem Staat und seinen Institutionen blind, dass sie christlich seien. Die Kirche hat für mich ihren Wert als Alternative verloren. [...]
Ich kenne die romantischen Träume davon, dass die Kirche dort erstarke, wo sie angegriffen und bedroht werde.. Würde es uns treffen, wir wären nicht im geringsten darauf vorbereitet. Die Schweizerische Landeskirche hat nicht die geringste Lust als Alternative zur Verfügung zu stehen. Überspitzt und als böser Scherz gesagt: Ich könnte mir vorstellen, dass sie schon sehr bald in ihrer Verfassung den schönen Vereinsstatutensatz aufnimmt: politisch und konfessionell neutral. Ich gerate nun mit Recht in den Verdacht, dass auch ich die Kirche nur nach meinen persönlichen Nutzen beurteile. Ich entschuldige mich dafür. Es kommt wohl daher, dass sie mir tatsächlich von Nutzen war." (S.133)
So ist es konsequent, dass Bichsel nicht zuletzt für die Texte, die er außerhalb eines kirchlichen Kontextes schrieb, einen Ehrendoktor der Theologie erhielt.
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