07 November 2022

Büchnerpreis für Emine Sevgi Özdamar und Thomas Manns "Bruder Hitler"

 Frage: Weihnachten, alles war gefroren – das war gar nicht so? 

Özdamar: Nein, natürlich nicht. Dass es kalt war, dass es in der WG sehr kalt war, dass die Heizungen ausgestellt waren, ja das ist wahr. Da musst du aber die Kälte inszenieren. Weil, dein Leben ist ja für dich interessant, aber nicht für die anderen, die musst du inszenieren, die musst du herstellen, dass jede gerne liest, dass es Spaß macht den Menschen.

Zitat aus:

Mit geteilter Zunge – Zum Werk der Georg-BüchnerPreisträgerin Emine Sevgi Özdamar

In diesem Blog kommt Özdamar erstmalig im Artikel Mutterzunge vor. 

An diesem Text ist mir wieder einmal deutlich geworden, dass mich an Literatur nicht so sehr die Sprache interessiert, sondern das andere Leben. So ist mir Özdamar erst wieder über die Berichte über ihren Büchnerpreis nahe gekommen. 

"Mein Bruder Büchner" ("Georg Büchner war mein Bruder, der mir auf meinem Weg leuchtete.") - Wusste sie, als sie das schrieb, dass Thomas Mann einen Text "Bruder Hitler" geschrieben hat?

Der beginnt mit den Worten:

"Ohne die entsetzlichen Opfer, welche unausgesetzt dem fatalen Seelenleben dieses Menschen fallen, ohne die umfassenden moralischen Verwüstungen, die davon ausgehen, fiele es leichter, zugestehen, daß man sein Lebensphänomen fesselnd findet. Man kann nicht umhin, das zu tun; niemand ist der Beschäftigung mit seiner trüben Figur überhoben – das liegt in der grob effektvollen und verstärkenden (amplifizierenden) Natur der Politik, des Handwerks also, das er nun einmal gewählt hat, – man weiß, wie sehr nur eben in Ermangelung der Fähigkeit zu irgendeinem anderen. Desto schlimmer für uns, desto beschämender für das hilflose Europa von heute, das er fasziniert, worin er den Mann des Schicksals, den Allesbezwinger spielen darf, und dank einer Verkettung fantastisch glücklicher – das heißt unglückseliger  Umstände, da zufällig kein Wasser fließt, das nicht seine Mühlen triebe, von einem Siege über das Nichts, über die vollendete Widerstandslosigkeit zum anderen getragen wird."

Ich leugne nicht, dass mich auch bei den Buddenbrooks, die ich meiner Erinnerung nach, angeregt durch den Film gelesen habe, nicht nur die Menschen, sondern auch die Sprache interessiert hat. (In meiner Charakterisierung des ersten Teils des Films vom 16.1.1960 heißt es "Da das Buch gut war, wurde der Film nicht schlecht.")

So fasziniert mich am Anfang dieses Textes die Sprache, obwohl mir der Text nur aufgrund seines ungewöhnlichen Titels in Erinnerung geblieben ist. Zu dem Thomas Mann, der die Rundfunkansprachen "Deutsche Hörer" geschrieben hat, will dieser Titel des Textes vom März 1939 nicht recht passen.

Doch weiter in Manns Text:

"Die politische Willenlosigkeit des deutschen Kulturbegriffs, sein Mangel an Demokratie hat sich fürchterlich gerächt: er hat den deutschen Geist zum Opfer einer Staatstotalität gemacht, die ihn der sittlichen Freiheit zugleich mit der bürgerlichen beraubt. [...]

Er konnte sich anti-demokratisch gebärden, weil er nicht wußte, daß Demokratie identisch ist mit jenen Gründen und Stützen, daß sie nichts ist als die politische Ausprägung abendländischer Christlichkeit, und Politik selbst nichts anderes als die Moralität des Geistes, ohne die er verdirbt. Wir wollen feststellen: während im äußeren Völkerleben eine Epoche des zivilisatorischen Rückschlages, der Vertrauensunwürdigkeit, Gesetzlosigkeit und des Dahinfallens von Treu und Glauben angebrochen zu sein scheint, ist der Geist in ein moralisches Zeitalter eingetreten, will sagen: in ein Zeitalter der Vereinfachung und der hochmutlosen Unterscheidung von Gut und Böse. Das ist seine Art, sich zu rebarbarisieren und zu verjüngen. Ja, wir wissen wieder, was Gut und Böse ist. Das Böse hat sich uns in seiner Nacktheit und Gemeinheit offenbart, daß uns die Augen aufgegangen sind für die wilde und schlichte Schönheit des Guten, daß wir uns ein Herz dazu gefaßt haben und es für keinen Raub an unserer Finesse erachten, es zu bekennen. Wir wagen es wieder, Worte wie Freiheit, Wahrheit und Recht in den Mund zu nehmen; ein Übermaß von Niedertracht hat uns der skeptischen Schüchternheit davor entwöhnt. Wir halten sie dem Feinde der Menschheit entgegen, wie einst der Mönch dem leidigen Satan das Kruzifix; und alles, was die Zeit uns erdulden lässt, wird überwogen von dem jungen Glück des Geistes, sich in der ihm ewig zugedachten Rolle wiederzufinden, in der Rolle Davids gegen Goliath, im Bilde Sankt Georgs gegen den Lindwurm der Lüge und der Gewalt."

Das ist geschrieben zwar nach der Reichpogromnacht vom 9.11.1938, aber noch vor dem Holocaust.
Hannah Arendt hat beim Eichmannprozess ihrerseits dieses Pathos der Unterscheidung von Gut und Böse zurückgenommen und als Holocaustüberlebende ihr Erstaunen über die "Banalität des Bösen" ausgesprochen*. Golo Mann hat das im Gedanken an Hitler mit Schärfe zurückgewiesen. Das ist ein weiteres Kapitel im Umgang mit "Bruder Hitler" und mit Sprache im Allgemeinen.
*Ihr ging es darum, deutlich zu machen, dass nicht einmal ungeheure kriminelle Energie vorhanden sein muss, damit ein Menschheitsverbrechen zustande kommt. - Dass im Falle Eichmanns wohl doch ein "Werkstolz" vorlag, da er die Judenvernichtung noch weiter durchführen ließ, obwohl sie von Hitler bereits abgesagt worden war, ist vermutlich während des Prozesses nicht deutlich geworden.

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