14 August 2021

Hildegard E. Keller: Was wir scheinen. Eine Biographie Hannah Arendts in Form eines Romans

 Was wir sind und scheinen,

ach wen geht es an.

Was wir tun und meinen,

niemand stoß sich dran. (Hannah Arendt, S.321)

Hannah Arendt, säkularisierte Jüdin,  wollte nach ihrer Aussage, vor allem verstehen, d.h. möglichst unverfälscht durch fremde Einflüsse, ihre Wahrheit herausfinden. Philosophin zu sein, hat sie bestritten, sie wollte weder Methode noch System für das Weltverständnis entwickeln, sondern politisches Handeln verstehen. So verstand sie sich als Vertreterin politischer Theorie. 

So erklärt sie es 1964 im Interview mit Günter Gaus. (Zu diesem Interview im Roman S.486/87)

Die Schweizerin Hildegard E. Keller schildert sie weitgehend aus der Innensicht, indem sie ihren letzten Urlaub im Tessin (Tegna) darstellt und in regelmäßigen Rückblicken wichtige Lebensstationen aus Arendts Erinnerungen vergegenwärtigt. 

Das Hauptthema ist dabei ihre Erfahrung während des Eichmann-Prozesses in Israel, aus sie die kühne Formulierung von der Banalität des Bösen ableitet. Ihre Dissertation über Liebe bei Augustinus (bei Karl Jaspers) und ihre Habilitationsschrift über Rahel Varnhagen kommen ebenfalls wiederholt ins Spiel, am deutlichsten freilich ihr philosophische Hauptwerk Vita activa (The Human Condition), während ihre Totalitarismustheorie im Hintergrund bleibt.

Ihre eigene literarische Tätigkeit (Gedichte sieh oben, S.321, S.13, S.41, das Gedicht auf Benjamin, S.372, S.556f. ...; Märchen S.157-165 u. 397-404 Hier trifft das Mädchen im "Reich der weisen Tiere" den weißen Elefant aus Rilkes Gedicht, der ihr erklärt: "Ich bin der Elefant von dem Karussell aus dem Luxembourg-Garten in Paris. Ich bin extra für Kinder geschaffen worden, und nur Dichter haben noch ein richtiges Verständnis für mich gehabt.", S.397; S.521 "das hier ist mein letztes"):

Dann werd' ich laufen, wie ich einstens lief

Durch Gras und Wald und Feld;
Dann wirst du stehen, wie du einmal standst, 
Der innigste Gruß von der Welt.
Dann werden die Schritte gezählt sein
Durch die Ferne und durch die Näh;
Dann wird dieses Leben erzählt sein
Als der Traum von eh und je.

Die Gedichte von Alfonsina Storni (S.370-73)

Vor allem aber wird die lebensfreudige Person Hannah Arendt vorgestellt mit ihren vielen Freundschaften mit bedeutenden Personen, ihr Hang zum Rauchen ("Hier wollte sie ansetzen. Zuerst muss der Gehorsam nochmals kurz zur Rede kommen. Sie zog den Aschenbecher heran und schnippte die Asche ab."), ihre Freude am Essen und Kochen (mit Ingeborg Bachmann  Speck braten, S.380f.).

Politische Urteile:

Stets ihre Absicht: unabhängig beurteilen und urteilen. "Wie ist die Schuld zu ermessen, wenn eine Tat innerhalb eines Systems begangen wurde, das Unrechtmäßigkeit mit rechtmäßigen Mitteln zum Gesetz erhoben hat?" (S.214)

Über Kellers Gedicht: Die öffentlichen Verleumder:

"Erstaunlich genug, dass einer in Zürich die Zeilen aufgeschrieben hatte, die erst Jahrzehnte später in Deutschland Wirklichkeit worden. Hellsichtiger kann man nicht vom Unheil erzählen, das einer zum Leben erwecken kann, wenn ihm die anderen zum Propheten machen. Genau davon erzählte Kellers Gedicht. Nur zu gern wüsste sie, was ihn dazu veranlasst hatte. Hitler kann es jedenfalls nicht gewesen sein, der lag noch in den Windeln, als Keller starb, da war sie sich ganz sicher." (S.418)

"[...] die politischen Bösewichte der Geschichte müssen dem Lachen ausgesetzt werden. Sie sind nicht groß hatte er [Brecht] gesagt, sondern sie haben nur große politische Verbrechen begangen, und das ist wirklich etwas ganz anderes." (S.496)*

"Als ich über dem Eichmann-Material saß und die 3600 Seiten Verhörprotokolle las, musste ich lachen, ja, ich habe laut gelacht. [...] Ich habe über Eichmann gelacht und werde wieder lachen, sogar drei Minuten vor meinem sicheren Tod. Man muss lachen können, weil das Souveränität bedeutet." (S. 496)

Bei der Suche danach, was das Besondere an der scheinbaren Normalität Eichmanns ist, stößt Arendt auf das animal laborans, das sie in Human Condition als die Seinsform des Menschen herausgearbeitet hatte, das gleichsam nur wie eine Maschine funktioniert und nicht frei und verantwortlich handelt, es auch gar nicht will.(Vita activa) (S.329ff.)

In ihrer Verteidigung gegen die Angriffe auf ihr Eichmann-Buch lässt H. Keller sie etwas schreiben, was sie so stolz nur als wörtliches Zitat Arendts übernommen haben kann:

"Dass es gefährlich sein kann, die Wahrheit zu sagen ⁃ um das zu wissen, brauchen wir weder Hitler nach Stalin, welche die Lüge selbst zum Rang der Wahrheit erhoben. Dies ist immer so gewesen, und der Grund ist politisch: Es ist immer Einer gegen Alle. Nicht weil 'Einer' so klug ist und 'Alle' so dumm, sondern der Denk- und Suchprozess, der schließlich zur Wahrheit führt, immer nur von einem geleistet werden kann." (S.447)

Da durchweg aus ihrer Sicht geschildert wird, werden ihre Freunde und guten Bekannten fast nur mit Vornamen genannt: Martin (Heidegger), Karl (Jaspers),  Benji (Walter Benjamin), Heinrich oder Stupps (ihr zweiter Mann, Heinrich Blücher), Günter (Anders, ihr erster Mann), Kurt (Blumenfeld), Robert (Gilbert), Uwe (Johnson),  Dolf (Sternberger), ...

"Hefe der Erkenntnis" (fermenta cognitionis) (Lessing), S.498

Brief und Gedicht von Ingeborg Bachmann, S.505/07

20.8.1975 Treffen auf die junge Frau (Hippie-Mädchen??) bei der Kirche Ronco sopra Ascona - Lied von Janis Joplin: "Freedom is just another word for nothing left to lose."

Rahel musste das Beste, was sie hatte, fahren lassen. Natürlich hatte auch sie sich das Hoffen angelernt, dass gemeine, leere Hoffen, dass man etwas Besseres bekommt. Aber Rahel bekam nichts Besseres und kannte auch keine Heimat in der Welt, in die sie sich vor dem Schicksal hätte zurückziehen können. Nichts hatte sie ihm entgegen zu setzen. Nichts außer der Wahrheit. 'Vortrefflicher Ernte der Verzweiflung', sagte Rahel, als sie gegen Ende ihres Lebens die Erfahrungen einsammelte. Ohne Sarkasmus, denn sie war vom Leben bemerkt worden. (S. 517)

"Das ist kein Beiwerk meines Lebens, an dem ich unschuldig bin, das sich wie von selbst abwickelte. Ja, so hatte sie gesagt. Ich habe es voll zu verantworten als mein Schicksal. [...] Das Leben selbst zeichnet uns aus. Natürlich, auch Unglück ist eine Auszeichnung. Darauf bestand Rachel, und auch, dass es keinen Trost geben darf. Keinen Schleier vor der Wahrheit. Aber dafür musste sie sich zur Wand machen. Zu etwas Undurchdringlichem, Um der Welt entgegenstehen zu können. Sie versteinerte, um weiterleben zu können. Anders hätte sie sich mit dem Gang des Lebens nicht abfinden können." (S.518)

Sieh auch: Hannah Arendt, die Leidenschaft des Denkens von Martin Meyer in NZZ 14.10.2006

* Es zeugt natürlich nicht von Prophetie, sondern von strukturellen Ähnlichkeit von Vorgängen, die die Gesellschaft spalten, wenn Teile von G. Kellers Gedicht sich auf AfD und Donald Trump sowie andere sich auf die COVID-19 Pandemie beziehen lassen. ("Verborgen, wie die Flamme / In leichter Asche tut" - in der DDR verborgen fortglimmernder Rechtsradikalismus und der Coronavirus, der in den Sommermonaten weniger gefährlich ist, dann aber neue Ansteckungswellen hervorruft. - "Dann wird davon gesprochen / Wie von dem schwarzen Tod;" - ein Naturereignis, an dem niemand schuld ist. - "Wenn einstmals diese Not / Lang wie ein Eis gebrochen" - die Pandemie, die gesellschaftliches Leben erstarren lässt).

Und selbst das Lachen, das Brecht und Arendt sich beim Blick auf die politischen Verbrecher wünschen, wird von Keller im Blick auf die Verleumdungskampagne, auf die sich sein Gedicht bezog, angesprochen in seiner Novelle Das verlorne Lachen. Bei ihm bezieht es sich auf die gesellschaftliche Spaltung, die Freundschaften und Ehen zerstören kann, wenn es nicht gelingt, die menschliche Beziehung wichtiger zu nehmen als die ideologische Differenz. - Dass Keller dabei nicht an Massenmörder und ihre Helfershelfer und auf der anderen Seite die Opfer gedacht hat, ist klar, dazu braucht man die Erzählung nicht zu kennen.

Hier schon ein paar Stichworte zu Arendt im Zusammenhang mit dem Film über Arendt beim Eichmannprozess 1962:

Banalität des Bösen

Eichmanns Aussage, er hätte seinen eigenen Vater erschossen, wenn man ihm Belege für seine Schuld genannt hätte

Eichmann hat die Judenvernichtung weitergeführt, obwohl Hitler sie für beendet erklärt hatte. ("Er war so besessen, dass er sich sogar über Hitler hinwegsetzte", ZEIT online 19.4.2019)

Zitat daraus:

Gabriel Bach, stellvertretender Ankläger, im Interview: "Hitler hatte mit den ungarischen Alliierten 1944 ein Abkommen geschlossen. Sie sollten weiter an der deutschen Seite kämpfen, dafür würde im Gegenzug 8.700 jüdischen Familien die Ausreise aus Budapest gestattet werden. Ich bekam eine Depesche des deutschen Botschafters in Budapest an den Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop. Dieser schrieb, dass Eichmann wegen des Abkommens außer sich gewesen sei vor Wut: "Er glaubt, dass diese Familien wichtiges biologisches Material für den Wiederaufbau ihrer Rasse darstellen und befiehlt, sie noch schneller zu deportieren." Eichmann war also derart besessen von der Judenfrage, dass er sich sogar über Hitlers Entscheidungen hinwegsetzte." 

Judenräte (für einzelne von ihnen wies Arendt darauf hin, sie hätten den Nazis die Verfolgung erleichtert.)

Über die Rolle der Judenräte informieren u.a. ein Wikipediaartikel und ein Aufsatz von Wolf Murmelstein, des Sohnes von Benjamin Murmelstein. Bei allen Bemühungen um Aufklärung über den Holocaust kommen - verständlicherweise - die Rolle der Judenräte und des jüdischen Widerstandes zu kurz. Schließlich geht es dabei nicht um deutsche Schuld. - Judenräte wie Widerstandskämpfer haben völlig gegensätzliche Antworten auf die unlösbare Frage gefunden, wie man der Ausrottungsmaschinerie des deutschen NS-Regimes begegnen soll.

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