15 Mai 2023

Judith Jannenberg: Ich bin ich

"Ich bin Ich" von Judith Jannenberg habe ich um 1983 herum erstmals gelesen zusammen mit Svende Merian: Der Tod des Märchenprinzen. Damals habe ich auch Susanna Agnelli: "Wir trugen immer Matrosenkleider" zu meinem Unterricht über Frauenrollen in der aktuellen Literatur herangezogen. Das war im muttersprachlichen Unterricht an der Europäischen Schule Culham

"Ich bin Ich" imponierte mir wegen der couragierten Selbstdarstellung und des herausfordernden Titels. In diesen Tagen habe ich es nach 40 Jahren mit Interesse aus einem Austauschbücherregal gezogen. Inzwischen erscheint es weniger originell, doch scheint es mir die damalige Frauenrolle und den Protest dagegen recht gut zu beschreiben, und ich halte es gut für möglich, dass noch heute Frauen etwas prominenterer Politiker sich in einer - mit Ausnahme der Exzesse des Mannes in Beleidigungen und Gewalttätigkeiten - recht ähnlichen Situation der Abwertung befinden.

Das Buch von Agnelli steht noch heute in meinem Bücherregal, wohl wegen der prominenteren Person und dem originelleren Schicksal. Doch ich habe es seit Jahrzehnten nicht mehr gelesen. Aus "Ich bin Ich" würde ich gern ein paar charakteristische Zitate wiedergeben, doch es gibt Dringlicheres. 

Der Tod des Märchenprinzen erschien mir schon damals nicht so originell, doch habe ich auch die Erwiderung von Henning Venske, die damals unter einem Pseudonym erschien. Diese Bücher gehören für mich ganz einer überholten Zeit an. Die Klage Svende Merian fand ich (meiner Erinnerung nach) etwas übertrieben. (Warum hast du ihn denn zum Märchenprinz gemacht?) Aber ich habe kein Bedürfnis mehr, dem nachzugehen, während "Ich bin Ich" mich durchaus noch in meiner Männerrolle als alter weißer Mann herausfordert. 

Die Rolle der Generationen nach den Baby-Boomern scheinen mir mehr durch eine Überforderung der Frauen in der Doppelrolle gekennzeichnet als durch eine Herabwürdigung der Frau. Bedauerlich, dass aufgrund der doppelten Vereinnahmung der Eltern durch die Arbeitgeber das politische Engagement zurückgegangen zu sein scheint, während mit dem Klimaaktivismus wichtiges neues politisches Engagement geweckt zu sein scheint.

Zum Inhalt von "Ich bin ich" und jetzt auch einige ausführliche Zitate:

Ich bin eine einzige Wunde

"Ich war in Sportvereinen aktiv, als Leistungsschwimmerin und bei den Bergsteigern als Spezialistin für gefährliches Klettern geschätzt. Ich fühlte mich so wie ich war akzeptiert: Alle mochten mich im Handpuppenlehrgang, niemand fragte im Theaterkurs nach meiner Herkunft, in den Volkstanzgruppen war das Heimkind Judith die begehrteste Partnerin.

Ich stand in dem Ruf, eine zu sein, die auf jeden Fall jeden abblitzen lässt." (S.9)

Von meinen Verehrern gefiel mir Wolfgang am besten. Wir hatten uns im Schwimmbad kennengelernt. Er hat zugeschaut, wie ich den mir anvertrauten schwer erziehbaren Jungen Salto vorwärts und rückwärts vorgeführt und mit ihnen Fangen unter Wasser gespielt habe. Er hat mein 'pädagogisches Geschick' gelobt: Es sei mir gelungen, aus den gefürchteten Bengeln die jugendliche Prestigegruppe im Schwimmbad zu machen. Er hat mit mir von Kamerad zu Kamerad gesprochen und sich an den Schwimmspielen meiner Gruppe von Heimkindern beteiligt. Ich sei eine einmalig gute Erzieherin, hat er mir immer wieder versichert. Und es hat mir gefallen, dass seine Anerkennung meinen beruflichen Fähigkeiten und nicht etwa, wie die der meisten anderen Verehrer, meiner 'tollen Figur' galt." (S.10)

"Immer wieder hat er das Gespräch auf meine Familie gebracht. 'Was haben sich deine Eltern eigentlich dabei gedacht, ein so begabtes Mädchen wie dich in die Hauptschule zu tun?'

Ich habe allmählich den Eindruck gewonnen, dass er mir nicht auf billige Weise schmeicheln wollte, wenn er mir etwas Gutes über mich sagte. 'Wolfgang schätzt mich wirklich', habe ich in mein Tagebuch geschrieben, 'ihm kann ich vertrauen.' (S.11)

" 'Wolfgang ist ein aufrichtiger und guter Mensch', habe ich in mein Tagebuch geschrieben, 'mit ihm kannst du es tun.' 

Es habe ich geschrieben, und ich habe mich nicht darauf gefreut. Ich war verliebt in Wolfgang, und ich wollte es lieber mit ihm als mit einem anderen tun, aber am liebsten hätte ich es unterlassen und ihn weiterhin als meinen besten Freund getroffen. [...]

Schon als kleines Kind habe ich begriffen, dass mit 'Männern was haben' etwas Unanständiges ist.

Der Leitfaden meiner Kindheit war die Scharm. Ich habe mich meiner Mutter geschämt, ich habe mich unserer Armut geschämt, ich habe mich meines rissigen Rockes geschämt, ich habe mich meiner schlechten Zensuren wegen geschämt. Ich habe mich geschämt, geschämt, geschämt, und ich habe mich schuldig gefühlt.

Als wir es begannen, habe ich mich entsetzlich meiner Nacktheit geschämt. Noch nie hatte ich jemanden erlaubt, mich anzufassen, immer hatte ich das Herumschmusen als meiner unwürdig abgelehnt. Ich war vollkommen unberührt, und mein Körper hat sich wahnsinnig verkrampft. Es ist uns nicht gelungen. (S. 12/13)

Nach diesem Misserfolg, den ich selbstverständlich mir angelastet habe, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Frauenarzt aufgesucht. [...Er meinte beruhigend] "Er werde mir eine Gleitflüssigkeit verschreiben: 'Was mir schon eher Sorgen macht, das ist ihre unterentwickelte Gebärmutter. Wenn sie mal ein Kind haben wollen, kommen Sie bitte vorher zu einer kleinen Voruntersuchung.'

Aus dieser Empfehlung habe ich mit meiner Naivität die Schlussfolgerung gezogen, dass ich ohne 'Vorbehandlung' nicht schwanger werden könne und dass deswegen keine Vorsichtsmaßnahmen zu treffen seien. Zwei Monate später blieb meine Regel aus. Meine Schwangerschaft war ein Irrtum." (S.13)

Sie und Wolfgang heiraten. Wegen des Kindes ist sie zu Hause angebunden. Er führt uneingeschränkt durch die Erwartungen seiner Familie ein ungebundenes Studentenleben. Nur selten gehen sie gemeinsam aus. Als sie einmal nach der Rückkehr das Kind verkrochen unter dem Bett auffinden fühlt sich sich schuldig. Doch das Kind, das ihr jede Freiheit nimmt, kann sie nicht annehmen. Sie denkt an Scheidung, weil sie sich ihm dann nicht mehr unterordnen müsste. Als sie mitbekommt, dass er fremdgeht, ist ihr Selbstbewusstsein so getroffen, dass sie versucht, ihn zu halten. Doch bekommt sie Depressionen.

Als sie einmal gemeinsam ausgehen wollen, die Tochter ist bei der Großmutter, kommt er nicht, wie angekündigt, sie sucht ihn und sieht ihn, wie er sich von einer Freundin verabschiedet. Sie flieht nach Hause, wird ohnmächtig. Als er zurückkommt und sie fragt, was sei, gibt sie ihm eine Ohrfeige und sagt: "Ich bin eine einzige Wunde" und setzt hinzu: "So, und jetzt kannst du gehen. Ich möchte mit meinem Kind in geordneten Verhältnissen leben." (S.35)

Betäubung

Sie bleiben zusammen, er gibt sich Mühe, sie zu halten, und reduziert sein Fremdgehen, kümmert sich "ab und zu" um ihre Tochter Pia. Sie hilft ihm bei der Korrektur seiner Referate. Er nimmt fast alle Verbesserungsvorschläge an. Sie wünschen sich beide ein zweites Kind. Da geht alles gut. Sie kann sich endlich entspannt der kleinen Sarah zuwenden und wendet sich auch Pia mehr zu. Die, dankbar für die Veränderung, "hat sich nie eifersüchtig gezeigt, sondern sich eifrig an Sarahs Betreuung beteiligt. Noch heute fühlt sie sich für 'die Kleinen' verantwortlich." (S.41)

Einschub:

Nachzuholen ist hier, was auch im Buch - freilich an früherer Stelle - nachgeholt wurde, in der Fassung, die Elisabeth Dessai nach Judith Jannenbergs Tonbandbericht aufgezeichnet hat. 

Auch wenn Judith unter dem Makel des "Heimkindes" litt, ging es ihr objektiv besser als vielen Kindern in schwierigen Familien. Denn als sie - wegen der Kosten für das Heim - von ihrem Vater in dessen neue Familie aufgenommen wird, fühlt sie sich "mißachtet und fremd". (S.16)  Sie bekommt Lungentuberkulose und verbringt ein Jahr im Lungensanatorium. Dort werden alle  als gleichberechtigte Patienten behandelt. "Wenn differenziert wurde, dann nach dem Untersuchungsbefund. [...] Ich habe mich in philosophische Bücher hineingekniet und einen siebzigjährigen Herrn gefunden, der bereit war, mit mir Hegel durchzunehmen und sich ohne Ironie mit meinen mystischen Anwandlungen auseinanderzusetzen." (S.16)

Gesundet überspringt Judith eine Klasse, trainiert eisern Rückenschwimmen und wird so zur Leistungssportlerin. 

"Ich war froh, dass mein Vater nach meiner Tuberkulose den Plan, mich in seine neue Familie aufzunehmen, aufgegeben hatte. Tante Alberta hat mich in ihre großen Arme geschlossen: 'Wie froh bin ich, dass du wieder bei uns bist.'
Als ich mich gerade wieder eingelebt hatte, erschien meine Mutter am Heimtor, um mich in ein Eiscafe einzuladen. Die Heimleiterin hat nur genickt: der Sonntagsspaziergang mit den Eltern stand uns zu. Aber ich habe meine Mutter abgewiesen: 'Du hast dich nie um mich gekümmert, lass mich jetzt in Ruhe!" Ich habe ihr erklärt, dass meine Familie das Heim sei und dass ich sie nie wieder sehen wolle.
Meine Mutter hat geweint, aber sie hat mir nicht leid getan. Ihre Klagen über den unerträglichen Ehemann haben mich nicht beeindruckt: 'Warum warst du denn auch tagsüber weg, wenn er in der Arbeit war?!' Ich wollte ein 'sauberes' Leben führen und mit dieser 'lockeren' Person nichts mehr zu tun haben. 'Scher dich zum Teufel!' habe ich geschrien als sie mich unterhaken und mitziehen wollte, 'ich habe keine Zeit für Ballsängerinnen!''
Als Jugendlicher habe ich jeden zu tiefst verachtet, der mit mir zu einem 'Wochenendtanz' gehen wollte.[...] 
Ich bin Volkstanzen gegangen. Der Volkstanz war für mich eine Form des 'sauberen Tanzens'. In der Volkstanzgruppe konnte ich meine Musikalität und meine Bewegungslust ausleben, ohne in eine schwüle Atmosphäre zu geraten. [...] es ging um das Tanzen als solches, ich brauchte keine Angst zu haben, sexuell belästigt zu werden." (S.16/17)

In der Phase, als sie sich trotz ihrer Depressionen bemüht, sich ihrer Tochter zuzuwenden und zu ihrem Mann "lieb" zu sein, versetzt ihr eine erneute Schwangerschaft einen Schock, und sie beschließt, unbedingt abzutreiben. Ihrem "tief religiös"em 'Frauenarzt sagt sie:  "Ich werde mich eher umbringen, als noch ein Kind in die Welt zu setzen!" (S.31) Daraufhin vermittelt er sie einem Kollegen, der sie fast kostenlos behandelt. Nach der Abtreibung wartet sie vergeblich auf ihren Mann, nimmt ein Taxi und fährt nach Hause. Während sie in der Kindheit auf irgend etwas Gutes gewartet hatte, verkehrte sich dieses Warten "nach meiner Heirat in ein Warten auf die Angst". (S.33)
Ein halbes Jahr nach der Geburt ihrer Tochter Sarah war Judith wieder schwanger und dachte sofort an Abbruch. Doch nach den positiven Erfahrungen mit Sarah ist ihr "der Gedanke, drei Kinder zu haben, nicht unangenehm". (S.41) Ihr Mann freut sich. "Wir haben auf unser drittes Kind ein Glas Sekt getrunken. Wolfgang hat mich lieb in die Arme genommen: "Wir sind eine glückliche Familie." (S.41)

Vernichtung

Nach dem dritten Kind gibt Judith ihre Arbeit auf. So wird sie von ihrem Mann ökonomisch abhängig.
"Seitdem ich nur noch Ehefrau war, wurde ich immer deutlicher als Zubehör behandelt." (S.43)
Mit drei Kindern und am Stadtrand im 9. Stock ohne Auto fühlt sich Judith isoliert und verliert die Selbstachtung. Ihr Mann steigert sich in immer größere Beleidigung hinein und beginnt, sie zu verprügeln. Als sie erfährt, dass er ein dauerhaftes Verhältnis hat, bietet sie ihm an, 
"sich eine Woche Zeit zu lassen für die Entscheidung zwischen der Geliebten und der Familie.

Ich bin mit den Kindern in die Berge gefahren, und meine Wohnungsnachbarin hat mich begleitet.

Nicole war nach meiner ersten körperlichen Züchtigung meine Vertraute geworden. Ich war schon früher manchmal mit meinen Sorgen zu ihr gegangen, worüber sich mein Mann jedes Mal maßlos empört hatte [...]

Nicole ist mit mir und den Kindern in die Berge gefahren. Ich habe geweint und geweint, aber sie hat mich nicht tröstend zu stoppen versucht. Sie hat mich geduldig ausweinen lassen und dann angefangen, meinen Ehemann zu zerpflücken" (S.58/59)

Und dann versucht sie, sie aufzubauen.

Während dieser Woche Urlaub ist der Mann ausgezogen und zu seiner Freundin gezogen.

Belebung

Ihre Freundin Nicole bringt sie trotz dieses Schocks dazu, wieder aktiv zu werden und Mütterschulungen zu halten. Die darauf folgende Anerkennung baut sie weiter auf. Auch die Kinder freuen sich über die Veränderung. Ein Referent des katholischen Bildungswerks, der über die "Rechte von Ehefrauen und Geschiedenen" spricht, trifft sich danach mit ihr bis in die Nacht. Es folgt ein achtjähriger Briefaustausch, in dem sie statt ihrem Tagebuch jetzt ihm ihre Sorgen und Selbstbetrachtungen anvertraut. (S.76)

Hier ist der Platz, auf eine Besprechung des Buches zu verweisen, die spätere Passagen des Buches zitiert und das Pseudonym Judith Jannenberg auflöst.

Die weiteren Kapitel:

Aufbruch, S.79-126

Kampf, S.127-178

Ich bin Ich, S.179-199

Nachwort von Judith Jannenberg, S. 201-203

Darin: Alles Private ist politisch

Frauenrolle  Die Männerrolle kommt in meinen Blogartikeln auch vor, aber weit seltener. Hier etwas zu Männerphantasien und die Fragwürdigkeit der hehren Formulierung "Die Würde des Menschen ist unantastbar" (GG Art.1 (1))

In Gottfried Kellers Roman mit stark autobiographischen Zügen  "Der grüne Heinrich" findet sich eine drastische "Erzählung dazu, wie es sich auswirkt, wenn eine Frau die Männerrolle übernehmen will: Ein Henkersknecht hat den Scharfrichter vergiftet, so dass der schwer krank darnieder liegt. Dessen Frau verkleidet sich als Mann, um den Auftrag, der an ihren Mann ergangen ist, zu übernehmen. Sie wird aber erkannt und schimpflich aus der Stadt vertrieben. Um sich ein Auskommen zu sichern, heiratet sie, als ihr Mann stirbt,  den Henkersknecht, der ihren Mann vergiftet hatte." (Keller: Der grüne Heinrich)

Gottfried Keller lebte, unverheiratet, mit seiner Schwester zusammen. In seinen Briefen an Storm schildert er, was für Ärger seine Schwester hat, wenn Storm einen unterfrankierten Brief an Keller schickt, weil er nicht daran gedacht hat, dass die Schweiz Ausland ist.

Hier einige Namen:

Rut Brandt

Herbert Wehner

Margaret Thatcher

Joschka Fischer

Gerhard Schröder

Hillary Clinton

Michelle Obama

Angela Merkel

Ob ich noch mehr zum Buch und zum Thema schreibe, wird sich zeigen.

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