28 Juni 2024

Margaret Atwood: Katzenauge (Cat's Eye)

 Margaret Atwood: Katzenauge

Atwood ist eine hervorragende Autorin. Das vorliegende Buch spricht mich nicht besonders an, weil Konflikte zwischen Frauen mich nicht so interessieren. Aber es gibt darin sehr lesenswerte Passagen.

"Die Ich-Erzählerin Elaine wird als Kind von Mitschülerinnen gemobbt, aber vor dem Wechsel zur Highschool ändert sich das Kräfteverhältnis und Elaine erweist sich ihrer Herausforderin Cordelia nun als überlegen. Sie entwickelt sich zu einer selbstbewussten Malerin, während sich zugleich die Gesellschaft unter dem Einfluss des Feminismus und anderer Strömungen verändert.

Die Familie 

Der Vater ist Insektenforscher. Im Sommer zieht er mit seiner Frau, dem Sohn Stephen und der Tochter Elaine durch den Norden Kanadas. Während des ganzen Essens redet er von den Ringelspinnern: wie viele es sind, wie geschickt sie sind, welche verschiedenen Methoden es gibt, sie zu bekämpfen. Es ist falsch, sie mit DDT und anderen Insektiziden zu besprühen, sagt er. Das vergiftet nur die Vögel, die ihre natürlichen Feinde sind, während sie selbst, da sie ja Insekten und daher erfinderisch sind, sogar erfinderischer als die Menschen selbst, eben einfach gegen die Sprühmittel resistent werden, sodass am Ende nichts anderes herauskommt als tote Vögel und immer mehr Ringelspinner. Er arbeitet an etwas anderem: einem Wachstumshormon, das ihr System durcheinanderbringt und sie dazu verführt, sich zu verpuppen, bevor es Zeit ist. Vorzeitiges Altern. Aber wenn er zu Wetten neigte, sagt er, dann würde er sein Geld auf die Insekten setzen. Insekten sind älter als Menschen, sie haben mehr Erfahrung im Überleben, und es gibt von ihnen sehr viel mehr, als es Menschen gibt. Und außerdem werden wir uns wahrscheinlich sowieso noch vor Ende dieses Jahrhunderts mit der Atombombe in die Luft jagen, so wie sich die Dinge entwickeln. Die Zukunft gehört den Insekten. Schließlich richtet sich die Familie in einem Haus auf einer Schlammwüste in Toronto ein. Unser Haus sieht aus wie nach einem Krieg übrig geblieben: drumherum Schutt, Verheerung. Unser Vater hat einen neuen Beruf. Das erklärt alles. Er forscht jetzt nicht mehr nach Insekten im Wald, sondern er ist Universitätsprofessor. Elaine und Stephen können nun auch zur Schule gehen. Länger als drei oder vier Monate hintereinander sind wir sowieso noch nie in die Schule gegangen. […] ich habe noch nie eine Freundin gehabt, weil wir nirgends lange genug bleiben. 

Grundschule 

In der Queen Mary Public School freundet sich Elaine mit der gleichaltrigen Carol Campbell an, die wiederum mit der ein Jahr älteren Grace Smeath befreundet ist. Nach den Sommerferien kommt eine neue Klassenkameradin von Grace dazu: Cordelia. Cordelia wohnt ein Stückchen weiter östlich als ich, in einem der Häuser, die noch nicht einmal so alt sind wie unseres, mit der gleichen aufgewühlten Erde ringsherum. Aber ihr Haus ist kein Bungalow, es hat zwei Stockwerke. Im Erdgeschoss hat es ein Esszimmer, das durch einen Vorhang vom Wohnzimmer getrennt ist. Man kann ihn zurückziehen, um beide Zimmer in einen einzigen großen Raum zu verwandeln. Sie haben ein Bad ohne Badewanne, das Gästetoilette genannt wird. Cordelias Mutter hat eine Putzfrau. Sie ist die einzige von unseren Müttern, die eine hat. Cordelias ältere Schwestern heißen Perdita und Miranda, werden aber Perdie und Mirrie gerufen, anders als Cordelia, die nicht mit Cordie, sondern mit ihrem vollen Namen angesprochen werden möchte. Mrs Smeath fordert Elaine auf, sonntags mit in die Kirche zu kommen. Elaine, die noch nie an einer Messe teilnahm, weil ihre Eltern Atheisten sind, lässt sich dazu überreden. Zufällig hört Elaine einmal, wie Mrs Smeath und deren Schwester Mildred sie als „Heidin“ bezeichnen. „Was kann man erwarten bei der Familie, aus der sie kommt?“, sagt Mrs Smeath. Als die beiden Frauen merken, dass Elaine hört, was sie sagen, ist es ihnen nicht einmal peinlich. Während vor allem Cordelia viele Kleider besitzt, hat Elaine nur ein Kleid für den Sommer und eines für den Winter. Ebenso wie ihre Eltern und ihr Bruder bevorzugt sie praktische und bequeme Kleidungsstücke. Sie trägt keine Röcke, sondern Hosen und ist es nicht gewohnt, darauf zu achten, dass die Beine beim Sitzen geschlossen bleiben. Cordelia, Grace und Carol kritisieren Elaine fortwährend und behaupten, ihr helfen zu wollen, „besser“ zu werden. Dabei denken sie sich immer neue „Strafen“ für sie aus. Elaine findet das schlimm, ohne zu erkennen, dass es sich um Mobbing einer Außenseiterin handelt, aber sie möchte die Freundinnen nicht verlieren. Ich habe kein blaues Auge, keine blutige Nase: Meinem Körper tut Cordelia ja nichts. Wenn es Jungen wären, die einen verfolgen oder ärgern, würde [der zwei Jahre ältere Bruder Stephen] wissen, was zu tun ist, aber Jungen tun mir nichts. Gegen Mädchen und ihre indirekten Methoden, gegen ihr Geflüster, wäre er hilflos. Außerdem schäme ich mich. Ich habe Angst, dass er mich auslacht, dass er mich verachtet, weil ich feige bin und mich vor einem Haufen Mädchen fürchte, weil ich mich wegen nichts aufrege. Mrs Finestein, eine Nachbarin, fragt Elaine, ob sie bereit wäre, ihren kleinen Sohn Brian einmal in der Woche eine Stunde lang im Kinderwagen herumzufahren und bietet ihr dafür Geld. Elaine tut das gern, aber sie hört bald wieder damit auf, denn Grace weist darauf hin, dass Finestein ein jüdischer Name sei, beschimpft das Kind als „Itzig“, und Elaine befürchtet, dass ihre Freundinnen dem kleinen Jungen etwas antun könnten. Ich sage Mrs Finestein, dass ich nicht mehr kommen kann, weil ich zu viele Hausaufgaben habe. Den wahren Grund kann ich ihr nicht sagen: dass Brian auf eine unklare, dunkle Weise bei mir nicht sicher ist. Mit knapp elf Jahren findet Elaine heraus, wie sie absichtlich ohnmächtig werden kann. Das hilft ihr. Als Cordelia mir das nächste Mal befiehlt, mich an die Wand zu stellen, falle ich wieder in Ohnmacht. Ich kann es jetzt fast immer, wenn ich will. Ich bin jetzt als das Mädchen bekannt, das in Ohnmacht fällt. „Sie tut es absichtlich“, sagt Cordelia. „Na, mach schon, zeig uns doch mal, wie du ohnmächtig wirst. Na, los. Du sollst ohnmächtig werden.“ Aber wenn sie es mir sagt, kann ich es nicht."

https://www.dieterwunderlich.de/atwood-katzenauge (c) Dieter Wunderlich

Zitate:

Cornelia und Grace und Carol bringen mich zu dem tiefen Loch in Cordelias Garten hinter dem Haus. Ich habe ein schwarzes Kleid und einen Umhang aus dem Schrank mit den Kostümen an. Ich soll Mary, die schottische Königin sein, schon ohne Kopf. Sie heben mich an den Unterarmen und Beinen hoch und lassen mich in das Loch rutschen. Dann schieben Sie die Bretter oben drüber. Das Tageslicht verschwindet, und man hört, wie er auf die Bretter fällt, eine Schaufel nach der anderen. Unten im Loch ist es trüb und kalt und feucht, und es riecht wie in einem Krötenbau. 
Von oben, draußen, höre ich ihre Stimmen, und dann höre ich sie nicht mehr. Ich liege da und überlege, wann es wohl an der Zeit ist, wieder rauszukommen. Nichts rührt sich. Als sie mich in das Loch gesteckt haben, wusste ich, dass es ein Spiel war; jetzt weiß ich, dass es keins ist. Ich verspüre Traurigkeit, das Gefühl von Verrat. Dann fühle ich, wie sich die Dunkelheit immer schwerer auf mich legt; dann Panik. 
Wenn ich mich an die Zeit in dem Loch zurückerinnere, kann ich mir eigentlich nicht richtig vorstellen, was mit mir geschah, während ich drin war. Ich kann mich nicht daran erinnern, was ich wirklich gefühlt habe. Vielleicht geschah gar nichts, vielleicht sind die Gefühle, an die ich mich erinnere, gar nicht die Gefühle, die ich wirklich hatte. Ich weiß nur, dass die anderen nach einer Weile zurückkamen und mich wieder raus holten und dass wir dann dieses oder irgendein / anderes Spiel spielten. Ich habe keine Vorstellung von mir selbst in diesem Loch; nur von einem schwarzen Quadrat ohne etwas darin, einem Quadrat wie eine Tür. Vielleicht ist das Quadrat leer; vielleicht ist es nur eine Markierung, eine Zeit Markierung, die die Zeit davor, von der Zeit der Nacht trennt. Der Punkt, an dem ich die Macht verloren habe. Habe ich geweint, als sie mich aus dem Loch holten?  Wahrscheinlich. Andererseits bezweifle ich es. Aber ich kann mich nicht erinnern. 
Kurz danach wurde ich neun. Ich kann mich an meine anderen Geburtstage erinnern, die davor und die danach, aber nicht an diesen. Es muss eine Party gegeben haben, meine erste richtige, denn wer hätte schon zu den früheren kommen sollen? Es muss einen Kuchen gegeben haben, mit Kerzen und Glückwünschen und einer Glücksmünze, in Wachspapier gewickelt und zwischen den Teigschichten versteckt, damit sich jemand seinen Zahn daran ausbiss, und auch Geschenke [...] All das muss geschehen sein, aber die einzige Spur, die es hinterlassen hat, war eine undefinierbare Abneigung gegen Geburtstagspartys, nicht gegen die anderer, gegen meine. Ich denke an pastellfarbene Glasuren, rosa Kerzen, die in dem fahlen Licht des Novembernachmittags brennen, und da ist ein Gefühl von Scham und Versagen." (S.132/133) 

"Cordelia kommt zu mir nach Hause, und ich helfe ihr bei ihrer Biologieaufgabe, und sie bleibt zum Essen bei uns. Mein Vater, der das Rindfleisch austeilt, sagt, dass jeden Tag eine Spezies ausstirbt, er sagt, dass wir die Flüsse vergiften und die Genpools des Planeten zerstören. Er sagt, dass immer, wenn eine Spezies ausstirbt, irgendeine andere nachrückt, um die ökologische Nische zu füllen, Weil die Natur kein Vakuum zulässt. Er sagt, dass die Dinge, die nachrücken, die üblichen Unkräuter sind, und Kakerlaken und Ratten: schon bald werden alle Blumen Hundeblumen sein. Er schwingt die Gabel durch die Luft und sagt, dass es eine neue Seuche geben wird, wenn wir uns als Spezies weiterhin derart vermehren, damit das Gleichgewicht wiederhergestellt wird. Und das alles  wird nur deshalb geschehen, weil die Menschen die Grundregeln der Wissenschaft missachtet haben, weil sie stattdessen mit Politik und Religion und Kriegen beschäftigt waren, und sie sich mit aller Leidenschaft Entschuldigungen ausgedacht haben, um sich gegenseitig umzubringen. Die Wissenschaft aber kennt keine Leidenschaft und keine Voreingenommenheit, sie ist die einzige universelle Sprache.  Diese Sprache besteht aus Zahlen. Wenn wir am Ende bis zu den Ohren im Tod und im Müll stecken, dann wird die Wissenschaft aufgerufen sein, das, was wir angerichtet haben, wieder ins Lot zu bringen.
Cornelia hört sich alles an und lächelt ein bisschen spöttisch. Sie hält meinen Vater für ein wenig wunderlich. Ich höre ihn so, wie sie ihn wahrscheinlich hört: über sowas redet man nicht bei Tisch.
Ich gehe zum Essen zu Cordelia. Bei Cordelia gibt es zweierlei Arten zu essen: einmal, wenn ihr Vater da ist, und das andere Mal, wenn er nicht da ist. Wenn er nicht da ist, geht alles holterdiepolter. Ihre Mummie kommt mit abwesender Miene in ihrem Malkittel an / den Tisch, Perrd und Mirrie und auch Cordelia erscheinen in Bluejeans und irgendein Männerhemd, die Haare auf Lockenwickler gedreht. Sie springen vom Tisch auf, schlendern in die Küche, um mehr Butter zu holen, oder das Salz, das vergessen wurde. Sie reden alle durcheinander in trägem, amüsiertem Ton , und stöhnen, wenn sie an der Reihe sind, den Tisch abzuräumen, während Mummie ohne große Überzeugung "Kommt, schon, Mädchen", sagt. Sie verliert die Energie, enttäuscht zu sein.
Aber alles ist anders, wenn Cordelias Vater da ist. Auf dem Tisch stehen Blumen und Kerzen. Mami hat ihre Perlenkette angelegt, die Servietten stecken ordentlich gefaltet in Serviettenringen,  anstatt zusammengeknüllt, unter den Tellerrändern zu liegen. Nichts wird vergessen. Und es gibt keine Lockenwickler, keine Ellenbogen auf dem Tisch, sogar die Rücken sind viel gerader.
Heute ist einer der Kerzentage. Cornelias Vaters sitzt mit seinen buschigen Augenbrauen, seinem Wolfsblick, am Kopfende des Tisch und richtet die ganze Wucht seines schwerfälligen, ironischen furchterweckenden Charmes auf mich.  Er vermittelt einem das Gefühl, dass das, was er von einem denkt, zählt, weil es genau trifft, dass aber das, was von man von ihm denkt, keinerlei Bedeutung hat.
"Ich stecke unterm Pantoffel", sagt er und tut so, als litte er schwer. "Der einzige Mann in einem Haus voller Frauen. Morgens lassen sie mich nicht mal zum Rasieren ins Badezimmer."  Zum Schluss sucht er meine Sympathie und meine Unterstützung. Aber mir fällt dazu nichts ein.
"Er sollte sich glücklich schätzen, dass wir ihn überhaupt ertragen", sagt Perdie. Sie kann sich ein bisschen Frechheit erlauben, ein paar fohlenhafte Freiheiten. Sie hat den Haarschnitt dafür.  Mirrie macht unter Druck ein vorwurfvolles Gesicht. Cordelia kann beides nicht besonders. Aber sie schmeicheln ihm auf gewisse Weise alle.
"Was studierst du denn so dieser Tage?" fragt er mich. Diese Frage stellt er mir fast immer. Was ich auch antworte, amüsiert ihn. 
"Das Atom", sage ich.
"Aha, das Atom", sagt er. "Ich erinnere mich an das Atom. Und was meint das Atom dieser Tage?"
"Welches?" frage ich, und er lacht.
"In der Tat, welches", sagt er. "Das ist sehr gut."  Vielleicht ist es / das, was er will: irgendeinen Abttausch, egal was. Aber Cordelia kann das nicht, sie hat zu viel Angst vor ihm. Sie hat Angst, ihm nicht zu gefallen, und gibt sich große Mühe. Und doch ist er nie zufrieden mit ihr.  Ich habe ihre zittrigen, unbeholfen Bemühungen, ihn zu besänftigen, oft genug beobachtet. Aber nichts, was sie tut oder sagt, wird ihm je genügen, weil sie irgendwie nicht die richtige Person ist.
Ich beobachte das, und es macht mich wütend. Am liebsten würde ich ihr einen Tritt geben. Wie kann sie nur so unterwürfig sein?  Wann wird sie es endlich lernen?
Cordelia fällt bei der Halbjahresprüfung in Biologie durch. Es scheint ihr nichts auszumachen. Sie hat während der Arbeit die meiste Zeit damit verbracht, heimlich von verschiedenen Lehrern der Schule Karikaturen zu zeichnen, die sie mir mit ihrem übertriebenen Lachen auf dem Heimweg zeigt." (Seite 295-297) 

weiter im Inhalt:

Highschool 
Nachdem Grace und Cordelia ihren Grundschulabschluss gemacht haben, wechselt Cordelia auf die Privatschule St. Sebastian und Grace auf eine Highschool weiter im Norden. Carol Campbell zieht mit ihrer Familie fort. Am Tag bevor auch für Elaine die Highschool beginnt, ruft Cordelias Mutter an und fragt, ob sie ihre Tochter auf dem Schulweg begleiten wolle. Cordelia ist von der Privatschule geflogen und geht nun in dieselbe Klasse der Burnham Highschool wie Elaine. Die beiden sind 13 bzw. 12 Jahre alt. In unserem Gesundheitsbuch ist ein Kapitel über die Gefühle von Teenagern. Nach diesem Buch müsste ich in einem Wirbelsturm von Teenagergefühlen gefangen sein, den einen Augenblick lachen, den nächsten weinen, wie in einer Achterbahn hoch- und runtersausen, so heißt es dort. Aber diese Beschreibung trifft auf mich ganz und gar nicht zu. Ich bin ruhig; ich beobachte das groteske Benehmen meiner Mitschüler, die sich ganz genauso aufführen, wie es in dem Buch beschrieben ist. Die Mädchen in der Schule lernen es, sich vor meinem bösen Mundwerk in Acht zu nehmen. […] Die Person, die mein böses Mundwerk am meisten zu spüren bekommt, ist Cordelia. […] Manchmal fällt Cordelia eine Antwort ein, aber manchmal fällt ihr auch nichts ein. Sie sagt: „Das ist gemein.“ Cordelias Familie zieht schließlich in eine vornehmere Gegend, und die Mädchen verlieren sich aus den Augen. 
Studium 
Zur Bestürzung ihrer Eltern studiert Elaine nicht Biologie, sondern Kunst und Archäologie. Außerdem belegt sie nacheinander fünf Abendkurse am Toronto College of Art. Der Lehrer im Aktzeichnen heißt Josef Hrbik. Obwohl er Mitte 30 ist, hat er eine Affäre mit seiner 20-jährigen Schülerin Susie und fängt parallel dazu auch noch eine mit Elaine an, die zwei Jahre jünger als Susie ist und vorher noch nie mit einem Mann im Bett war. Susie darf nichts davon wissen. Elaine lässt sich dann ihrerseits auf eine Liebesbeziehung mit dem angehenden Maler Jon ein. Josef muss ich vor meinen Eltern verbergen und Jon vor Josef und ihnen. Jon denkt nicht, dass Frauen hilflose Blumen sind oder Gebilde, die arrangiert und vervollkommnet werden müssen, so wie Josef es tut. Als Susie schwanger geworden ist, versucht sie, das Kind wegzumachen, verliert dabei aber viel Blut und stirbt beinahe. Josef ist am Boden zerstört und klammert sich an Elaine, aber die sieht ihn nun als Schwächling und beendet die Affäre."

Quelle: https://www.dieterwunderlich.de/atwood-katzenauge (c) Dieter Wunderlich

Noch zu korrigieren:
"Zwei Männer sind besser als einer, jedenfalls ist mir jetzt wohler. Ich liebe beide, sage ich mir, und zwei zu haben, bedeutet, dass ich mich weder für den einen noch für den anderen entscheiden muss.
Josef [Hrbik] bietet mir, was er mir immer geboten hat, plus Furcht. Ganz nebenbei erzählt er mir, genauso wie er mir einmal erzählte, dass er einen Mann in den Kopf geschossen hat, das es in den meisten Ländern, außer in unserem, üblich sei, dass eine Frau einem Mann gehört: wenn ein Mann, seine Frau zusammen mit einem anderen Mann antrifft, tötet er beide, und niemand verurteilt ihn deshalb. Was eine Frau tut, wenn eine andere Frau im Spiel ist, sagt er nicht. Während er es erzählt, streicht er mir mit der Hand über den Arm, über die Schulter, über den Nacken, und ich frage mich, was er vermutet.  Er hat sich angewöhnt, von mir zu verlangen, dass ich spreche; wenn ich nicht reden soll, legt er mir die Hand auf den Mund. Ich schließe die Augen und empfinde ihn als eine Quelle von Macht, nebelartig und ungreifbar. Ich habe den Verdacht, dass er irgendwie albern wäre, wenn ich ihn objektiv sehen könnte.  Aber das kann ich nicht. /
Was John betrifft, so weiß ich, was er mir bietet. Er bietet ein Entkommen, Weglaufen vor den Erwachsenen. Er bietet mir Spaß und Unordnung. Er bietet Übermut.
Ich überlege, ob ich ihm von Josef erzählen soll, um zu sehen, was passiert. Aber das würde andere Gefahren mit sich bringen. Er würde mich auslachen, weil ich mit Josef schlafe, den er für lächerlich und alt hält. Er würde nicht verstehen, wie ich einen solchen Mann ernst nehmen kann, er würde das Getriebene daran nicht verstehen. Es würde mich in seinen Augen herabsetzen. 
Johns Wohnung über dem Koffergeschäft ist lang und schmal und riecht nach Acryl und getragenen Socken und besteht aus nur zwei Zimmern und dem Badezimmer. Das Badezimmer ist purpurrot, und die Wand hinauf sind rote Fußabdrücke gemalt, quer über die Decke und an der anderen Wand wieder herunter. Das vordere Zimmer ist in einem strahlenden Weiß gestrichen und das andere – das Schlafzimmer – in einem schimmernden Schwarz. John sagt, das habe er aus Rache getan, weil der Vermieter ein Spießer sei. Wenn ich mal ausziehe, wird er's fünfzehnmal übermalen müssen, um es weg zu kriegen, sagt er (S. 370/371) 

25 Juni 2024

Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen

 

Harald Jähner: Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen, 2022


KLAPPENTEXT

Deutschland 1918. Ende des Ersten Weltkriegs, Revolution, Sieg der Demokratie. Zugleich beginnt ein Siegeszug befreiter Lebensweisen. Die Inflation hat die überlieferten Werte ins Wanken gebracht. Alles soll von Grund auf anders werden: die "Neue Frau", der "Neue Mann", "Neues Wohnen", "Neues Denken". Als es Mitte der Zwanziger auch wirtschaftlich aufwärtsgeht, wird Deutschland ein anderes Land. Frauen eroberten die Rennpisten und Tennisplätze, gingen abends alleine aus, schnitten sich die Haare kurz und dachten nicht ans Heiraten. Unisex kam in Mode, Androgynes und Experimentelles. Jähner erzählt von der Erfindung der Freizeit, von Boxhallen und Tanzpalästen, und von den Hotspots der Neuen Zeit, vom Büro und Großstadtverkehr, vom Warenhaus als Glücksversprechen oder der Straße als Ort erbitterter Kämpfe. So vieles wirkt heute verblüffend modern. Die Vorliebe für Ironie, das Gradlinige und Direkte. Aber auch die Angst vor der "Entwertung aller Werte", der Herrschaft des Billigen. Ein großer Teil der Deutschen fand sich im Aufbruch nicht wieder. Nach und nach offenbarte sich die tiefe Spaltung der Gesellschaft und die Unfähigkeit, sie auszuhalten. Harald Jähner liefert eine Gesamtschau dieser so pulsierenden, reichen Zeit, wie es sie bislang nicht gab - und zeichnet das Bild eines zerrissenen Landes voll gewaltiger und erschreckender Energien. Es ist uns irritierend ähnlich und - hoffentlich - doch ganz anders.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 28.12.2022

Der hier rezensierende Verleger Klaus Bittermann hat von Harald Jähner viel über die Seele der Weimarer Republik gelernt. [...] Wieder wählte Jähner das Stilmittel des "Wimmelbildes", um mit kleinen Geschichten über die große Historie zu berichten und durchforstete abermals die Archive von Zeitungen, lesen wir. Was er dort fand, hat eine enorme atmosphärische Gegenwärtigkeit, lobt der Rezensent, denn genau die fehle in den herkömmlichen Geschichtsbüchern. Bittermann beeindruckt, was für ein Zeitgemälde Jähner aus Kleinanzeigen entwickelt und damalige Leitartikel blass aussehen lässt. 

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 06.10.2022

Harald Jähner schaut genau auf die aufregenden 1920er Jahre, erkennt Florian Keisinger. Sein besonderer Fokus: Der Durchschnittsmensch als Zeitgenosse. Dass er das spannend erzählt, ist für den Rezensenten ein ganz großes Plus und keine Selbstverständlichkeit bei einem Sachbuch. Er bemängelt zwar, dass nicht die ganze Weimarer Republik so umfassend beleuchtet wird, erkennt aber an, dass Berlin als Fokus sinnvoll ist. Von dieser Warte aus werden unter anderem die Rolle der Frau, das Bauhaus, der Aufstieg der NSDAP und die Weltwirtschaftskrise als Weg in den Niedergang vom Autor gekonnt thematisiert, findet Keisinger und empfiehlt das Buch.

Aus dem Inhalt:
 Übergriffe der Heimkehrsoldaten, mit Maschinengewehr auf Straßenbahn geschossen.
Besetzungen von Verlagsgebäuden und des Wolffschen Telegrafenbüros und des Berliner Tageblatts (S. 44) Die Besetzungen anfang ziemlich planlos (S.45) "weshalb der Begriff Spartacusaufstand auch in die Irre führt"(S.45) Erst dann setzen sich Liebknecht und Luxemburg an die Spitze. – Daneben geht das bürgerliche Leben weiter (Theateraufführungen). Als das Tanzverbot gefallen ist, das während des Krieges galt, kommt es zu einer großen Tanzbegeisterung. Holländer schreibt den Song. "Dein Tänzer ist der Tod" (S.49)

"Nachdem im Zuge eines Generalstreiks aufständische Arbeiter, im Stadtbezirk Lichtenberg ein Polizeirevier und das Postamt besetzt hatten und es zu zahlreichen Plünderungen und Ausschreitungen gekommen war, ließ Gustav Noske als Reichswehrminister in der sozialdemokratischen Regierung für die innere Sicherheit verantwortlich, den Stadtteil gewaltsam räumen. Nach offiziellen Angaben kamen dabei eintausendzweihundert Menschen um, wahrscheinlich waren es noch etliche mehr. Die meisten starben durch standrechtliche Erschießungen, die von den eingesetzten Freikorpssoldaten vorgenommen wurden. Ihre 'Rechtsgrundlage' bildete die Anordnung, Noskes, jeden zu erschießen, der mit der Waffe in der Hand kämpfend angetroffen werde. Der selbsternannte Bluthund der SPD hatte diesen Befehl erlassen, nachdem das Gerücht in Umlauf gesetzt worden war, die Aufständischen hätten fünfzig Polizisten im besetzten Revier ermordet.  Die Freikorpssoldaten hatten den Befehl dahin gehend erweitert, dass sie jeden umbrachten, der auch nur eine Waffe besaß. [...]  Sie erschossen sogar Angehörige der / revolutionären Volksmarinedivision, die friedlich an einem Militärdepot Schlange standen, um ihre Waffen abzugeben und den Entlassungslohn abzuholen." (S.51/52 )
"1913 hatten sich in Deutschland zwei Milliarden Mark im Umlauf befunden, 1919 waren es 45 Milliarden. Währenddessen hatte sich der Staat um das Dreißigfacher verschuldet, von fünf auf 153 Milliarden. Diese inflationäre Praxis war in allen kriegsführenden Ländern üblich, und in keinem hatte man sich darüber Gedanken gemacht, wie man das Geld nach Kriegsende an die Bürger zurückzahlen und dem Haushalt wieder in Ordnung bringen könnte. Denn alle Nationen waren gleichermaßen davon überzeugt, den Krieg zu gewinnen. Für die Kosten / würden am Ende die anderen aufkommen müssen." (S.79/80) 
"Dummerweise dachten die Gegner genauso. Auch sie verfuhren nach der Devise: 'der Verlierer zahlt alles', als sie den Deutschen Versailles die Friedensbedingungen diktierten. [...] In einer ersten Rate zur Wiedergutmachung der Kriegsfolgen, die die Sieger Staaten erlitten hatten, sollte Deutschland zwanzig Milliarden Goldmark zahlen. Mit derart rosigen Einkommensaussichten gingen Britten und Franzosen in die Inventur und stellten ihre inflationäre Kriegswirtschaft auf einen sparsamen Friedenshaushalt um. Sie kürzten alle Sozialausgaben, sparten, wo sie nur konnten, und setzten auf das Geld aus Deutschland. Die Aussicht auf die Reparationszahlungen gab ihnen den Mut, die nötige wirtschaftliche Fastenkur in Angriff zu nehmen. Den Deutschen hingegen war solch ein ökonomischer Realismus durch die hoffnungsloser Lage verstellt. Ihr Schuldenberg war unvorstellbar groß. Der Staat stand schon bei den Bürgern mit 98 Milliarden. In der Kreide, von den Forderungen der Sieger ganz zu schweigen. Mit derart viel Schulden im Rücken, brauchte man mit dem Sparen gar nicht erst anzufangen . Nach dieser Logik setzten die Koalitionsregierungen der ersten Weimarer Jahre die Inflationspolitik aus der Kriegswirtschaft einfach fort." (S.80)
Man druckte Geld und setzte auf Inflation
"Da der Wert der Reichsmark durch ihren ständigen Nachdruck sank, wurden deutsche Produkte im Ausland immer billiger. Der Export stieg, und auch deshalb sank die Arbeitslosenquote. [...] Die großen Verlierer der Entwicklung fanden sich nicht bei den Habenichtsen, sondern im Mittelstand, bei den Sparern. Vor allem die sicherheitsbewussten Teile des Bildungsbürgertums hatten traditionell ihre Überschüsse als Sparguthaben angelegt und erlebte nun Monat für Monat, wie ihr Vermögen an Wert verlor. Zudem waren sie es, die die meisten Kriegsanleihen gezeichnet und den Krieg patriotisch mit finanziert hatten. Die Inflation entwertete die Ansprüche, die sie an den Staat hatten, auf dramatische Weise: Am Ende waren die 98 Milliarden Mark Schulden, die der Staat bei seinen Bürgern hatte, nicht mal so viel wert wie ein Sack Kartoffeln." (S.81) 

Kapitel 8: Die Selbstoptimierung:                                                                                      Die Perfektionierung der Freizeit und der Körper (S.263 ff.)

"Josef Roth fand, "der Gott, der Sensationen" habe den Lunapark ganz ans Ende des ohnehin unterhaltungseligen Berliner Kurfürstendamms gesetzt, sozusagen als dessen Pointe. [...] Der Lunapark gab sich hochmodern, die Achterbahn zum Beispiel wurde erst 'kubistisch', 1921 dann durch den Maler und Grafiker, Josef Fenneker 'expressionistisch' gestaltet, bevor sie als 'Krummhäuslbahn' hochalpin, daherkam." (S. 266)

"Der Lunapark überlebte die Weimarer Republik nur wenig länger als ein Jahr, der Ulap schloss sogar schon 1925 seine Tore für immer. [...] Den Veranstaltern waren die Ideen ausgegangen, und die Vergnügungsucht kannte kein Erbarmen. Der Zerstreuung suchende Mensch langweilt sich genauso schnell, wie er sich beeindrucken lässt – ein volatiler Faktor, noch quecksilbriger als der Aktienkurs." (S. 269/270).

Über den Stummfilm: 

Die Deuligs-Wochenschau wäre für unsere Sehgewohnheiten tatsächlich eine Folter. Nach der Schrifttafel "Hindenburg startet der braunschweigischen Landesregierung einen Besuch ab", die endlos lange eingeblendet war, sah man dem greisen Reichspräsidenten minutenlang beim Fahren mit der Kutsche, Händeschütteln und Reden zu.  Worüber blieb offen, es war ja alles stumm. Die Zeitgenossen aber schauten dennoch gebannt zu." (S.271)

"Alle waren gleichermaßen gebannt schon vom bewegten Bild an sich. Dessen Magie reichte aus, sogar dem ausschreitenden Hindenburg etwas abzugewinnen, glitt aber erst der gewaltige Zeppelin ins Bild, schlugen die Herzen hoch. Das Ungetüm war der große Stolz, fast aller Deutschen." (S. 272)

"Der Stummfilmzuschauer sieht anders, und der Stummfilmstar spricht anders; Edvard Muncks berühmtes Gemälde "Der Schrei" sieht aus, als wäre er dem Stummfilm abgeschaut. Zehn Jahre vor den ersten Stummfilmen entstanden, wäre das Bild kaum so berühmt geworden, hätte der Film die expressive Pose nicht untermauert. Der fehlende Ton wird darin sichtbar.  [...] Béla Balázs feierte den "Stummfilm als eine Befreiung des Ausdrucks von der Übermacht der Stimme". Der Körper habe bis dahin nur als "Drangabe" des Bedeutungsträgers gegolten; der Stummfilm mache ihn hingegen zum primären Ausdrucksträger der Seele. [...] Chaplin verstehe die Gebärdensprache auf eine Weise zu reden, die jedes gesprochene Wort zum Schädling mache, schrieb Siegfried Kracauer. Und tatsächlich, die Leute hatten sich an die eigentümliche Intensität des still Stummfilm so gewöhnt, dass ihnen die sich 1928 abzeichnen, der Aussicht, bald die ersten Tonfilme sehen zu können, nicht im mindestens verlockend erschienen. In Umfragen der Kinoverleihe, ob sie künftig Filme lieber stumm oder tönend sehen wollten, siegte fast immer der Stummfilm" (S.273) Prompt fielen die ersten Tonfilme durch, bei der Kritik ohnehin, aber auch beim Publikum [...]. Plötzlich musste man leise sein im Kino, man verstand ja sonst nichts. Dieser Disziplinierungszwang missfiel; kam ein Tonfilm gut an, war es nämlich auch nicht recht, weil man nicht wild applaudieren konnte,  ohne den Fortgang der Geschichte zu übertönen.

Hinter den Protesten steckten auch materielle Sorgen: die Kinomusiker fürchteten um ihre Jobs, das Sprechtheater witterte Konkurrenz, und ein Teil der großen Stummfilmstars war, für den Tonfilm völlig ungeeignet. Harry Liedtke ('Die Liebe einer Königin') war bis dahin ein effektiver Herzensbrecher, aber er hatte eine unpassend piepsige Stimme, die die Wirkung seines hübschen, glatten Gesichts zunichte machte.  Sein Gesangspart in dem Film 'Ich küsse Ihre Hand, Madame' (1929) musste vom Sänger Richard Tauber nachsynchronisiert werden. Auch für den Beau Bruno Kastner, dessen Konterfei in zahllosen Mädchenzimmern hing, war die tönende Zukunft chancenlos. Wegen seines Sprachfehlers, bekam er keine Rollenangebote mehr.  Kastner, der in über einhundert Filmen mitgespielt hatte, er hängte sich 1932 mit zweiundvierzig Jahren in einem Hotelzimmer.

Spätestens mit dem gefeierten Josef–von–Sternberg–Film, 'Der blaue Engel' hatte sich 1930 der Tonfilm durchgesetzt, auch wenn Emil Jannings, seinen steifen, konservativen Professor Rath, der sich in eine Tingeltangel-Chansonette verliebt, mit einer Theatralik verkörperte,  die noch ganz der Stummfilmästhetik verhaftet war. Aber die bis dahin noch ganz unbekannte Marlene Dietrich, die die Lola gab und mit immerhin fünfundzwanzigtausend Reichsmark nur ein Zehntel der Gage des berühmten Jannings bekam, spielte die Vorzüge des Tonfilms voll aus: Nicht nur in dem bis heute weltberühmten Lied 'Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt' von Friedlich Hollaender, sondern auch in ihrer schauspielerischen Zurückhaltung. Dietrich hatte sofort erkannt, dass der Tonfilm es erlaubt, sich sparsam und damit nur umso intensiver in Szene zu setzen." (S.273-275)

"Aus Amerika importiert worden war das Sechstagerennen, ein / ikonisches Sportevent der Zwanziger. Hier amüsierte man sich in volksfestartiger Gaudi darüber, wie dreizehn Radrennfahrer, sechs Tage und sechs Nächte lang monoton im Oval einer verqualmten Halle hintereinander herfahrend, ihr Bestes gaben. [...] Der seltsame Zwitter aus Sport und Varietee war ein beliebtes Gesellschaftsereignis, eine lärmende, ausgelassene, quälende/ Realmetapher auf die sechs Tagewoche. Der kommunistische Sänger Ernst Busch, besang das Sechstagerennen als kapitalistische Tretmühle, an der jede Sinnfrage scheitere:

Mensch, tritt in die Pedale

Immer rund ums Holzovale

He! He! He! He! He!

Bohlen splittern, Reifen platzen,

Drei Musikkapellen, jazzen,

He! He! He! He! He!

Sechs Tage im Kreis, immer rundherum –

Kein Sterblicher weiß: Warum nur, warum?

Alle packt es, alle treiben mit!

Alle jagt es, alle schreien mit! He!

Sechs Tage im Kreis, immer rundherum –

Und kein Einziger weiß, warum!

Die schärfste Kritik am Sechstagerennen – eine 'Kritik' wird man es kaum nennen können – kam von ganz rechts, von den Nazis. Bei dieser Mischung aus Show und Profisport, den sie ohnehin mit Argwohn betrachten, würden überall Juden die Fäden ziehen. 1933 behauptete die NS-Postille 'Der Angriff' rückblickend: 'Wer einen Blick hinter die Kulissen werfen durfte, weiß, dass es in erster Linie Juden waren, die als Veranstalter auftraten. In der Zeit der größten jüdischen Machtausbreitung standen in Deutschland die Sechstagerennen am höchsten im Kurs.' Die hedonistische Hexenkesselstimmung im Sportpalast war den Nazis unheimlich, ein Musterbeispiel des 'Kulturbolschewismus'." (S.282-284) 



19 Juni 2024

Das Tagebuch der Anne Frank - zur literarischen Sonderstellung

 Nur ein Kurzhinweis auf die historische Sonderstellung: Dokumentation des singulären Menschheitsverbrechens Holocaust durch eine Jugendliche.

Literarisch ein Briefroman, der authentisch Wirklichkeit nur wenig verfremdet aus der Ich-Perspektive gestaltet und der aufgrund der künstlerischen Sonderperspektive: ohne Kenntnis der Zukunft, aber im Bewusstsein des wahrscheinlichen Ausgangs die Situation des Aufwachsens im Versteck während der Pubertät schildert.

Aufgrund der besonderen Situation steht nicht die Hauptsache, das zentrale Geschehen des Menschheitsverbrechens, im Vordergrund, sondern das Aufwachsen einer Pubertierenden und ihr Verhältnis zu zwei Familien und einem Junggesellen. Das ermöglicht eine realistische Schilderung, in die das Grauen nur hineinscheint: die ständige Lebensgefahr, Furcht vor dem Entdecktwerden. Die Entwicklung des Krieges bietet die Hoffnungsperspektive auf ein Happyend. 

So wird ein übersteigertes Pathos vermieden, die Lesbarkeit für Kinder und Jugendliche gewährleistet, die Spannung eines Handlungsfortschritts mit gelegentlichen dramatischen Einbrüchen der äußeren Situation aber sichergestellt. 

14 Juni 2024

Fürst Pückler-Muskau: Aus Mehmed Alis Reich

 Hier arbeiteten eine große Menge Fellahs, Männer, Weiber und Kinder, deren Lohn der Vizekönig bei allen öffentlichen Arbeiten eben um einen halben Piaster erhöht hatte. Da ich in den meisten Relationen über Ägypten die kläglichsten Jeremiaden über das Elend dieser unglücklichen Klasse gelesen hatte, so war ich nicht wenig verwundert, meistens kräftige, gesund aussehende und lustige Menschen zu finden, die singend und lachend ihre Arbeit verrichteten, von den Aufsehern höchst nachsichtig behandelt wurden und selbst das Bakschis (Trinkgeld), um das sie uns ansprachen, nur im Scherz zu verlangen schienen. Ihr Ansehen war allerdings zerlumpt, aber wo sieht man es im Orient wie auch in Griechenland anders? Das Klima verlangt so wenig, und Ordnung und Reinlichkeit gehört noch nicht zu den Tugenden dieser Länder. Ich habe später diesem Gegenstand fortwährende Aufmerksamkeit geschenkt und die feste Überzeugung gewonnen, daß die hiesigen Fellahs im Vergleich mit manchen andern ihrer Kameraden in Europa, zum Beispiel den irländischen Bauern, welche doch Untertanen des erleuchtetsten Gouvernements in der zivilisierten Welt sind, oder den armen Webern im Vogtlande, von denen ich erst heute, im Jahre 1843, in den Zeitungen las, daß sie ihren täglichen Verdienst höchstens auf zwei Gröschel bringen könnten, und wenn ihre einzige Nahrung, die Kartoffeln, fehlschlugen, dem Hungertode nahe kämen – daß, sage ich, diese Fellahs sich, obgleich mancher Härte und Willkür ausgesetzt, die ich nicht ableugnen will, doch immer noch in einer Lage befinden, welche viele unsrer Proletarier oft beneiden könnten. [...] (S.28)

Die Häuser der Fellahs sind meistens kleine Hütten von an der Sonne gedörrten Lehmsteinen oder auch nur von getrocknetem Lehm aufgeführt, ohne eine andere Öffnung als die Türe. Aber diese Wohnungen sind meistens dicht und warm im Winter, immer vor leichtem Regen und Unwetter, was ohnedem so selten hier eintritt, geschützt, schattengebend im Sommer und geräumig genug für die geringen Bedürfnisse dieser Leute, während in Griechenland selbst die Wohlhabenderen unter den Landleuten selten ein Dach besitzen, das nicht Schnee und Regen durchließe, und erinnert man sich vollends der von erstickendem Rauch angefüllten Schweineställe, in denen die armen Irländer hungern und die in jenem verhältnismäßig so kalten Klima fast gar keinen Schutz gewähren, so richtet sich das Mitleid nach einer ganz andern Seite. Die Fellahs sind arm; aber in den geringsten Dörfern Ägyptens, wo ich hinkam, fand ich fast immer Brot, Milch, Butter, Käse, Eier, Gemüse in Fülle, auch Geflügel, in den größeren selbst Schlachtfleisch, was man uns gern für einen sehr billigen Preis zum Verkauf anbot, sobald nur kein Gouvernementsbeamter dabei war, deren Raubsucht allerdings zu den Kalamitäten Ägyptens gehört – während in Griechenland häufig Zwiebeln und ein fast ungenießbares Maisbrot das einzige sind, was man sich verschaffen kann, auch die Leute selbst dort in der Regel von gleicher Kost leben müssen wie in Irland von Kartoffeln und Whiskey. Endlich hörte ich noch nie, daß ein Fellah verhungert sei, was zur Schande der Menschheit bei den irländischen Bauern notorisch schon öfters vorgekommen ist und vielleicht heute noch möglich sein mag. Die Fellahs sind ferner höchst elend gekleidet, aber auch hier ist der Vergleich zu ihrem Vorteil, denn erstens bedürfen sie bei dem milden Klima fast gar keiner Kleidung; zweitens habe ich bis jetzt noch nicht gesehen, daß die hiesigen Weiber, gleich den irländischen Frauen und Mädchen der gemeinen Klasse, nicht einmal Lumpen genug besaßen, um ihre Blöße soweit zu bedecken, als es die Schamhaftigkeit gebietet. Im Gegenteil erblickt man die Weiber der Fellahs, wenn auch oft in zerrissenen Gewändern, doch immer wie die übrigen Morgenländerinnen bis an den Mund verhüllt, wozu sie meisten 5-6 Goldstücke, in einer Reihe vorn vom Antlitz bis auf die Brust herab aufgenäht, tragen, was ebenfalls mit der bodenlosen Armut nicht recht übereinstimmen will, von der unsre philantropischen Reisenden uns ein so abschreckendes Bild entwerfen, weil sie wohl den Strohhalm im fremden Auge, aber den Balken im eigenen nicht sehen. Ich glaube, daß mitten in Paris und London teilweise gräßlicheres Elend nachzuweisen ist, als in ganz Ägypten gefunden werden kann. Auch hörte ich nie von Selbstmorden, die bei uns so häufig sind, und die außerordentliche Abneigung der Fellahs, Soldaten zu werden, die sie zu den grausamsten Selbstverstümmlungen treibt, ist gleichfalls kein Beweis, daß sie sich in ihrem jetzigen Zustande so überschwenglich elend fühlten. [...] (S.28)

Der größte Teil der europäischen Kaufmannschaft zum Beispiel, namentlich in Alexandrien, ist dem Vizekönig aufsässig, aus Brotneid, weil er als einziger Kolossalkaufmann seines Landes sie durch sein System verhindert, die unwissenden Ägypter nach Belieben im freien Handel zu bevorteilen, und dies wohl zum Teil selbst übernimmt, überdies aber die Spekulanten mit überlegner Schlauheit [...] (S.30)

endlich in ehrlichen, aber imbezillen Philantropen, meistens Engländern, die, sobald sie einen Mann ohne Hosen am Leibe und aller Wahrscheinlichkeit nach auch ohne Roastbeef im Magen antreffen, Zeter schreien und die Grausamkeit des Pascha verwünschen, der solche Greuel veranlasse, ohne dabei zu untersuchen, welche Schuld bei allen hiesigen Mängeln den gebieterischen Umständen, eingewurzelten Mißbräuchen und unbesieglichen Nationalfehlern beizumessen ist und welche dem Willen des Pascha. – Noch weniger aber denken sie daran, daß es bei ihnen selbst oft viel schlimmer in dieser Hinsicht hergeht, ohne daß dieselben Entschuldigungsgründe stattfinden. [...] (S.30)

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aber so viel rate ich doch wohlmeinend jedem Fremden: Er höre, wenn er nach Ägypten kommt, auf kein Geschwätz, es komme von seinem Konsul oder seinem Schneider, sondern er sehe selbst, unterrichte sich selbst und urteile dann auch selbst. Es gibt einen neueren Reisenden, der in fließendem Stil und nicht ohne Darstellungstalent alles, gleich Evangelien, niedergeschrieben hat, was ihm seine guten Freunde und sein Dragoman teils erzählend, teils angeblich übersetzend über Mehemed Ali und den Zustand Ägyptens aufbanden. Einem solchen Werk kann man in Europa Beifall und Glauben schenken – denn was weiß dort die Masse vom Orient? Wir sind wahrlich über die dortigen Verhältnisse und Zustände noch heute ebenso unwissend, als es die Franzosen unter Ludwig dem Vierzehnten über alles außer Frankreich waren, und die ganze Welt hat leider hiervon die kläglichsten Beispiele im größten Maßstabe erst kürzlich gesehen, wird auch die Folgen noch lange zu bejammern haben; – wer aber in Ägypten mit solchen Büchern in der Hand reist und die geringste Ader eines Beobachters in sich hat, der möchte oft zweifelhaft werden, ob nicht das Ganze eine Mystifikation sei und die Verfasser, mit Champollion, Burkhard, Belzoni, Cailliaud usw. nebst einigen historischen Werken auf ihrem Schreibtische, ganz ohne diesen zu verlassen, Ägypten beschrieben haben.

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Da eine der größten Schwierigkeiten, mit denen der Vizekönig zu kämpfen hat, in der Immoralität seiner Behörden, ihrer Raubsucht und Bestechlichkeit besteht, deren üble Folgen dann von kurzsichtigen Reisenden alle dem Herrscher selbst beigemessen werden, so versuchte er, die türkischen Ortsvorsteher auf dem Lande durch arabische abzulösen. Der Erfolg hat aber der Absicht so wenig entsprochen, daß man wahrscheinlich zu den ersten wird zurückkehren müssen, die, wie sich einer meiner Berichterstatter in dieser Angelegenheit ausdrückte, «immer noch dezenter gestohlen hätten als die letztern». Mehemed Ali kennt dieses Grundübel in seiner Administration sehr wohl, aber eben dessen Allgemeinheit wie manche andre politische Gründe, die seine ungewisse Stellung zur Pforte und zu Europa mit sich bringen, machen die Ausrottung desselben höchst schwer.

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Seine Hoheit erhält überdem alle männlichen Kinder der Seeleute und gewährt ihnen vom Augenblick der Geburt an eine volle Ration, dieselbe wie dem Vater, nebst fünf Piaster monatlich an Geld. Die

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Schiffskapitäne gibt es erster und zweiter Klasse. Die der ersten sind Beys und haben den Rang als Obersten in der Armee; die zweiter Klasse den eines Oberstleutnants.

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Diese kurzen, aber ganz zuverlässigen Nachrichten werden genügen, einen richtigen Begriff von dem Belang der Seemacht Mehemed Alis zu geben, und verbunden mit dem, was ich im Verlauf dieses Werks über die Landarmee, den Länderumfang, die Einkünfte und Ressourcen des ägyptisch-nubisch-syrischen Reiches (wie es damals war) noch zu berichten haben werde, berechtigten sie mich wohl zu dem Glauben, daß es nur eine allen Parteien nachteilige Anomalie herbeiführe, einem Manne, welcher de facto ein mächtiger selbständiger Monarch ist, fortdauernd in der offiziellen Stellung eines abhängigen Pascha erhalten zu wollen. Ich dachte mir beim Anblick dieser großen, reellen Macht, daß wir in Europa mehrere Könige haben, deren Königreich kaum einer Provinz des Pascha an Umfang gleich kommt, so wie ihre Einkünfte nicht den zehnten Teil der Mehemed Alis erreichen, und so viel andere Souveräne außerdem, die nicht einmal mit einem Statthalter Mehemed Alis, wie zum Beispiel denen von Kandia und Sudan, an Macht und Glanz wetteifern können, ja von denen einige in der Tat nur als umfassungsreichere Grundbesitzer, wie es zum Beispiel die Herzöge Englands sind, mit einer von Gottes Gnaden hinzugefügten Souveränität erscheinen. Es mußte daher fortwährend zu gewaltsamen Folgen führen, daß ein so unnatürliches Verhältnis wie das jetzige aufrechterhalten wurde, und eine gesunde Politik hätte vielleicht einen solchen Zustand wohl nicht einmal zu erhalten wünschen sollen, selbst die der Pforte nicht, der ein mächtiger, durch gleiche Religion und folglich in der Hauptsache (Erhaltung der muselmännischen Herrschaft überhaupt) auch durch gleiches Interesse verbundener, unabhängiger Freund nötiger tut als ein – solange er seine Selbständigkeit nicht erreicht hat – stets gefährlich ihr gegenüberstehender Vasall, der es nur dem Namen nach ist und der an reeller kompakter Gewalt sie schon einmal weit überragte.

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Es kamen neulich zwei englische Mädchen nach Ägypten, die einen Prospektus austeilten, worin sie versprachen, gegen gute Bezahlung die Weiber in den Harems auf europäische Weise zu bilden, nach welcher Vervollkommnung die muselmännischen Ehemänner jedoch wenig Lust bezeugten.

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Herr Reinlein lebt und webt nur in Musik und Theater, und da ich glaube, daß eine große Passion dieser Art, wenn sie hinlängliche Befriedigung findet, einen wahren Teil des Lebensglückes ausmacht, so ist Herr Reinlein nur dazu Glück zu wünschen; denn die Reiter auf Steckenpferden sind immer mehr zu beneiden als die, welche den Pegasus oder das Schlachtroß des Ehrgeizes wählten.

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In den äußern, dem Publikum offnen Gärten dieses Palastes, welche nach allen Seiten hin einen sehr großen Raum einnehmen, aber, wie fast alle Gärten des Orients, bloß verzierte Gemüse- und Obstplantagen sind,

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Von vielen Tausenden junger Ölbäume zum Beispiel, die er vor einigen Jahren gratis verteilen ließ, steht fast kein einziger mehr, weil man sie auf liederliche Weise pflanzte und dann nicht im geringsten unterhielt.

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Die Hauptpracht der Muselmänner ist immer für den Harem reserviert; dieser Teil der Residenz blieb uns aber unzugänglich, da leider einige der ausrangierten Damen hier zurückgeblieben waren.

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der berühmte schwedische Naturforscher Hedenborg, der vor Russegger der Region der Mondgebirge von allen Reisenden am nächsten gekommen ist und dies ohne alle Unterstützung der Behörden, seitdem jedoch durch eine schwere klimatische Krankheit, von der er sich noch bis jetzt nicht völlig erholen konnte, einstweilen untätig geblieben ist.

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Die Arbeiter beiderlei Geschlechts, Kinder und einige Greise für die leichtere, Erwachsene für die schwerere Arbeit, verdienen hier täglich, wie ich aus ihrem eignen Munde hörte, einen bis vier Piaster, was in diesem wohlfeilen Lande unserm Tagelohn völlig gleichkommt. Sie verrichten ihr Tagwerk in großen, luftigen und reinlichen Sälen, sind weit besser gekleidet als die Fellahs außerhalb, und es war mir eine Freude zu bemerken, wie gesund und heiter sie aussahen und mit welcher Milde sie durchgängig von den Aufsehern behandelt zu werden schienen.

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Man hatte durch einen glücklichen Verrat erfahren, daß in drei Tagen, bei Gelegenheit einer großen Revue, die Mehemed Ali angeordnet, die Mamlucken mit ihrer ganzen Macht dort über ihn herzufallen beabsichtigten, um ihn womöglich mit allen seinen Getreuen auf einen Schlag zu beseitigen. Es galt, ihnen zuvorzukommen, wozu man offen nicht die Macht besaß, und doch war kein Augenblick Zeit mehr zu verlieren. Jedermann kennt das verzweifelte Auskunftsmittel, dessen man sich bediente, doch herrschte über die Details in Europa viel Irrtum. So stellt zum Beispiel das durch Kupferstiche überall verbreitete Gemälde Forbins die Szene so dar, als habe ihr Mehemed Ali, seinen Nargileh gelassen rauchend, wie einem Theaterstück zugesehen. Die Wahrheit ist aber, daß er gar nicht dabei gegenwärtig war, noch, der Lokalität nach, füglich sein konnte. Sobald die Beys Abschied von ihm genommen hatten und sich im Hofe auf ihre Pferde schwangen, sagte Mehemed Bey zu ihm: «Nun ist deine Rolle vorüber und meine beginnt, ich beschwöre den Pascha, sich in sein Harem zurückzuziehen.» Dies geschah sogleich, und Augenzeugen, Eunuchen aus dem Serail, haben mich versichert, daß der Vizekönig, verstört und schweigend, in großer Gemütsbewegung den Ausgang abwartete, kein Wort sprach, nur mehrmals kaltes Wasser zu trinken begehrte, während der Lärm des Schießens und der Tumult der reiterlosen Pferde mit dem Angstgeschrei der Fallenden von fern zu seinen Ohren drang. Dies ist auch nur menschlich wahrscheinlich, und Mehemed Ali wahrlich so wenig blutdürstig, als es Napoleon war, aber er ist auch kein Ludwig der Sechzehnte und scheut daher selbst Blutvergießen nicht, wo es sein muß und wo es, zu rechter Zeit angewendet, durch wenige Opfer später das Leben Hunderttausender erspart, ja oft das künftige Heil ganzer Nationen begründet, während weichliche Unterlassung sie nicht selten zugrunde gerichtet hat.

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In späterer Zeit zeichnete sich Mehemed Bey noch durch eine andere, nicht weniger kühne Tat aus, indem er einen Abgesandten des Sultans, der in Abwesenheit Mehemed Alis nach Kahira kam, um ihm die seidne Schnur zu überbringen, ohne langes Besinnen noch Einholen einer Instruktion, provisorisch den Kopf abschlagen ließ.

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in Europa aber hat nur Frankreich Anspruch auf solchen Ruhm durch die Eroberung Algiers, deren noch unberechenbare Folgen für die künftige Welt, selbst wenn Algiers jetzige Abhängigkeit von Frankreich im Laufe der Zeiten aufhören sollte, doch immer einen Glanzpunkt in der Geschichte der Franzosen begründen werden. Sie möchten sogar höher in manchem Bezuge anzuschlagen sein, als alle fruchtlos und ephemer gebliebenen, wenngleich des militärischen Ruhmes so vollen Überrennungen Napoleons.

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ein kleiner freundlicher Greis vor mir, dessen kräftige, wohlproportionierte Gestalt nur durch eine fast kokett zu nennende Frische und Reinlichkeit geschmückt war; dessen Gesichtszüge aber ebensoviel ruhige Würde als wohlwollende Gutmütigkeit aussprachen, und der, obgleich seine funkelnden Adleraugen mich durch und durch zu schauen schienen, doch durch die Grazie seines Lächelns wie die Leutseligkeit seines Benehmens nur unwillkürliche Zuneigung und nicht die mindeste Scheu einflößte.

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Überdies ist nichts leichter, als vom Vizekönig Gehör zu erhalten. Kein Herrscher kann zugänglicher sein und weniger Maßregeln für seine persönliche Sicherheit nehmen als Mehemed Ali, der sich täglich jedem Versuche unbesorgt preisgibt, den ein Fanatiker auf sein Leben zu richten beabsichtigen könnte. Wie möchte er dies wagen, wenn er der Tyrann wäre, den alberne Unwissenheit und bösartige Absichtlichkeit in Europa so häufig aus ihm machen wollen!

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dieser Blick doch zuweilen, besonders in den Momenten, wo er sich unbemerkt glaubt, einen ganz eignen Ausdruck bittren Mißtrauens annimmt, bei dem dann das etwas unheimlichere türkische Element, von dem ohne Zweifel der Vizekönig auch einen guten Teil besitzt, voll hervortritt. Man kann vielerlei in diesem Blick lesen, was vielleicht die Schattenseite seines Charakters ausmacht, womit ich jedoch keinen besondern Tadel aussprechen will; denn zu einem großen Manne gehören ebenso notwendig dunkle und helle Seiten, als bei jedem andern Sterblichen.

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Man darf weder Pfeife noch Kaffee noch irgend etwas, sei es auch nur ein Glas Wasser, empfangen (außer bei Tafel, wo alle Zeremonien wegfallen), ohne beim Nehmen und auch beim Wiederabgeben des leeren Geschirrs oder der Pfeife durch einen Gruß zu danken. Ja selbst der Wirt in seinem eignen Hause, sobald ein Vornehmerer als er bei ihm ist, grüßt diesen, dankend für alles, was ihm seine eigenen Diener servieren. So wird auch dem Vornehmsten immer zuerst präsentiert, er sei Wirt in seinem eignen Hause oder Gast in einem fremden.

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Es ist gar nicht nötig, rang- und titelsüchtig zu sein, um dies sehr unbequem zu finden, da man ebensowenig gedemütigt werden, als andere demütigen will, was bei dieser Unbestimmtheit ganz unvermeidlich, bei fester Rangordnung aber ganz unmöglich ist. Nur ein Narr kann sich darüber ärgern, wenn jemand das ausgesprochne, anerkannte Recht hat, sich in der gesellschaftlichen Stufenleiter als über ihm stehend anzusehen, er komme ursprünglich her, woher es sei;

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Einzelne Ausnahmen fallen indessen vor, da sein Wille immer Gesetz ist.

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Ich zweifle nicht, daß manche alle diese zeremoniellen Details sehr kleinlich finden werden, meines Erachtens gehören sie aber wesentlich zur Schilderung hiesiger Sitten und sind deshalb nicht überflüssig.

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Dies gab mir die natürlichste Gelegenheit, mein Erstaunen über die Wunder auszudrücken, die ich bereits in Alexandrien und Kahira gesehen, und ich bat im voraus Seine Hoheit, mir zu verzeihen, wenn der Enthusiasmus, den so Außerordentliches in mir erwecke, meinen Worten das Ansehen der Schmeichelei gäbe, da sie doch nur der treue Ausdruck meiner Empfindungen und der hohen Verehrung für einen Fürsten wären, der dem Orient jetzt das sei, was einst Peter der Große für Rußland gewesen, zu dessen jetzt so furchtbar angewachsener Land- und Seemacht dieser doch allein den ersten Grund gelegt.

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Mehemed Alis Wirken, solange es ungehemmt blieb, hat unbestreitbar die wichtigsten Grundbedingungen aller Zivilisation zuerst im heutigen Orient hervorgerufen: Ordnung, Sicherheit und das Erwachen einer höhern Industrie. Hiermit hat er, trotz hundert Fehler und Mängel, die Dankbarkeit der Geschichte verdient.

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Beim Abschied reichte mir Mehemed Ali, auf meine Bitte, nach europäische Weise die Hand, was hier allerdings nicht üblich ist, aber von ihm so herzlich aufgenommen wurde, wie es erbeten war, denn er freute sich der sichtlichen Verehrung, die er meiner leicht enthusiasmierten Natur wirklich eingeflößt hatte.

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Mein Refrain war immer, Mehemed Ali zu sagen, unsere erste Rechtsregel in Europa sei: beati possidentes! Er solle siegen und sich in festen Besitz setzen, so würde dieser bald von Freund und Feind anerkannt werden. Dies wäre wahrscheinlich auch geschehn, wenn er nicht zweimal seine Siege nur zur Hälfte benutzt und nachher wie vorher mit europäischen Mächten weniger negoziiert hätte.

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Das Klébersche Palais ist jetzt das Ministerium des öffentlichen Unterrichts, der Garten aber gehört zu dem prächtigen Palast der Tochter Seiner Hoheit, Witwe des berüchtigten Defterdars, dessen unerhörte Grausamkeiten noch im frischesten Andenken Fremder und Einheimischer in Kahira geblieben sind. Vieles hielt ich anfänglich für Fabeln, von der Mißgunst erfunden, bis ich durch die achtungswertesten und unparteiischesten Augenzeugen selbst das Unglaublichste bestätigen hörte. Es muß wohl prädestinierte Tigernaturen, wie Lammsnaturen, geben, wenigstens kann man die seinige nicht mit mehr Naivität zur Schau tragen, als es der Defterdar tat. Einst beklagte er sich im Gespräch mit dem französischen Konsul über die unbezwingliche Hartnäckigkeit der Beduinen. «Denken Sie», sagte er, «was mir neulich begegnet. Zwei dieser Kerls rühmten sich ihres Vaters gegen mich und nannten ihn einen Stier. ‹Gut›, erwiderte ich, ‹wenn Euer Vater ein Stier war, so muß Eure Mutter eine Kuh gewesen sein.›» «Glauben Sie», fuhr er fort, «daß ich diese obstinaten Menschen dahin bringen konnte, diesem ganz einfachen Räsonnement beizupflichten? Nichts war fähig, ihren Trotz zu beugen. Um sie ein wenig nachgiebiger zu machen, befahl ich zuerst, ihnen die rechte Hand abzuhauen, und stellte dann die Frage von neuem an sie. Da dies nichts fruchtete, die linke, dann einen Fuß nach dem andern, und immer blieben die Hunde dabei, ihr Vater sei ein Stier gewesen, aber ihre Mutter dennoch keine Kuh. Endlich verlor ich die Geduld und ließ, was von ihnen noch übrig war, in den Nil werfen, wo sie bis zum Untersinken, noch mit dem letzten Atem, trotzend stammelten: Keine Kuh!» Andere, gleich starke und leider ebenso wahre Anekdoten über diesen Unmenschen findet man in mehreren Reisebeschreibungen. Dieser Defterdar war dabei, nach aller Aussage, ein Mann von höchst edlem Anstande und großer Würde in seinen Manieren, voll Tapferkeit und Klugheit und so unterrichtet für einen Türken, daß man ihm eine nicht ganz unrichtige Karte des Sennar verdankt, die er während seiner furchtbaren Rachekampagne zur Bestrafung der Mörder Ismaels in Schendy selbst aufgenommen und gezeichnet hatte. Man fand ihn gewöhnlich in der Gesellschaft eines gezähmten Löwen und dito Tigers, und die Furcht der Europäer bei einem so ungewohnten Anblick pflegte ihn sehr zu belustigen. Zuweilen hetzte er beide Tiere aufeinander, was einmal einem seiner Mamelucken, der sie wieder auseinanderbringen sollte, das Leben kostete. Der Vizekönig suchte diese wilde Natur so unschädlich als möglich zu machen, aber die Folgen der durch Mehemed Ali erst begonnenen Zivilisierung hatten damals noch wenig Fortschritte gemacht, es ging noch in den meisten Dingen wie vormals zu, und der Defterdar war zu mächtig und angesehen, der Vizekönig selbst dankte ihm zu viel, um streng mit ihm verfahren zu können. Jetzt würde sich die Sache bald anders gestaltet haben, und es kursierte sogar lange das Gerücht, daß der Defterdar auf Mehemed Alis Befehl… Some highlights have been hidden or truncated due to export limits.

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wie in den ältesten Städten Europas unsre alte Zeit; vor allen aber sind es die zahlreichen, unbeschreiblich herrlichen Moscheen altarabischen Baues, mit ihren himmelhohen Türmen, Spitz- und Rundbogenfenstern, ihren kolossalen Maßen und dem wundersamen Reichtum ihrer unzähligen Zierraten à jour ganz auffallend unsern gotischen Kirchen gleichend, welche uns Abendland und Morgenland zugleich repräsentieren, die Heldenzeiten des Kreuzes wie die des Halbmondes. Seit ich diese Architektur gesehen, bin ich auch immer mehr in meinem alten Glauben bestärkt worden, daß, wie gar manches in Europa, so auch jener sogenannte gotische Baustil sich nur aus dem Arabisch-Maurischen herschreibt oder wenigstens beide aus ein und derselben gleichartigen Quelle fließen, wenn sie sich auch in den verschiedenen Erdteilen verschieden organisch entwickelt haben.

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Überhaupt hat man sich im Orient allerwärts vor europäischen und griechischen Christen in acht zu nehmen, weniger vor den Juden und am wenigsten vor den Muselmännern selbst, die unbestreitbar die ehrlichsten und solidesten unter der ganzen Bevölkerung sind.

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die Krone aller Bauwerke Kahiras, die Moschee Sultan Hassans, welche kaum von irgendeinem gotischen Tempel Europas. übertroffen wird.

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Wenn man nun, die Zitadelle verlassend, nach dem Platz von Rumeli hinabsteigt, kommt man durch die berüchtigte Felsengasse, in der die Mamluckenbeys ihren zwar verdienten, aber allerdings schauderhaften Tod fanden. Man kann sich das Geschehene auf das Lebhafteste hier vergegenwärtigen. Der Leser denke sich nur einen langen gewundenen Gang, auf beiden Seiten von Felsen und hohen darauf errichteten Mauern und Häusern umgeben, in dem ein abschüssiges glattes Steinplattenpflaster den Berg hinunterführt. Die Tore vor und hinter den Beys sind schon geschlossen, den Opfern unbewußt, die man jetzt, im zurückgerufenen Bilde, über Hundert an der Zahl, auf wilden und mutigen Pferden in dem engen Raum dicht zusammengedrängt erblickt, alle strahlend in ihrem höchsten Kriegerschmuck, wohlgemut einherziehend, ohne eine Ahnung von dem, was ihnen bevorsteht, während schon alle Terrassen, alle Felsenvorsprünge, die Galerien der obern Häuser wie in schuldiger Ehrenbezeigung mit Soldatenreihen besetzt sind, bewaffnet zur Salve festlichen Grußes. Jeder von diesen stolzen Beys mochte vielleicht gerade jetzt Gedanken des nahen Verrats von seiner Seite mit Wohlgefallen Raum geben, sich im voraus an dem unvermeidlichen Fall des sichern Feindes weidend, aber für die eigne Sicherheit fürchtete, wie mit Blindheit geschlagen, keiner – da plötzlich richteten sich alle Gewehre auf die vergoldete, schimmernde Schar, und ein Kugelregen schmettert auf sie nieder, von dem schon der erste Schuß die Beys mit der Verzweiflung gänzlicher Hoffnungslosigkeit erfüllen mußte. Denn weder Rettung noch Verteidigung noch Rache war möglich! Das Getümmel der Stürzenden, das Rasen der verwundeten Pferde, das Geschrei und die Verwünschungen der Fallenden, das länger als eine Viertelstunde andauernde Schlachten aus gefahrloser Ferne, der erschütternde Anblick endlich so vieler Fürsten, übermächtiger Herren des Landes, vor deren zürnendem Blicke gestern noch jeder mit Zittern gewichen wäre, jetzt in der Mitte aller sie umgebenden Pracht in Staub und Blut sich wälzend, von ihren eignen Rossen zerstampft, unter dem Hohn gemeiner Albanesen ihren Geist aushauchend, und die im Tode noch umklammerte treue Waffe selbst, nur ein herber Spott in der verteidigungslosen Hand – gewiß, es muß eine Szene von furchtbarer Wirkung gewesen sein.

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Oft, wenn ich mich an dieser nicht abbrechenden Reihe exotischer Bilder ergötzte und dann meinen Blick auf das hohe kühle Laubdach über mir warf, das so viel mehr dem Norden als dem Süden anzugehören schien, kam es mir vor, als sei ich noch in Europa und betrachte nur aus einer Allee des Wiener Praters oder Berliner Tiergartens ein gemaltes Diorama Ägyptens.

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Bei uns spielen abends nur die Wolken am Himmel in mannigfachen und brennenden Farben, hier gab es keine Wolken, aber der ganze Himmel und auch die ganze Erde waren in sanft glühende Tinten von unbeschreiblicher Lieblichkeit gehüllt. Aus der glänzenden Goldfarbe am äußersten Horizont entwickelte sich über dem reinen Äther ein durchsichtiges, wunderbares Meergrün, und helle Rosabanden gingen von diesem in Lila- und Silberstreifen über, die im Osten wieder in lichtes Blau verflossen. So schimmerte in erhabener Milde und Pracht das ganze weite Himmelsgewölbe, während das die Erde deckende Grün, zu höchster Saftfrische gesteigert und wie durch eine Glorie verklärt, häufig, gleich dreifarbig gewebtem Seidenstoff, zu gleicher Zeit in grün und blau und gelb zu schillern schien.

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Mein dem Leser schon aus Alexandria bekannter junger Freund, der französische Konsul Lesseps, ein Pariser Elegant in der Wüste, holte mich auf seinem tunesischen Renner ab, und wir eilten bei Desaix umgeworfenem Monumente und dem prächtigen Throne des Sieges (Bab-el-Nasr) vorüber, einen freien Platz zu gewinnen, bei dem die Prozession vorbeikommen mußte. Einige Regimenter stehen jetzt dort in Zeltlagern, täglich manövrierend, heute aber fanden wir sie, dem heiligen Teppich zu Ehren, mit der irregulären Kavallerie auf beiden Seiten der Straße Spalier bildend. In der Nähe dieser plazierten wir uns auf einer Anhöhe. Schon nahte der Zug. Voran ein Detachement Kavallerie, die Offiziere in ihrer Staatsuniform, in Rot und Gold gekleidet.

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ritten wir eine halbe Stunde weiter, den imposanten, leider nun schon halb verfallenen Grabmälern der Kalifen zu, die dem Architekten fast unerschöpfliche Modelle der mannigfachsten, ebenso geschmackvollen als originellen Zierraten altarabischer Baukunst darbieten und wiederum deutlich zeigten, daß dieser Baustil mit dem gotischen auf das innigste verwandt, ja beide oft sich fast gleich sind. Mitten im Sand der Wüste gelegen und in so tödlich einsamem Kontrast mit dem Gewühl der nahen Hauptstadt, machten diese verhältnismäßig modernen Ruinen, diese Menge von Palästen hingeschiedener Größe in verwitternder Kunst und Pracht, einen viel wehmütigeren Eindruck auf mich als die uns schon so viel weiter entrückten Totenstädte der alten Ägypter.

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Überall schienen aber des Volkes Blicke, das sich ehrerbietig bei seiner Erscheinung aufstellte, ihm mit Liebe und Bewunderung ohne alle Anzeichen sklavischer Furcht zu folgen; eine Behauptung, welche in Europa manchen überraschen wird; aber ich überzeugte mich hundertmal, daß Mehemed Ali in seinem Lande wirklich, trotz aller despotischen Maßregeln, populär bei großen wie kleinen ist: der beste Beweis, daß seine Regierung hier nicht so unpassend sein muß, als unsere Theoretiker sie beurteilen.

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Er wunderte sich etwas, daß trotz dieser Einrichtung dennoch die Kosten der Armee bei uns beinahe die Hälfte der ganzen Staats-Revenuen erreichten, als ich ihm aber sagte, daß wir dadurch in den Stand gesetzt würden, im Fall eines Krieges in wenigen Wochen mit 3-400 000 Mann ins Feld zu rücken und eine stehende Armee von diesem Belange mehr kosten würde, als das ganze Land aufzubringen imstande sei, so fand er das Resultat nicht zu teuer erkauft, denn, wie es scheint, gehört Ibrahim nicht zu denen, die auf einen ewigen Frieden rechnen.

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Obgleich sechs oder sieben seiner türkischen Generale und Oberoffiziere gegenwärtig waren, ergoß er sich ausschließlich im Lobe des arabischen Soldaten und sagte: «Tapferer und mit mehr Ausdauer sich schlagen können keine Truppen in der Welt, obgleich viele geschickter und kriegserfahrener als die meinigen sein mögen, und wenn in der Armee ein Beispiel von Unentschlossenheit oder Feigheit vorfiel, so war es immer nur von seiten der türkischen Offiziere, ich kenne kein solches Beispiel von einem Araber.» Diese Worte sind merkwürdig, denn sie bekunden, was ich schon früher hörte, daß Ibrahim sich ganz auf die Seite jener Politik wendet, welche Mehemed Alis Reich und Dynastie als eine arabische, als eine Erneuerung des alten Kalifats und keineswegs als einen Zweig türkischer Herrschaft angesehen wissen will und nur dadurch von ihr Dauer und Größe erwartet. (S.160)

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Übrigens gibt es keine Nation, bei der mehr als bei den Türken Goethes Worte eintreffen, die er dem sehr weltklugen Mephistopheles in den Mund legt: «Mein Freund, das wird sich alles geben; Sobald du dir vertraust, weißt du zu leben.» (S.161)

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Mein kleines Gefolge bestand außer dem genannten Herrn Doktor mit seinem Diener noch aus einem Kawaß des Vizekönigs, meinem Dragoman Giovanni, meinem Kammerdiener Ackermann, einem griechischen Pagen aus Kandia mit Namen Jannis, einem arabischen, in Kahira einigermaßen französierten Koch, und – um die Langeweile einer so weiten Wasserreise etwas weniger monoton zu machen – einer abessinischen Sklavin, die ich erst wenig Tage vorher für eine ziemlich ansehnliche Summe erkauft hatte. Den Charakter dieses originellen Mädchens zu studieren, an der die Zivilisation noch nichts hatte verderben noch verbessern können, war im Verfolg der Reise eine unerschöpfliche Quelle von Vergnügen für mich, und es tat diesem Studium durchaus keinen Abbruch, daß der Gegenstand desselben zugleich an Schönheit der Formen die treueste Kopie einer Venus von Tizian war, nur in schwarzer Manier. Als ich sie kaufte, und aus Furcht, daß mir ein anderer zuvorkommen möchte, ohne Handel den geforderten Preis sogleich auszahlen ließ, trug sie noch das Kostüm ihres Vaterlandes, das heißt nichts als einen Gürtel aus schmalen Lederriemen mit kleinen Muscheln verziert. Doch hatte der Sklavenhändler ein großes Musselintuch über sie geworfen, das aber vor den Kauflustigen abgenommen wurde und daher der genauesten Beurteilung kein Hindernis in den Weg legte.

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Aber ihr Körper! Woher in des Himmels Namen haben diese Mädchen, die barfuß gehen und nie Handschuhe tragen, diese zarten, gleich einem Bildhauermodell geformten Hände und Füße; sie, denen nie ein Schnürleib nahekam, den schönsten und festesten Busen; solche Perlenzähne ohne Bürste noch Zahnpulver, und obgleich meistens nackt den brennenden Sonnenstrahlen ausgesetzt, doch eine Haut von Atlas, der keine europäische gleichkommt und deren dunkle Kupferfarbe, gleich einem reinen Spiegel, auch nicht durch das kleinste Fleckchen verunstaltet wird? Man kann darauf nur antworten, daß die Natur Toilettengeheimnisse und Schönheitsmittel besitzen muß, denen die Kunst nie gleichzukommen imstande ist. Es war gut, daß ich alle diese Vorzüge beim Einkauf sah, denn jetzt hätte ich weniger Gelegenheit dazu gehabt, da Ajïamé (so heißt die abessinische Schöne) bereits durch meine Fürsorge in dezente morgenländische Kleider mit Strümpfen und gelben Pantoffeln gehüllt ist, die mich nur ihr Antlitz und zuweilen ihre wundervolle Hand mit einem Teil des runden Armes erblicken lassen. Übrigens versteht es sich von vornherein, daß ich ein zu gewissenhafter und selbst zu freier Preuße bin, um sie jetzt noch als Sklavin zu behandeln. Mit dem Eintritt in mein Haus war sie eine Freie, obgleich ich fürchte, daß sie noch keinen recht deutlichen Begriff von diesem Zustande hat, denn als ich ihr denselben mit Hilfe eines Dolmetschers in ihrer Sprache ankündigte, küßte sie mir die Hand und, diese dann demütig an ihre Stirn drückend, flüsterte sie leise: Ich sei ihr Herr und habe zu gebieten, was sie sein und was sie tun solle.

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Dieselbe Delikatesse, mit der sie ihren Körper behandelte, dieselbe Dezenz und Anmut fand ich auch in ihrem übrigen Betragen. Doch verriet sich einige Wochen später – was ich hier gleich mit einschalten will – das sklavische (man könnte auch sagen das weibliche) Prinzip deutlich bei ihr, denn meine zu schmeichelnde Behandlung machte sie schnell übermütig und launisch. Überdem ennuyierte es das hübsche Kind nicht mit Unrecht, mit niemandem sprechen zu können, da weder ich noch ein andrer ihre Sprache verstand, wozu es auch nicht ergötzlich war, nach türkischer Manier stets eingesperrt zu bleiben, und nur täglich tief verschleiert am Abend eine Viertelstunde am Ufer spazierengehen zu dürfen. Alles dies war nicht meine Schuld, und auch mit dem besten Willen hier nicht abzuändern; demohngeachtet wollte sie es mir entgelten lassen und ward endlich bei aller ursprünglichen «gentleness» ihres Charakters gleich einem verzognen Hündchen oft ganz unleidlich mürrisch, gebieterisch und so wetterwendisch, daß ich viel Not mit ihr vorauszusehen anfing. Die Menschen haben aber alle gar viel von den Tieren an sich, und die Wilden stehen ihnen natürlich noch näher. Dies nahm ich in Betrachtung und beschloß nun, der wachsenden Koketterie, Unart und Rebellion meines kleinen Naturkindes auch naturgemäß entgegenzuarbeiten. Ich fing damit an, nach der ersten heftigen Szene dieser Art, wo sie zuletzt im Zorn ein kürzlich von mir erhaltenes Geschenk ohne weiteres über Bord geworfen hatte – stundenlang nicht die mindeste Notiz mehr von ihr zu nehmen, und als sie den Morgen darauf sich noch immer gleich trotzig in ein kleines mit Blei ausgeschlagenes Badekabinett (also eine wahre venetianische Bleikammer bei dem hiesigen Klima), worin sie zugleich ihre Effekten aufhob und ihre Toilette zu machen pflegte, zurückzog, schloß ich ganz kaltblütig die Türe desselben ab und ließ sie andere vierundzwanzig Stunden in diesem Gefängnis verbleiben, während man ihr die nötige Nahrung zum Fenster hineinreichte, aber immer unberührt wieder zurückerhielt. Diese Hartnäckigkeit, verbunden mit einem unverbrüchlichen Stillschweigen, würde mich vielleicht geängstigt haben, wenn ich das liebe, reizende, der Notwendigkeit immer zur rechten Zeit nachgebende, weibliche Geschlecht nicht besser kennte. Schon in der Nacht hörte ich sie mehrmals heftig schluchzen, bereits ein Zeichen der herannahenden Nachgiebigkeit, welches ich jedoch nicht zu bemerken schien – bis sie nach Sonnenaufgang ihr Silberstimmchen vernehmen ließ und auf das Rührendste in abessinischer Sprache um Erlösung bat, was ich dem Sinne nach sehr gut, wenn auch von den Worten nur die wenigen verstand, welche ich bereits nach und nach von ihr gelernt hatte. Noch eine Weile spielte ich den Fühllosen, dann ließ ich mich erbitten und schob den Riegel weg. Verweint und lieblich, so verführerisch drappiert als sie es nur verstand, setzte die Gefangene behutsam ihren schönen nackten Fuß auf den Teppich, folgte langsam mit dem andern nach…

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der Zeitpunkt, wo Mehemed Ali, wie man zu sagen pflegt, sich immer am meisten gehen ließ, am vertraulichsten und aufrichtigsten sprach. Heute erzählte er mir allerlei aus seinem Leben. «Ich kann nicht mehr lange dauern», sagte er, den Kopf auf die Hand gestützt, «denn ich habe zuviel schon in jungen Jahren erleiden müssen. Mein ganzes Leben war ein beständiger Kampf. Als ich noch im Vaterhause in Makedonien war, drückten die Vornehmen und Mächtigen die ganze Provinz mit empörender Willkür. Aufstand nach Aufstand erfolgte, und auch unser Dorf, mit andern vereinigt, versuchte Gewalt mit Gewalt zu vertreiben. Wer aber befehligte die Insurgenten in diesem Streit? – Der junge Mehemed Ali. Und schlecht genug erging es ihm. Ich erlitt so viele kleine Niederlagen, daß einmal der glücklichste meiner Gegner mir während des Gefechtes zurief: ‹Bist du noch nicht müde, geschlagen zu werden, da ich schon müde bin, dich zu besiegen?› Zuletzt erlangten wir indes mit Beharrlichkeit doch einen Teil unsres Zwecks.» Nun ging er zu seinen langen Kriegen mit den Mamlucken in Ägypten über. «Es waren tapfre Leute», sagte er, «und alles unter meinen Truppen fürchtete sich dergestalt vor ihnen, daß, wenn sie Gott nur halb so sehr gefürchtet hätten, sie den sichersten Anspruch auf die ewige Seligkeit im Paradiese gehabt haben würden. Die Mamlucken hätten im Anfang gar keine Waffen gegen uns gebraucht, es war hinlänglich, daß sie ihre kleinen Trommeln schlagen ließen, um all meine Leute davonlaufen zu machen, denen ich dann wohl notgedrungen auch selbst folgen mußte. Mein Sohn Tossum Pascha wie meine übrigen Verwandten hatten dasselbe Los. Nach und nach lehrte ich indes meinen Soldaten den Krieg durch den Krieg, und Gott unterstützte mich. (S.217)

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Mit der größten Unbefangenheit sprach er dann von seiner früheren Unwissenheit und wie er sich nur durch langes und fortgesetztes Nachdenken über jedes einzelne zu unterrichten gesucht, bis er das Wahre aufgefunden, denn alles, was er höre, behalte er wohl im Gedächtnis und prüfe es lange – dann aber handle er schnell und lasse sich durch nichts mehr irre machen. «Man tadelt mich unter andern», sagt, er, «daß ich allen Handel des Landes zu meinem eignen Vorteil an mich gezogen habe. Hätte ich es nicht getan, es würde so gut wie gar kein Handel bei uns existieren, wenigstens nicht zu unsrem Nutzen. Schon habe ich einen Teil des innern Handels der Konkurrenz der Partikuliers überlassen, weil ich zu sehen glaube, daß die Nation langsam aus ihrem Schlaf zu erwachen und den sich darbietenden Vorteil zu verstehen anfängt; ich bin im Begriff, auch einen Teil der Fabriken gleichfalls den Spekulanten in die Hände zu geben. Aber den Handel mit dem Auslande muß ich noch selbst fortführen. Schon Napoleon hat es ausgesprochen: ‹que les négociants de l'Europe sont des bandes organisées.› Wir besitzen noch keine solche Banden, und meine unwissenden und indolenten Ägypter würden bald die Beute der fremden Kaufleute werden, wenn ich selbst mich diesen nicht entgegenstellte, ich – den anzuführen ihnen nicht so leicht wird. Finde ich einst, daß die Zeit dazu gekommen ist, so werde ich auch hierin ein andres System ergreifen, denn weiß ich etwa nicht, daß das Geld nur der Repräsentant der Produkte ist? Wird mein Volk fähig sein, durch sich selbst reich zu werden, so will ich ihm gern auch die Mühe überlassen, welche damit verbunden ist, und hoffe mich nicht schlechter dabei zu befinden. Aber man muß mir zutrauen, daß ich besser zu beurteilen verstehe, als der Redakteur des Journal de Smyrne, was in einer Epoche meinem Lande frommen mag und was in einer andern. Die Franken haben ein gutes Sprichwort, welches sagt: ‹Le mieux est l'ennemi du bien›. Ich habe immer das letzte, soweit es eben möglich war, zu erlangen gesucht, ehe ich an das unerreichbare erste dachte. So fand ich vor allem nötig, ein festes und ein reiches Gouvernement in Ägypten zu gründen, und gleichzeitig rastlos an der bessern Bildung meines Volks zu arbeiten. Zu seiner Zeit wird das jetzt Erlangte ohne Zweifel dazu dienen, ein noch Besseres zu begründen, aber wer mit einem Sprung am Ziele sein will, langt nie dabei an.

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Manches, was ich tue, mag hart erscheinen, und größere Männer, als ich bin, sind nicht anders beurteilt worden – doch das darf mich nicht kümmern. Was ich zum Beispiel von Peter dem Großen gehört, zeigt mir, daß dieser Fürst, der gleich mir alles selbst schaffen mußte, zehnmal eigenmächtiger und despotischer als ich dabei verfuhr, und dennoch hat ihm seine früher murrende Nation wie die ganze Nachwelt endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen. Auch ich erwarte diese Nachwelt als meinen unparteiischen Richter, und gibt mir Gott nur noch einige Jahre des Wirkens und gewährt mir die Möglichkeit, das Begonnene zu befestigen, so fürchte ich ihren Richterspruch nicht. Warum arbeite ich Tag und Nacht, warum scheue ich keine Mühe, keine Anstrengung noch Unbequemlichkeit in meinem hohen Alter, um alles, so viel es mir möglich ist, mit eignen Augen zu sehen und zu beurteilen – wenn es nicht wäre, um jenes große Gebäude zu vollenden, was längst in meinem Geiste feststeht.

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Ich besitze ja überflüssig genug, um für meine Person das Gewonnene und alle Freuden irdischer Existenz in der behaglichsten Ruhe zu genießen, und wenn ich mich statt dessen rastlos plage, so kann es wahrlich nicht aus Egoismus sein! Der Ruhm und das Bewußtsein, die einstige bleibende Wohlfahrt der Länder, über die ich gebiete, begründet zu haben – darin liegt mein teuerstes Interesse, und nur diesem Zweck ist mein ganzes noch übriges Leben geweiht.» Diese mit Feuer und Enthusiasmus ausgesprochenen Worte waren zwar meiner Ansicht von Mehemed Alis Charakter nicht entgegen – sie erschienen aber zugleich so verschieden von dem, was uns im Auslande die meisten Berichte über diesen merkwürdigen Mann zu insinuieren… Some highlights have been hidden or truncated due to export limits.

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Ich habe nicht leicht einen Mann irgendeines Ranges gesehen, der, wenn er will, ein einschmeichelnderes und anziehenderes Wesen gehabt hätte als der Vizekönig. Das lebendige Spiel seiner Augen und seiner ganzen Physiognomie ist dann von einem so feinen, so gutmütig liebenswürdigen Ausdruck begleitet, daß man unwillkürlich sich davon gefesselt fühlt. In der Diskussion ist er voller Mäßigung und Geduld, obgleich ich bemerkte, daß er nicht leicht auf andere Meinung zu bringen ist, aber sein wohlwollendes Benehmen und seine ausgezeichnete Höflichkeit verleugnen sich nie. Zuweilen wenn ich, neben ihm sitzend, unwillkürlich in Gedanken verfiel und zur Wiederanknüpfung des Gesprächs eine Äußerung von ihm selbst erwartete, bog er sich mit jener… Some highlights have been hidden or truncated due to export limits.

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Der erwähnte Leibdiener zog meine Blicke sehr häufig auf sich. Es war eine wahre Charaktermaske, das Ideal eines Roman-Knappens aus alter Zeit, wie sie bei uns in der Wirklichkeit nicht mehr angetroffen werden. In den scharfen, von manchem innern und äußern Unwetter gefurchten Zügen malte sich ein unerschütterlicher Ernst, unbedingte Ergebenheit, felsenfeste Treue und eine keinen Augenblick ruhende Aufmerksamkeit für den Dienst seines Herrn, den er kaum je aus den Augen ließ. Er dient Mehemed Ali bereits 30 Jahre, mochte selbst einige fünfzig zählen, und sein schlohweißer Schimmel, von der Stärke und Dauer eines alten Ritterpferdes, schien gleichfalls nicht wenig Jahre mit ihm gemeinschaftlich gedient zu haben. Das Benehmen dieses Mannes gegen den Vizekönig war zwar voll Ehrfurcht, aber mit jener vertraulichen Sicherheit gepaart, die nur ein so langes Beisammensein, so viel und so wichtiges zusammen Erlebtes geben können. Man sah deutlich, daß dieser Mann seinem Herrn ganz angehörte, bei ihm das Ich im Diener völlig aufgegangen war und jeder Wink des Herrn, im Guten wie im Bösen, im Gefahrvollsten wie im Alltäglichsten, augenblicklicher Folgeleistung sicher war. Zu einem solchen Verhältnis gehörten vielleicht große Eigenschaften im Herrn wie im Diener und außerdem ein großartiges Schicksal des ersten, dem der andere durch Glück und Unglück viele Jahre gefolgt. Vielleicht gehören auch orientalische, primitive Naturen dazu, denn Napoleon wurde, als sein Glücksstern erblich, auf die gemeinste Weise von seinem französischen Mamlucken Rustan verlassen.

Pückler-Muskau: Aus Mehmed Alis Reich

Mehmed Ali PaschaMehmed Ali Pascha (Wikipedia)