01 Juni 2024

Han Suyin: Alle Herrlichkeit auf Erden

 Alle Herrlichkeit auf Erden ist ein Roman von Han Suyin, der schon im Erscheinungsjahr 1952 zum Bestseller wurde. 1955 wurde der Film Love Is a Many-Splendored Thing herausgebracht. 

Der Roman handelt von dem britischen Auslandskorrespondenten Mark Elliot, der sich in eine eurasische Ärztin verliebt, die ursprünglich aus Festlandchina stammt. 

Es ist eine Liebesgeschichte mit autobiographischem Hintergrund und schildert China, Hongkong mit seiner multiethnischen Gesellschaft. In der Endphase des chinesischen Bürgerkriegs war es übervölkert mit Flüchtlingen, Chinesen und Europäern, die dem kommunistischen Vormarsch ausgewichen waren.

Zitate:

Ein Missionar spricht: "Wir haben Euren ästhetisierenden Gelehrten das Versemachen abgewöhnt und ihnen beigebracht, Feder und Sprache statt zur Freude des Einzelnen zum Nutzen von Millionen zu gebrauchen. Wir haben in engster Nachbarschaft der dicht bevölkerten Städte, neben all ihrer Unzufriedenheit und Unruhe große Universitäten gebaut. Wir haben Euch aus euren Häusern geholt und in moderne hygienische Schlafsäle gepfercht. [...] Wir haben in Euch ein Pflichtgefühl gegen euer Vaterland angeregt und entwickelt, so lange, bis ihr von einem wahren Sendungsbewusstsein besessen wart.
Die Erziehung, die wir Euch angedeihen ließen, löste Euch von euren Traditionen ab – so wurdet ihr, nun entwurzelt, zum Nährboden für jenen sehr weitläufigen und sehr verwaschenen Humanismus, mit dem die Menschheit sich zu trösten versucht. Ihr lerntet von uns eine Menge abstrakter Begriffe, für die es in Eurer Sprache nicht einmal ein Wort / gibt: Demokratie, Freiheit, Gleichheit – ohne dass wir uns darum kümmerten, was sie für Euch bedeuten, oder auch nur, was sie für uns bedeuten." (S.19/20)
"Überall wird gebaut. Hongkongs Bevölkerung hat sich nahezu verdreifacht, und jede Woche strömen etwa zehntausend Flüchtlinge aus China herein. Tag und Nacht hört man das Springen, Bohren und Hämmern. Selbst die stillen Hügel hallen vom Klirren menschlicher Geschäftigkeit wieder. Auf den Vorgebirgen, Hängen und Hügeln, die sich in der Mitte der Insel erheben, bauen die Reichen ihre Behausungen. Bevor mit dem Bau begonnen werden kann, muss die Auffahrt zu der geplanten Stelle tief in den Berg geschnitten werden. Die Hügelkuppe muss abgetragen werden, um eine genügend große ebene Fläche für den Unterbau zu schaffen. An mehr als einem Dutzend Stellen wird gleichzeitig gebaut. Eine Unzahl schwarzgekleideter Hakka-Frauen unter deren breitbandigen flachen Strohhüten die Fransen schwarzer Tücher vorschauen, trägt in Ameisenprozession einen Korb Humus nach dem anderen fort. Der Gipfel des Hügels wird langsam weggefressen, die nackte Erde erscheint – ein ockerfarbener Fleck zwischen grünen Büschen. Hier und dort auf der ebenen Fläche lassen die Frauen kleine Erdkegel stehen, wie Finger, die zum Himmel zeigen. Ihre Höhe bestimmt die Menge der fortgeschafften Erdmassen und die Bezahlung der Frauen. Zuletzt wird der Boden mit bloßen Füßen und Handpaddeln glatt gestampft – und dann können die Fundamente gelegt werden.
Weil man so viele Bäume gefällt hat, sind die Hänge kahl, und im Sommerregen rutschen große Stücke davon ab. Der / freigelegte Felsen, vom Wasser ausgewaschen und von der Sonne verbrannt, ist verwittert und bröckelt, wenn man ihn belastet. Damit das Haus festen Halt bekommt, muss ein großer pyramidenförmigen Stein- oder Betonuntergrund angelegt werden. Diese Konstruktion ist oft zwei bis drei  Stockwerke hoch und lässt eine gepflasterte Terrasse oder einen flachen Garten entstehen, in die dann das Haus gesetzt wird. [...] Wie sie so gewichtig dastehen, hoch über den Palmen und Bambusstauden ihrer Gärten, beschützt von ihrer blühenden Brustwehr, haben die Häuser der Reichen den Zauber ferner Schlösser. Die älteren rundbogig und pfeilerverziert, durch Feuchtigkeit und Moder sanft ergraut, verschmelzen mit den Linien der sie umgebenden Hügel. Den neuen fehlt die Milderung durch Alter und Witterung, und sie stehen in hartem Rosa und Weiß grell und nackt in der Sonne." (S.23/24)

[Bau- und Umweltsünden in Hongkong von 1949 und von erschreckender Ähnlichkeit mit Bauen in Deutschland 2024, nur dass bei dem verschwindenden Humus die Ameisenprozession der Frauen fehlt.]

"Ich blickte auf. Der Mann war nicht sehr groß, er war schlank, und sein weißer Anzug ließ ihn fast schmächtig erscheinen. Er ging vorsichtig, tastete sich mit seinen Füßen vor, als ob sie Hände seien. Er hob das Bein bei jedem Schritt im Kniegelenk etwas an, wie es Hirsche tun. Und plötzlich wurde ich mir intensiv des Teppichgewebes unter seinen Schuhen bewusst. Als ob ich darauf läge und als ob mir jedes rauhe Haar in den Rücken stäche.  Ich fühlte, über ein genaueres Erkennen hinaus, die blauen Muster auf dem rehfarbenen Grund, die Sinnbilder glücklicher Vorbedeutung, die darin eingewebt waren, die Fledermäuse und Päonien, die Lotosblüten und endlosen knoten, die Pfirsiche und die Welle der Ewigkeit, die den Teppich rundherum einfassten. Es war, als ob sich etwas in mir im Schlafe bewegt und geseufzt habe. Wie ein schüchterner Finger, der mein Herz berührt, oder wie ein schläfriger Vogel, der die Flügel ein wenig spreizt und wieder einschläft, so rührte und bewegte ich mich in mir selbst und ruhte dann wieder. Unerklärlicherweise überkam mich wortlos ein Gefühl für die Materie, aus der die Dinge gemacht sind – in diesem Falle war es der Teppich. Einen Augenblick lang verlor ich, während der Fremde durch das Zimmer auf mich zu ging, den Kontakt zu dem, was wir Wirklichkeit nennen, zu dem Stuhl, auf dem ich saß, zu der Tasse, die ich in der Hand hielt, zu James' Worten. Dann schnellte die Welt zurück an ihren Platz, und ich saß da und lächelte, und Mark setzte sich in den Sessel an meiner Seite." (S. 33)
Hier gerät Han mit dem Auftauchen Marks in einen anderen Seinszustand, wie es die buddhistische Achtsamkeit anstrebt.
Als ein anderes Liebesmodell wird Suzanne angeführt (S.72 ff.), die keine Liebe fürs Leben anstrebt, sondern nach dem französischen Modell in Ehen als Dritte einbricht und unter Lachen stolz berichtet, dass sie - wie Han aus der Klosterschule kommend -  10 Liebhaber gehabt habe.

Schatzsuche: Eine Cocktail und Dinner Party bei Palmer-Jones gerät zu einer Präsentation und Kritik an der Ansammlung der Reichen in Hongkong. (S.79 ff.)

"Wir saßen auf einem breiten, flachen Stein am Weg oberhalb der Leichenhalle. Es war dies der einzige Platz in Hongkong, wo wir uns treffen konnten, um einander in Ruhe kennenzulernen, um zu lernen, was lieben ist, und um einander lieben zu lernen. Denn Liebe ist keineswegs an dem Tage, an dem sie entsteht, vollendet, Liebe ist ein langsam wachsender Baum, ein lebendiges Wesen, und wie bei allem Lebendigen gibt es da keinen Stillstand. Und so ließen wir sie getrost zu einem stark verwurzelten Baum aufwachsen. Mit jedem Tag lernten wir uns noch etwas besser lieben.
Der weiße Stein am Wege oberhalb der Leichenhalle sollte das einzige Zuhause sein, das wir jemals hatten." (S. 117)

"Auf diesem Stein verließen mich die Schatten, vor denen ich mich gefürchtet hatte, für immer. Ich saß bei ihm, durchströmt von Zärtlichkeit. Mein Inneres schmolz, ich spürte seine Leidenschaft, und wie er sie beherrschte, ich unterwarf mich ihr – meine Ängste machten sich davon, lösten sich im Mondlicht, schwanden in der Nacht. Ich blühte auf zu neuer Lust wie die kleinen Papierkügelchen, die die Kinder in eine Schüssel mit Wasser werfen, die sich öffnen und sich entfalten zu vielfarbigen Blumen. Mark erweckte mich zu neuem Leben. (S.121)
"Ich küsste seine Hand, endlich demütig, endlich besänftigt, weil ich mein eigenes Ich gefunden hatte. Zeit und Raum hatten aufgehört.  Nur noch der Himmel war über uns der leichte Lufthauch, das Mondlicht und dieser Stein auf unserer Erde. Wir brauchten nichts weiter. Wir waren überreich. Wir schliefen weder noch wachten wir. Wir lebten. (S.122) 
"In deiner Provinz Sze-tschwan", sagte Mark, "wird das Chinesische in dir Oberhand gewinnen und alles andere ausschließen. Du wirst mich dann ganz mit chinesischen Augen sehen und dir überlegen, ob du überhaupt noch zu mir halten sollst."
"Ja, das werde ich tun, ich will dich von dort aus sehen. Sehen, wie du wirklich bist. Denn wir müssen ja zusammen leben, man chinesisches Ich und dein englisches Du." (S.127)
"Und dann geschah die Umwandlung:  mein Hongkong-Ich war verschwunden, aufgelöst wie eine Wolke, und ich hatte diesen Ort nie verlassen. Ich kannte diesen Flugplatz besser / als mein Zimmer in der Klinik. Meine Zunge begann die Silben zu rollen, meine Stimme war verändert, als ich nach der Rechnung fragte. Ich hatte meine angenommene kantonesische Sprechweise vergessen. Diese Hügel waren die einzigen, die ich je gesehen, mit einem Pelz von Bäumen, wie mit zierlichen Kräutern überwachsen, nicht kahl wie die Hügel von Kaulun, die ich heute morgen verlassen hatte. Das tiefe Schmutzgeleise, das sich Weg nannte und zwischen den Hängen in stetem Auf und Nieder zur fünfundzwanzig Kilometer entfernten Stadt führte, war der einzige Weg, den ich mir überhaupt vorstellen konnte." (S.128/129)
"Der Bus war seit Kriegsende noch nicht wieder gestrichen worden. Nicht nur die Farbe, sondern ganze Teile seiner hölzernen Karosserie splitterte ab. Er hatte sich längst von seinen Fensterscheiben, Türen und Sitzen, ja selbst vom halben Steuerrad trennen müssen. Auch Kühlerhaube, Scheinwerfer und Kotflügel fehlten. Wir sahen uns alle nach etwas anderem um, denn keiner glaubte, dass dieses Wrack uns fahren könnte. Aber es war das einzig vorhandene Transportmittel. Wir wurden von einem fetten Beamten hineingeschnauzt, so wie widerstrebende Gefangene zur Hinrichtung. Und wir hoben und drücken uns gegenseitig hinein, denn es gab keine Trittbretter, saßen auf unserem Gepäck, das auf dem morschen Boden aufgetürmt war  und die Löcher in den Brettern nur ungenügend verdeckte. Als wir alle eingestiegen waren, zu einem wirren Konglomerat zusammengepresst, wurden einige Holzstangen vor die breite Einstiegöffnung gelegt und mit / Stricken festgebunden. Dies besorgten zwei Soldaten mit aufgeschwemmte Gesichtern, Opfer der Hakenwurmkrankheit. (S.129/130)  

Rückkehr nach Tschung-king

"Der Ladeninhaber brachte schwarze Lackschemel herbei und gab uns rauchigen Tsing- Cheng-Tee, der so aromatisch ist, dass er den Durst löscht, ehe man noch davon getrunken hat. Ich war wieder hier. Ich hatte nicht gewusst, dass man so vollständig heimkehren kann. Die Dinge haben sich verändert, aber ich bin wieder da, so fest verwurzelt, so tief eingepflanzt wie immer. Hier bewegt sich mein Leben harmonisch, angeschirrt an die gleiche unendliche Geduld, mit der der langsame Fluss dahinzieht. Ich bin daheim." (S.131)

Meine Schwester Suchen
"Ihre langen Brauen waren sehr dunkel und liefen in Spitzen aus. Ihre großen, sanften Augen, in denen das Licht sich vielfach spiegelte, zeigten um die Iris, das Weiß kostbaren Porzellans. Die gerade Nase war wohlgeformt und ohne den grausamen Schwung der Nüstern, die Dritter Onkel und ich von einem Ahn geerbt hatten, der bestimmt ein Bösewicht gewesen. Ihre Nase war freundlich, ihr Mund weit und großzügig. Er lag weich um ihre tadellosen Zähne. [...] Ich wusste, sie war freundlich, gut und anschmiegsam, für ein normales Leben voller Liebe zu einem guten Mann und vielen Kindern wie geschaffen. Nicht wie ich, die ich herb, und sentimental und voll wilden Lebens war, seit Mark mich aufgeweckt hatte – sie war eine Frau, für die man sorgen musste.  Kein Wunder, dass Dritter Onkel sie nicht mochte und sie ihn dafür hasste." (S.145 )

"Ich ging zurück zu Der Familie. Ich stieg die Verandastufen hinauf. Alle waren aufgeblieben, Dritter Onkel, Dritte Tante und meine zahlreichen Vettern. Dritte Tante schenkte einen ganz besonderen Tee ein. Dritter Onkel nahm eigenhändig eine Uhr aus dem Schrank, wo sie jahrelang gelegen, zog sie extra für mich auf, ging ins Schlafzimmer und stellte sie mir auf den Nachttisch. Ich war sofort eingehüllt in Zuneigung, die niemals zuviel wurde, niemals demonstrativ wirkte und / immer zurückhaltend und höflich ohne große Gesten blieb. Sie liebten mich, sie trösteten mich. Sie erzählten mir komische Geschichten, ebenso wie Mark damals in Macao, als er mich so zart in die in den Armen gehalten.  Damals hatte ich sogar vergessen, dass wir im selben Bett lagen." (S.146/147 )

Acedia

"Sie trug ein europäisches Kleid, rot mit weitem Ausschnitt, und es fiel mir wieder auf, wie schön sie war und wie fehl am Platz auf dem englisch geschorenen Rasen, während der gewaltige, chinesische Fluss zweihundert Schritte entfernt, dahinströmte und die massigen Hügel und den trüben Himmel auf seinen Schultern trug. Sie gehörte nicht hierher. Sie war eine zerbrechliche Natur trotz ihrer Größe. Ich verstand im Bruchteil eines Augenblicks, wie fremd sie hier bleiben musste, obgleich sie hier geboren und meine Schwester war. Sie konnte nichts dafür. Sie war nicht hart genug. 

Für sie war das starke, erschreckend lebensstarke China, unwirklich und weit weg. Eine langweilige, langatmige Geschichte in schmutzigen Einband. Wo ich mit leidenschaftlichem Herzen die Gewalt des monotonen Flusses wahrnahm, sah sie nur trübes und unbequem breites Wasser. Wo ich im mürrischen Warten der Menschen, in ihren Umherlungern, an den Straßenecken ihre wortlose Hingabe an das Schicksal sah, bemerkte sie nur Schmutz und Gefahr. Während die Familie für mich Zuneigung, Respekt und gegenseitige Hilfe bedeutete, sah sie nur feindliche Absicht, Übelwollen und Zurechtweisung." (S. 154)


"So ist der Kreislauf der Dinge, und so wächst unsere Welt der Zukunft entgegen. Sie tut es nicht geradeswegs und ungestört, sondern wie ein Baum wächst: im Zusammenwirken von Regen und Sturm, Hitze und Kälte, Licht und Dunkelheit. So müssen wir denn allen Dingen gegenüber Geduld und Zurückhaltung üben und die Vorstellung jener Harmonie in uns tragen, die die Gegensätze verschmelzen wird und das Entgegengesetzte als verschiedene Aspekte der gleichen Sache erkennen lässt. Wie bei einem Rade auch die leeren Zwischenräume und nicht nur die Speichen zur Eigenschaft des Rades gehören, so ist es mit allen Dingen unter dem Himmel, unter dem alle Dinge gleich sind. Daran denke." (S.351/352)
(Seitenangaben nach der Ausgabe im Bertelsmann Lesering 1957)

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