24 April 2025

Goethe Tag- und Jahreshefte 1805

 "[...]  Ich konnte den werten Mann (Friedrich A. Wolf) gastfreundlich aufnehmen und so mit ihm höchst erfreulich belehrende Stunden zubringen. Da nun in so vertraulichem Verhältnis jeder offen von demjenigen sprach, was ihm zunächst am Herzen lag, so tat sich sehr bald die Differenz entschieden hervor, die zwischen uns beiden obwaltete. Hier war sie von anderer Art als diejenige, welche mich mit Schiller, anstatt zu entzweien, innigst vereinigte. Schillers ideeller Tendenz konnte sich meine reelle gar wohl nähern, und weil beide vereinzelt doch nicht zu ihrem Ziele gelangen, so traten beide zuletzt in einem lebendigen Sinne zusammen.

Wolf dagegen hatte sein ganzes Leben den schriftlichen Überlieferungen des Altertums gewidmet, sie, insofern es möglich war, in Handschriften oder sonst in Ausgaben genau untersucht und verglichen. Sein durchdringender Geist hatte sich der Eigenheit der verschiedenen Autoren, wie sie sich nach Orten und Zeiten ausspricht, dergestalt bemächtigt, sein Urteil auf den höchsten Grad geschärft, daß er in dem Unterschied der Sprache und des Stils zugleich den Unterschied des Geistes und des Sinnes zu entdecken wußte, und dies vom Buchstaben, von der Silbe hinauf bis zum rhythmischen und prosaischen Wohlklang, von der einfachen Wortfügung bis zur mannigfaltigen Verflechtung der Sätze. [...] War es also ein Wunder, daß ein solcher Mann dergleichen durchgreifende Bemühungen auf das höchste schätzen und die daraus entspringenden Resultate für einzig halten mußte! Genug, aus seinen Unterhaltungen ging hervor: er achte das nur einzig für geschichtlich, für wahrhaft glaubwürdig, was durch geprüfte und zu prüfende Schrift aus der Vorzeit zu uns herübergekommen sei.

Dagegen hatten die Weimarischen Freunde mit denselben Überzeugungen einen andern Weg eingeschlagen; bei leidenschaftlicher Neigung für bildende Kunst mußten sie gar bald gewahr werden, daß auch hier das Geschichtliche sowohl der Grund eines jeden Urteils als einer praktischen Nacheiferung werden könne. Sie hatten daher sowohl alte als neuere Kunst auf ihrem Lebenswege immer geschichtlich zu betrachten sich gewöhnt und glaubten auch von ihrer Seite sich gar manches Merkmals bemächtigt zu haben, woran sich Zeit und Ort, Meister und Schüler, Ursprüngliches und Nachgeahmtes, Vorgänger und Nachfolger füglich unterscheiden ließen.

Wenn nun im lebhaftesten Gespräche beide Arten, die Vergangenheit sich zu vergegenwärtigen, zur Sprache kamen, so durften die Weimarischen Kunstfreunde sich wohl gegen den trefflichen Mann im Vorteil dünken, da sie seinen Studien und Talenten volle Gerechtigkeit widerfahren ließen, ihren Geschmack an dem seinigen schärften, mit ihrem geistigen Vermögen seinem Geiste nachzudringen suchten und sich also im höheren Sinne auferbaulich bereicherten. Dagegen leugnete er hartnäckig die Zulässigkeit ihres Verfahrens, und es fand sich kein Weg, ihn vom Gegenteil zu überzeugen: denn es ist schwer, ja unmöglich, demjenigen, der nicht aus Liebe und Leidenschaft sich irgendeiner Betrachtung gewidmet hat und dadurch auch nach und nach zur genauern Kenntnis und zur Vergleichungsfähigkeit gelangt ist, auch nur eine Ahnung des zu Unterscheidenden aufzuregen, weil denn doch immer zuletzt in solchem Falle an Glauben, an Zutrauen Anspruch gemacht werden muß. Wenn wir ihm nun sehr willig zugaben, daß einige Reden Ciceros, vor denen wir den größten Respekt hatten,[138] weil sie zu unserm wenigen Latein uns behülflich gewesen waren, für später untergeschobenes Machwerk und keineswegs für sonderliche Redemuster zu achten seien, so wollte er uns dagegen keineswegs zugeben, daß man auch die überbliebenen Bildwerke nach einer gewissen Zeitfolge zuversichtlich ordnen könne.

Ob wir nun gleich gern einräumten, daß auch hier manches problematisch möchte liegenbleiben, wie denn ja auch der Schriftforscher weder sich selbst noch andere jederzeit völlig befriedigen werde, so konnten wir doch niemals von ihm erlangen, daß er unseren Dokumenten gleiche Gültigkeit mit den seinigen, unserer durch Übung erworbenen Sagazität gleichen Wert wie der seinigen zugestanden hätte. Aber eben aus diesem hartnäckigen Konflikt ging für uns der bedeutende Vorteil hervor, daß alle die Argumente für und wider auf das entschiedenste zur Sprache kamen und es denn nicht fehlen konnte, daß jeder, indem er den andern zu erleuchten trachtete, bei sich selbst auch heller und klarer zu werden bestrebt sein mußte. [...]

Der wunderliche, in manchem Sinne viele Jahre durch schon bekannte problematische Mann, Hofrat Beireis in Helmstedt, war mir schon so oft genannt, seine Umgebung, sein merkwürdiger Besitz, sein sonderbares Betragen sowie das Geheimnis, das über allem diesem waltete, hatte schon längst auf mich und meine Freunde beunruhigend gewirkt, und man mußte sich schelten, daß man eine so einzig merkwürdige Persönlichkeit, die auf eine frühere, vorübergehende Epoche hindeutete, nicht mit Augen gesehen, nicht im Umgang einigermaßen erforscht habe. Professor Wolf war in demselbigen Falle, und wir beschlossen, da wir den Mann zu Hause wußten, eine Fahrt nach ihm, der wie ein geheimnisvoller Greif über außerordentlichen und kaum denkbaren Schätzen waltete. Mein humoristischer Reisegefährte erlaubte gern, daß mein vierzehnjähriger Sohn August teil an dieser Fahrt nehmen durfte, und dieses geriet zur besten geselligen Erheiterung; denn indem der tüchtige, gelehrte Mann den Knaben unausgesetzt zu necken sich zum Geschäft machte, so durfte dieser des Rechts der Notwehr, welche denn auch, wenn sie gelingen soll, offensiv verfahren muß, sich zu bedienen und wie der Angreifende auch wohl manchmal die Grenze überschreiten zu können glauben, wobei sich denn wohl mitunter die wörtlichen Neckereien in Kitzeln und Balgen zu allgemeiner Heiterkeit, obgleich im Wagen etwas unbequem, zu steigern pflegten. [...]

 Beireis, im Jahre 1730 geboren, fühlte sich als trefflicher Kopf eines weit umfassenden Wissens fähig und zu vielseitiger Ausübung geschickt. Den Anregungen seiner Zeit zufolge bildete er sich zum Polyhistor; seine Tätigkeit[149] widmete er der Heilkunde, aber bei dem glücklichsten, alles festhaltenden Gedächtnis konnte er sich anmaßen, in den sämtlichen Fakultäten zu Hause zu sein, jeden Lehrstuhl mit Ehre zu betreten. Seine Unterschrift in meines Sohnes Stammbuch lautet folgendermaßen:


Godofredus Christophorus Beireis,

Primarius Professor Medicinae, Chemiae, Chirurgiae, Pharmaceutices,

Physices, Botanices et reliquae Historiae naturalis.

Helmstadii a. d. XVII Augusti MDCCCV.


Aus dem bisher Vorgezeigten jedoch ließ sich einsehen, daß seine Sammlungen, dem naturhistorischen Teile nach, einen eigentlichen Zweck haben konnten, daß hingegen das, worauf er den meisten Wert legte, eigentlich Kuriositäten waren, die durch den hohen Kaufpreis Aufmerksamkeit und Bewunderung erregen sollten; wobei denn nicht vergessen wurde, daß bei Ankauf desselben Kaiser und Könige überboten worden.

Dem sei nun, wie ihm wolle, ansehnliche Summen mußten ihm zu Gebote stehn; denn er hatte, wie man wohl bemerken konnte, ebensosehr eine gelegene Zeit zu solchen Ankäufen abgewartet als auch, mehr denn andere vielleicht, sich sogleich zahlungsfähig erwiesen. Obgenannte Gegenstände zeigte er zwar mit Anteil und Behagen umständlich vor, allein die Freude daran schien selbst gewissermaßen nur historisch zu sein; wo er sich aber lebhaft, leidenschaftlich überredend und zudringlich bewies, war bei Vorzeigen seiner Gemälde, seiner neuesten Liebhaberei, in die er sich ohne die mindeste Kenntnis eingelassen hatte. Bis ins Unbegreifliche ging der Grad, womit er sich hierüber getäuscht hatte oder uns zu täuschen suchte, da er denn doch auch vor allen Dingen gewisse Kuriosa vorzustellen pflegte. Hier war ein Christus, bei dessen Anblick ein Göttinger Professor in den bittersten Tränenguß sollte ausgebrochen sein, sogleich darauf ein von einer englischen Dogge angebelltes, natürlich genug gemaltes Brot auf dem Tische der Jünger zu Emmaus, ein anderes aus dem Feuer wunderwürdig gerettetes Heiligenbild, und was dergleichen mehr sein mochte.

Die Art, seine Bilder vorzuweisen, war seltsam genug und[150] schien gewissermaßen absichtlich; sie hingen nämlich nicht etwa an den hellen, breiten Wänden seiner oberen Stockwerke wohlgenießbar nebeneinander, sie standen vielmehr in seinem Schlafzimmer um das große Thronhimmelbette, an den Wänden geschichtet, übereinander, von wo er, alle Hülfleistung ablehnend, sie selbst herholte und dahin wieder zurückbrachte. Einiges blieb in dem Zimmer um die Beschauer herumgestellt, immer enger und enger zog sich der Kreis zusammen, so daß freilich die Ungeduld unseres Reisegefährten, allzustark erregt, plötzlich ausbrach und sein Entfernen veranlaßte.

Es war mir wirklich angenehm, denn solche Qualen der Unvernunft ertragen sich leichter allein als in Gesellschaft eines einsichtigen Freundes, wo man bei gesteigertem Unwillen jeden Augenblick einen Ausbruch von einer oder der andern Seite befürchten muß.

Und wirklich war es auch zu stark, was Beireis seinen Gästen zumutete; er wußte sich nämlich damit am meisten, daß er von den größten namhaften Künstlern drei Stücke besitze, von der ersten, zweiten und letzten Manier, und wie er sie vorstellte und vortrug, war jede Art von Fassung, die dem Menschen zu Gebot stehen soll, kaum hinreichend, denn die Szene war lächerlich und ärgerlich, beleidigend und wahnsinnig zugleich.

Die ersten Lehrlingsproben eines Raffael, Tizian, Carracci, Correggio, Dominichin, Guido und von wem nicht sonst waren nichts weiter als schwache, von mäßigen Künstlern gefertigte, auch wohl kopierte Bilder. Hier verlangte er nun jederzeit Nachsicht gegen dergleichen Anfänge, rühmte aber mit Bewunderung in den folgenden die außerordentlichsten Fortschritte. Unter solchen der zweiten Epoche zugeschriebenen fand sich wohl manches Gute, aber von dem Namen, dem es zugeeignet worden, sowohl dem Talent als der Zeit nach himmelweit entfernt. Ebenso verhielt es sich mit den letzten, wo denn auch die leersten Phrasen, deren anmaßliche Unkenner sich bedienen, gar wohlgefällig vom Munde flossen.

Zum Beweis der Echtheit solcher und anderer Bilder zeigte[151] er die Auktionskatalogen vor und freute sich der gedruckten Lobpreisung jeder von ihm erstandenen Nummer. Darunter befanden sich zwar echte, aber stark restaurierte Originale; genug, an irgendeine Art von Kritik war bei diesem sonst werten und würdigen Manne gar nicht zu denken.

Hatte man nun die meiste Zeit alle Geduld und Zurückhaltung nötig, so ward man denn doch mitunter durch den Anblick trefflicher Bilder getröstet und belohnt.

Unschätzbar hielt ich Albrecht Dürers Porträt, von ihm selbst gemalt, mit der Jahrzahl 1493, also in seinem zweiundzwanzigsten Jahre, halbe Lebensgröße, Bruststück, zwei Hände, die Ellenbogen abgestutzt, purpurrotes Mützchen mit kurzen, schmalen Nesteln, Hals bis unter die Schlüsselbeine bloß, am Hemde gestickter Obersaum, die Falten der Ärmel mit pfirsichroten Bändern unterbunden, blaugrauer, mit gelben Schnüren verbrämter Überwurf, wie sich ein feiner Jüngling gar zierlich herausgeputzt hätte, in der Hand bedeutsam ein blaublühendes Eryngium, im Deutschen Mannstreue genannt, ein ernstes Jünglingsgesicht, keimende Barthaare um Mund und Kinn, das Ganze herrlich gezeichnet, reich und unschuldig, harmonisch in seinen Teilen, von der höchsten Ausführung, vollkommen Dürers würdig, obgleich mit sehr dünner Farbe gemalt, die sich an einigen Stellen zusammengezogen hatte.

Dieses preiswürdige, durchaus unschätzbare Bild, das ein wahrer Kunstfreund, im goldenen Rahmen eingefaßt, im schönsten Schränkchen aufbewahrt hätte, ließ er, das auf ein dünnes Brett gemalte, ohne irgendeinen Rahmen und Verwahrung. Jeden Augenblick sich zu spalten drohend, ward es unvorsichtiger als jedes andere hervorgeholt, auf- und wieder beiseite gestellt, nicht weniger die dringende Teilnahme des Gastes, die um Schonung und Sicherung eines solchen Kleinods flehte, gleichgültig abgelehnt; er schien sich wie Hofrat Büttner in einem herkömmlichen Unwesen eigensinnig zu gefallen.

Ferner gedenk ich eines geistreich frei gemalten Bildes von Rubens, länglich, nicht allzu groß, wie er sich's für solche ausgeführte[152] Skizzen liebte. Eine Hökenfrau, sitzend in der Fülle eines wohlversorgten Gemüskrams, Kohlhäupter und Salat aller Arten, Wurzeln, Zwiebeln aller Farben und Gestalten; sie ist eben im Handel mit einer stattlichen Bürgersfrau begriffen, deren behagliche Würde sich gar gut ausnimmt neben dem ruhig anbietenden Wesen der Verkäuferin, hinter welcher ein Knabe, soeben im Begriff, einiges Obst zu stehlen, von ihrer Magd mit einem unvorgesehenen Schlag bedroht wird. An der andern Seite, hinter der angesehenen Bürgersfrau, sieht man ihre Magd einen wohlgeflochtenen, mit Marktwaren schon einigermaßen versehenen Korb tragen, aber auch sie ist nicht müßig, sie blickt nach einem Burschen und scheint dessen Fingerzeig mit einem freundlichen Blick zu erwidern. Besser gedacht und meisterhafter ausgeführt war nicht leicht etwas zu schauen, und hätten wir nicht unsere jährlichen Ausstellungen abzuschließen festgestellt, so würden wir diesen Gegenstand, wie er hier beschrieben ist, als Preisaufgabe gesetzt haben, um die Künstler kennenzulernen, die, von der überhandnehmenden Verirrung auf Goldgrund noch unangesteckt, ins derbe, frische Leben Blick und Talent zu wenden geneigt wären. [...]" (Zeno.org Goethe Jahreshefte 1805)

Keine Kommentare: