Nachwort von Bettina Gaus, der Tochter von Günter Gaus, zu dessen Autobiografie: Widersprüche. Erinnerungen eines linken Konservativen, 2004, S.329-345
"[...] Ungeschrieben bleibt auch das letzte Kapitel seiner Erinnerungen. Es sollte die Überschrift tragen: "Klar". Noch einmal widerfuhr meinem Vater im Dezember 2001, was ihm [S.344/345] im Laufe seines Lebens so oft widerfahren ist: Er interessierte sich für ein Thema, er sah eine berufliche Herausforderung – und er fand einen Menschen. Im Besucherraum des Gefängnisses Bruchsal in Baden-Württemberg führte er für seine Reihe "Zur Person", das erste Fernsehinterview mit dem ehemaligen RAF-Terroristen, Christian Klar, der zu diesem Zeitpunkt seit neunzehn Jahren inhaftiert war.
Nervös wirkte der damals Neunundvierzigjährige auf ihn. Die erkennbare Mühe, die es dem Häftling bereitete, sich zu konzentrieren, hat meinen Vater tief verstört. Er konnte keinen Sinn in einer Fortdauer der Haft mehr sehen. Weder den der Resozialisierung noch den der Vereitelung weitere Straftaten. Er sah nur einen Mann, dessen Taten er missbilligte, und für dessen Recht auf eine eigene, wenigstens in Teilen noch selbstbestimmte Biografie er bis zur letzten eingetreten ist.
Ich habe meinen Vater nur sehr selten weinen sehen. Als er mir erzählte, dass Klar auf einer Postkarte um Gnade gebeten hat, die ein Segelschiff zeigte, da weinte er. Er hat das Maß der Sehnsucht nach Freiheit, das er aus diesem Motiv herausgelesen hat, nur schwer ertragen. Seinen diskreten Bemühungen um eine Begnadigung des Gefangenen blieb der Erfolg versagt. Das hat er nicht mehr erleben müssen. Es war uns, seiner Familie vergönnt, ihn an seinem Todestag – an dem er sich zum letzten Mal nach dem Stand der Dinge erkundigte – wahrheitsgemäß zu sagen, die Angelegenheit sei noch nicht entschieden. Das ist sie, wenn man so will, noch immer nicht. Nichts ist endgültig, solange Menschen leben.
Berlin, im Juni 2004"
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