02 August 2025

Kampf gegen kindliche Neugier

 "Heute gleich nach 9 kommt eine aus der II. in die Mathematikstunde und sagt: ,,Die Frau Direktorin läßt bitten, die Lainer, die Bruckner und die Franke sollen sofort in die Kanzlei kommen. Alle Mädchen schauen uns an, aber wir wissen nicht, warum. Wie wir in die Kanzlei kommen, ist die Tür von der Frau Dir. zu und das Fräulein N. sagt, wir sollen warten. Dann kommt die Frau Dir. hinaus und ruft mich hinein. Drin sitzt eine Dame, die schaut mich mit dem Lorgnon an. ,,Gehst du öfters mit der Zerkwitz?" fragt die Frau Direktorin. Ja, sag ich, und es ahnt mir gleich nichts Gutes. ,,Diese Dame ist die Mama der Zerkwitz, sie beschwert sich darüber, daß du mit ihrer Tochter sehr unpassende Sachen redest; ist dies so?" ,,Wir, die Hella und ich, haben ihr nie etwas sagen wollen; aber sie hat uns sehr gebeten und dann glaubten wir auch, sie wisse es ohnehin schon und stellt sich nur so." ,,Was soll sie wissen und was habt ihr gesprochen?" fährt die Mama von der Anneliese los. ,,Bitte", sagt die Direktorin, ,,ich werde die Mädchen verhören; also die Bruckner war auch dabei?" ,,Nur ganz selten", sage ich. ,,Ja, die Haupbschuldige ist die Lainer, deren Mama erst vor kurzem gestorben ist." Da habe ich die Tränen verbissen und gesagt: ,,Wenn die Anneliese nicht immer wieder angefangen hätte, hätten wir kein Wort von diesen Sachen geredet." Und dann habe ich überhaupt keine Antwort mehr gegeben. Jetzt mußte die Hella hereinkommen. Sie hat mir dann gesagt, wie sie mich angeschaut hat, hat sie gleich gewußt, wieviel es geschlagen hat. ,,Was habt ihr mit der Zerkwitz geredet?" Zuerst wollte die Hella nichts sagen, aber dann sagte sie ganz kurz: ,,Vom Kinderkriegen und von dem Verheiratetsein!" ,,Gott im Himmel, solche Küken und sprechen von solchen Dingen", sagte die Mama von der Anneliese. ,,Solche verdorbene Geschöpfe." ,,Wir haben nicht geglaubt, daß die Anneliese wirklich nichts weiß, sonst hätten wir nichts mit ihr geredet", sagte auch Hella; sie war großartig. ,,Was den Alfred betrifft, so sind wir ganz unbeteiligt und wir haben ihr oft abgeraten, sich von der Schule abholen zu lassen; aber sie hörte nicht auf unsern guten Rat." ,,Ich spreche jetzt von euren Gesprächen, durch die ihr das arme unschuldige Kind verdorben habt", sagte die Frau v. Zerkwitz. ,,Sie muß unbedingt schon etwas gewußt haben, sonst wäre sie nicht mit dem Alfred gegangen und auch nicht mit uns", sagte die Hella. ,,Ach, du himmlischer Vater, das ist ja die weit Ärgere; eine solche Verdorbenheit!" Dann mußten wir hinausgehen. Draußen hat die Hella furchtbar geweint und ich auch, weil wir uns fürchten wegen zuhause. Wir konnten gar nicht in die Mathematikstunde gehen, weil wir ganz verweint waren. [...]

Knapp vor 12 wurde ich nochmals mit der Hella zur Frau Direktorin gerufen. ,,Mädchen", sagte sie, ,, was habt ihr für abscheuliche Sachen? Was müßt ihr denn das, was eure Phantasie vorzeitig vergiftet, andern auch noch sagen? Und du Lainer, schämst du dich nicht, vor wenigen Wochen wurde deine Mama begraben, und jetzt hört man solche Dinge von dir?" ,,Bitte", sagt die Hella; ,,dies war alles schon im Frühling und noch im Winter; denn da sind wir noch aufs Eis gegangen. Da war die Mama der Rita noch ziemlich gesund. Und die Zerkwitz hat uns schrecklich sekkiert, ihr alles zu sagen. Ich habe die Rita oft gewarnt und gesagt: ,,Trau ihr nicht", aber sie war ganz vernarrt in die Zerkwitz. Bitte Frau Direktorin, sagen Sie nichts davon dem Papa der Rita; denn er würde sich sehr kränken." Die Hella war einfach großartig, ich werde ihr das nie vergessen. Sie will mich das nicht schreiben lassen; wir schreiben nämlich zusammen. Die Hella meint, wir müssen alles wörtlich niederschreiben, man kann nie wissen, wozu man es braucht. Die Hella ist eine Freundin, wie es keine zweite gibt, und dabei so mutig und gescheit. ,,Du bist geradeso gescheit", sagt sie zu mir, ,,aber nur bist du gleich so eingeschüchtert und dann bist noch von deiner Mama ihrem Tod sehr nervös. Wenn nur dein Papa nichts erfährt." Die dumme Gans hat auch die alte Sauce von den zwei Studenten am Eis aufgewärmt, die längst vorüber ist. ,,Nur niemanden sich anvertrauen", sagt die Hella und da hat sie / wirklich recht. Ich hätte das der Anneliese niemals zugetraut. Was mit der Franke war, wissen wir noch nicht. Wie sie heraufkam, legte sie die Finger an die Lippen, das sollte natürlich heißen: ,,Nichts verraten!'' (144/145pdf 161-63st 132-34 Orig.)  

Dieser Text ist ein Abschnitt aus einem Tagebuch, das 1919 von Dr. Hermine Hug-Hellmuth, einer Frau, die mit dem Psychoanalytiker Sigmund Freud zusammenarbeitete, herausgegeben wurde.

Der vollständige Text des "Tagebuch(s) eines halbwüchsigen Mädchens"  ist hier nachzulesen. Dort ist er allerdings etwas unbequem zu lesen. 1987 kam er allerdings als suhrkamp taschenbuch 1463 heraus. Eine eingehende Besprechung des Buches findet sich hier. Mädchen führen weit häufiger als Jungen Tagebücher, aber ungekürzt bekommt man sie fast nie zu lesen, weil sie über die Privatsphäre von Kindern berichten, die aus guten Gründen geschützt ist, damit sich Kinder da völlig offen über ihr Erleben äußern und als Erwachsene darüber Rechenschaft geben können. Elke Heidenreich hat kürzlich berichtet, dass sie ihr Tagebuch bewusst verbrannt hat. Thomas Mann hat verfügt, dass sein sehr ausführliches Tagebuch (Teile davon hat auch er verbrannt) erst Jahrzehnte nach seinem Tod veröffentlicht werden durften, um seine Privatsphäre zu schützen. 

Dies Tagebuch ist aber zur Veröffentlichung freigegeben worden. Allerdings wurden alle Namen der betroffenen Personen geändert und die präzisen Datumsangaben nur ohne Jahreszahlen freigegeben. 

Acht Jahre nach der Veröffentlichung wurde das Buch wieder vom Markt genommen (auf Wunsch von Sigmund Freud, der es vor seinem Erscheinen als Juwel bezeichnet hatte und hinzufügte: "Sie sind verpflichtet, es der Öffentlichkeit zu übergeben." 

Warum kam es erst 68 Jahre nach seinem Erscheinen wieder heraus?

Es handelt von der Privatsphäre eines Mädchens, dem man - wie über viele Jahrzehnte üblich - alle Informationen über die sexuelle Entwicklung der Frau vorenthalten hatte. Viele unverheiratete Frauen starben, ohne je Genaueres darüber zu erfahren. Auch darüber berichtet Stefan Zweig, von dem die Besprechung des Tagebuchs stammt, und zwar in seinem Bericht über die Erziehung im Viktorianischen Zeitalter.

Vieles spricht dafür, dass die Herausgeberin mehr verändert hat, als sie angegeben hat und manches dafür, dass sie ihr eigenes Jungmädchentagebuch bei der Erstellung des Textes herangezogen hat. 

mehr dazu: Stefan Zweigs Rezension des Tagebuchs und ausführlichere Textausschnitte finden sich hier.

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