Wer hat wohl nicht in seiner Jugend jenes niederdrückende, katzenjämmerliche Unbehagen empfunden, wenn es nach genossenen Jahrmarkts- und Königschuß-Freuden wieder zur Schule gehen heißt, wenn der sonnige Sommertag mit der müffigen Schulstube vertauscht werden soll und die kleinen gelenkigen Glieder verdammt sind, unter der Zuchtruthe des Präceptors in grausamer Unbeweglichkeit der endlichen, fröhlichen Auferstehung entgegen zu harren? Ich gestehe gerne ein, daß ich nie zu den sehr eifrigen Besuchern der Schule gehört habe, und glaube, daß mir dafür als Strafe jenes Unbehagen tief in die Seele geimpft ist, denn wenn ich jetzt in alten Tagen unruhig schlafe und von bösen Träumen gequält bin, so habe ich mich entweder nicht präparirt, oder irgend einer meiner vielen Lehrer hält mir ein schrecklich roth perlustrirtes Exercitium unter die Nase, das er mir dann schließlich um die Ohren schlägt, wonach ich dann stets erwache und Gott danke, daß ich nicht mehr nöthig habe in die Schule zu gehen. Aber es hilft nicht; ich habe versprochen, auch über die wissenschaftlichen Anstalten meiner Vaterstadt Bericht zu erstatten, ich muß also wieder in die Schule.
Es gab in Stavenhagen drei solcher Bildungsanstalten für den menschlichen Geist und Marteranstalten für das menschliche Sitzfleisch, die ich hier im aufsteigenden Klimax folgen lasse: ‘de Becker-Schaul’, ‘de Köster-Schaul’ un ‘de Rekter-Schaul’. Einen organischen Zusammenhang hatten diese drei Schulen durchaus nicht; man konnte in jeder anfangen und in jeder aufhören, oder man konnte mit demselben Nutzen alle drei durchmachen; denn von dem, was man heutzutage Methode nennt, war in allen dreien nicht die Rede, bloß in der Rektor-Schule wurden die Prügel nach einer festgestellten Methode verabfolgt, worüber ich an seinem Orte berichten werde.
Die Becker-Schule hat ihren Namen von der alleinigen Directrice und alleinigen Lehrerin, der Frau Becker oder ‘Mutter Beckersch’, wie sie von allen Leuten genannt wurde, einer sehr alten, emeritirten Weber-Wittwe, die dies Privat-Institut ohne Beihülfe von Staatsund Stadt-Mitteln auf eigene Faust begründet hatte, indem – wie der Stavenhägener Bürger sich damals ausdrückte – "sei ehre Nohrung dorvon söcht," die aber nur schwach sein konnte, da sie von jedem Insassen ihrer Bänke nur einen Schilling wöchentlich als Einspringe-Geld in die geheiligten Hallen der Wissenschaft erhob. – Hier wurden die Anfangsgründe aller Wissenschaft, ausdauerndes Sitzen und verständiges Maulhalten eingeübt. Wer damit durch war, kam ganz allmählich auf dem Wege der Buchstaben Kenntniß und des a-b, ab, b-a, ba in die Fibel, aus welcher er in dieser Schule nicht wieder herauskam. Frau Becker saß während der Lehrstunden auf einem Binsenstuhle, umgeben von ihrem kleinen Völkchen, welches in einstimmigem Unisono ihre alten treuen Lehrerohren mit a-b, ab, b-a, ba erfreute. In ihrer Hand hielt sie ein Instrument von eigener Erfindung, wie es für ihren gebrechlichen Körperzustand paßte, der ein öfteres Aufstehen nicht mehr erlaubte, eine Birkenruthe, die an einem Stück Bohnenstange befestigt war und mit welchem sie bis in die entferntesten Ecken ihres Schullokals reichen konnte, um jeden Versündiger gegen a-b, ab, b-a, ba auf der Stelle abstrafen zu können. Offenbare Bösewichter, bei denen die kindliche Birkenruthe nicht mehr fruchten wollte, wurden auf die beschämendste Weise dem öffentlichen Hohne preisgegeben; sie wurden mit einem gewaltigen Esel um den Hals vor die Thüre auf die Straße gestellt und dienten in ihrer Verworfenheit der gemeinen Sittlichkeit als abschreckendes Beispiel.
Unter diesen Bedingungen hätte sich nun vernunftgemäß ein hohes Ehrgefühl unter der städtischen Jugend entwickeln müssen; aber leider schlug die Sache gerade in’s Gegentheil um. Wenn ein solcher Eselträger öffentlich ausgestellt war, versammelte sich die übrige Jugend aus der Straße um ihn und baten ihn: "Korl, ick gew Di ok en Stück von minen Appel, lat mi ok mal eins den Esel ümhängen." – "Krischaening, nu mi mal! – Deihst ‘t nich? – Na täuw, ick nem Di ok nich wedder mit nah min Großmutting ehren Goren." – Ja, mein bester Freund, Karl Nahmacher, kam schon nach der zweiten Stunde, in der er sich hartnäckig gegen die Sitzverordnungen gesträubt hatte, jubelnd nach Hause zurück: "Mutting ick heww den Esel üm hatt! Vatting, ick heww mit den Esel up de Strat stahn!"
Den directen Gegensatz gegen diese bloß durch die Birkenruthe etwas gestörte Schulidylle bildete ‘de Köster-Schaul’; hier war von einer Appellation an das Ehrgefühl durchaus nicht die Rede, hier herrschte der Stock in seiner unverhülltesten Gestalt; statt von der Hand einer alten, schwachen, gutmüthigen Frau wurde hier das Züchtigungs-Instrument von der Faust eines vierschrötigen Einpaukers geschwungen, der unermüdet mit blauer Puckelschrift allerlei Bestellungen an die Fassungsgabe seiner Scholaren ausrichtete. – Die Schulstube des Küsters Voß sah ärger aus als ein Gefängniß-Lokal des wailand Stockhauses zu Dömitz, und seine Schüler glichen Verbrechern. Er war ein Anhänger prophylaktischer Curen, er prügelte in der ersten Stunde Alle ohne Unterschied durch, damit seine Rangen inne würden, was ihrer harrete, wenn sie in den andern sich ein Vergehen zu Schulden kommen ließen. Ungefähr so, wie es früher in Mecklenburg bei den Pferdejungen der Bauern angewendet wurde, denen ja auch regelmäßig am ersten Mai die obbesagte Cur verordnet wurde, damit sie den Sommer über die Pferde nicht in den Weizen laufen ließen. Er prügelte seine Schüler in die Fibel hinein und hinaus und dann wieder in Lutheri Katechismus hinein, worin sie dann zeitlebens stecken blieben. Hätte er seine Armkraft zum Holzhacken verwandt, so wären beide Theile, er sowohl, wie seine Schüler, besser daran gewesen, er hätte mehr verdient, denn auch er bezog nur wöchentlich einen Schilling pro Puckel.
Außerhalb seiner Schulstube war dieser Pädagog ein ebenso gefürchteter Schläger, allerlei unheimliche Faust und Schemelbein Geschichten spukten durch sein Leben, und oftmals kam er mit einem blauangelaufenen Auge zu Platz – das andere war ihm einmal bei einer Schlägerei abhanden gekommen. Ich erinnere mich einer Scene, deren Schluß ich selbst mit angesehen habe, worin er neben seiner Schlagfertigkeit noch ein Stück Humor entwickelte, und die deshalb hier ihren Platz finden mag. – Der Klempnermeister Belitz, dem der Volkswitz den Beinamen ‘Oberförster’ gegeben hatte, weil er sich als Holzdieb in den großherzoglichen Forsten vor Allen auszeichnete, ein kleiner, zusammengetrockneter, dorniger Kerl, geht vor Küster Voß, der hinter dem Branntweinglase sitzt, immer auf und nieder und sagt in Folge eines vorausgegangenen Streites: "Ja, Vadder Voß, wi willen seihn, wo de Voß de Egt treckt." Voß rührt sich noch nicht bei dieser Anspielung auf seinen Namen. – "Wi willen seihn, wo de Voß de Egt treckt," wiederholt Belitz mit dreisterer Betonung. – Da erhebt sich Küster Voß, schlägt den ‘Oberförster’ mit dem Ausrufe: "Wrampige, wormmadige Kirl!" zu Boden, faßt ihn in dem Rockkragen, schleppt ihn auf die Straße und von da in den Rinnstein und zieht ihn in demselben immer auf und nieder: "Süh so, Vadder Belitz, treckt de Voß de Egt!"
Dieser Schulmann starb nicht in seinem Beruf, sondern in dem Stavenhäger Wallgraben.
(Fritz Reuter: Meine Vaterstadt Stavenhagen)
28 April 2011
Fritz Reuter: Stavenhagener Bildungsanstalten
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