12 Januar 2025

Dickens: David Copperfield 2. Kapitel

Inhalt Kapitel 1-22 Kindheit und Jugend (Wikipedia)

Zu Kapitel 1: Textauszug

Ich habe jetzt einiges in der Jugendausgabe von David Copperfield gelesen und bin enttäuscht, weil es immer wieder um Misshandlung von Kindern geht. Das hätte ich von der Jugendausgabe nicht erwartet.

Was steht im Original? (Der leichteren Lesbarkeit aber auf Deutsch:)

Zweites Kapitel  [17] Ich beobachte.

Die ersten Gegenstände, die bestimmte Umrisse von mir annehmen, wenn ich weit zurück in die Leere meiner Kindheit blicke, sind meine Mutter mit ihrem schönen Haar und den jugendlichen Formen und Peggotty mit überhaupt gar keiner Form und mit so dunkeln Augen, daß sie ihre Umgebung im Gesicht dunkel zu machen scheinen, und mit Armen und Backen so rot, daß ich mich stets wunderte, warum die Vögel nicht lieber an ihnen statt an den Äpfeln herumpickten.

Ich glaube, mich noch daran erinnern zu können, wie die beiden Frauen in kleiner Entfernung voneinander auf dem Boden knieten, und ich unsicher von einer zur andern wankte. Ich habe auch noch eine dunkle Erinnerung an Peggottys Zeigefinger, der von der Nadel so rauh war wie ein  Taschenmuskatnuß-reibeisen. (englisch: pocket nutmeg-grater, in der Jugendausgabe: "kleines Reibeisen"). 

Das mag Einbildung sein, aber ich glaube, daß das Gedächtnis der meisten Menschen weiter in die Kinderzeit zurückreicht, als man gewöhnlich annimmt;[17] ebenso glaube ich, daß die Beobachtungsgabe bei vielen kleinen Kindern an Schärfe und Genauigkeit ganz wunderbar ist. Ich glaube sogar, daß man von den meisten Erwachsenen, die in dieser Hinsicht bemerkenswert sind, viel eher sagen könnte, sie hätten diese Fähigkeit nicht verloren, als, sie hätten sie erst später erworben; um so mehr, als solche Menschen überdies eine gewisse Frische und Sanftmut und eine Fähigkeit, sich über irgend etwas zu freuen, besitzen, lauter Eigenschaften, die sie ebenfalls aus der Kindheit mit herübergenommen haben.

Wenn ich also, wie gesagt, in die Leere meiner frühesten Jugend zurückblicke, sind die ersten Gegenstände, deren ich mich entsinnen kann, und die aus dem Wirrwarr der Dinge hervorstechen, meine Mutter und Peggotty. Was weiß ich sonst noch? Wollen mal sehen.

Es scheidet sich aus dem Nebel unser Haus in seiner mir in frühester Erinnerung vertrauten Gestalt. Im Erdgeschoß geht Peggottys Küche auf den Hinterhof hinaus; da sind: in der Mitte ein Taubenschlag auf einer Stange, aber ohne Tauben; eine große Hundehütte in einer Ecke, aber kein Hund darin, und eine Anzahl Hühner, die mir erschrecklich groß vorkommen, wie sie mit drohendem und wildem Wesen herumstolzieren. Ein Hahn fliegt auf einen Pfosten, um zu krähen, und scheint sein Auge ganz besonders auf mich zu richten, wie ich ihn durch das Küchenfenster betrachte; und ich zittere vor Furcht, weil er so bös ist. Von den Gänsen außerhalb der Seitentür, die mir mit langausgestreckten Hälsen nachlaufen, wenn ich vorbeigehe, träume ich die ganze Nacht, wie ein Mann, den wilde Tiere umgeben, von Löwen träumen würde. [...]


Diese Passage ist in der Jugendausgabe nicht weggekürzt, aber da habe ich sie weniger intensiv wahrgenommen. Es fehlt die originelle Wortwahl. 


David liest dem Kindermädchen Peggotty etwas über Krokodile vor, wobei sie offenbar nicht recht zuhört, weil sie die für ein Gemüse hält: "Darauf war ich des Lesens müde und sehr schläfrig, aber da ich besonderer Ursache halber Erlaubnis hatte, aufzubleiben, bis meine Mutter von einem Abendbesuche nach Hause kam, so wäre ich natürlich lieber auf meinem Posten gestorben, als zu Bett gegangen. [...] Ich war so schläfrig, daß ich fühlte, so wie ich nur einen Augenblick meine Augen abwendete, würde ich einschlafen.

»Peggotty,« fragte ich plötzlich, »bist du einmal verheiratet gewesen?«

»Herjeh, Master Davy«, entgegnete Peggotty. »Wie kommst du aufs Heiraten?«

Sie fuhr bei meiner Frage so überrascht auf, daß ich darüber ganz wach wurde. Dann hielt sie aber im Nähen inne und sah mich an, indem sie den Faden, so lang er war, straff anzog.

»Aber bist du einmal verheiratet gewesen, Peggotty?« fragte ich. »Du bist doch sehr hübsch, nicht wahr?«

Allerdings war ihr Typus ein anderer als der meiner Mutter; aber in einer andern Art von Schönheit hielt ich sie für ein vollkommenes Muster, In unserer Putzstube war nämlich ein Fußbänkchen von rotem Samt, auf das meine Mutter einen Strauß gemalt hatte. Dieser Samt und Peggottys Teint schienen mir zum Verwechseln gleich zu sein, Die Fußbank freilich war glatt und weich, und Peggotty war rauh, aber das machte keinen Unterschied.

»Ich hübsch, Davy?« sagte Peggotty. »Ach du meine Güte, liebes Kind! Aber wie kommst du nur aufs Heiraten?«

»Ich weiß nicht! – Aber du darfst nicht mehr als einen auf einmal heiraten, nicht wahr, Peggotty?«

»Gewiß nicht«, sagte Peggotty mit sicherer Entschiedenheit.

»Aber wenn du jemand heiratest und der jemand stirbt, dann kannst du einen andern heiraten, nicht wahr, Peggotty?«

»Man kann, wenn man Lust hat, liebes Kind«, sagte Peggotty. »Das ist Meinungssache.«

»Aber was ist deine Meinung, Peggotty?« sagte ich und blickte sie bei dieser Frage neugierig an, weil sie mich so forschend ansah.

»Meine Meinung ist,« sagte Peggotty, als sie nach einiger Unschlüssigkeit ihre Augen von mir abgewendet und wieder zu arbeiten angefangen hatte, »daß ich niemals verheiratet gewesen bin, Master Davy, und daß ich nicht glaube, jemals zu heiraten. Weiter kann ich nichts darüber sagen.«

»Du bist doch nicht böse, Peggotty?« sagte ich, nachdem ich ein Weilchen still dagesessen hatte.

Ich glaubte wirklich, daß sie es wäre, denn so kurz war sie gewesen, aber ich irrte mich ganz und gar, sie legte ihre Arbeit (einen ihrer Strümpfe) beiseite, öffnete ihre Arme, nahm meinen lockigen Kopf und drückte ihn derb an sich. Daß sie mich derb herzhaft an sich drückte, weiß ich, denn da sie sehr wohlbeleibt war, so pflegten stets, wenn sie ganz angekleidet eine kleine Anstrengung machte, ein paar Knöpfe hinten von ihrem Rocke abzuspringen. Und ich besinne mich, daß diesmal zwei in die andere Ecke des Zimmers flogen, während sie mich umarmte.

»Na, nun lies mir noch etwas von den Korkodilliens vor,« sagte Peggotty, »denn ich habe noch lange nicht genug davon.«

Ich begriff damals nicht, warum Peggotty so versessen auf ihre Korkodilliens war, aber mit neuer Frische meinerseits kehrten wir also zu den Ungeheuern zurück, ließen sie ihre Eier in den Sand legen und von der Sonne ausbrüten, [...] kurz und gut, wir nahmen die Krokodile von A bis Z durch. Ich wenigstens tat es, aber über Peggotty hatte ich meinen Zweifel, denn sie stach mit ihrer Nadel gedankenvoll in verschiedene Teile ihres Gesichts und ihrer Arme.

Nachdem wir mit den Krokodilen fertig waren, hatten wir mit den Alligatoren angefangen, als es am Gartentor klingelte. Wir gingen hinaus, und draußen stand meine Mutter, die mir ungewöhnlich hübsch vorkam, und neben ihr ein Herr mit schönem schwarzem Haar und schwarzem Backenbart, der uns schon am vorigen Sonntag aus der Kirche nach Hause begleitet hatte.

Als meine Mutter auf der Schwelle stehen blieb und mich in ihre Arme nahm und küßte, sagte der Herr, ich sei glücklicher als ein Fürst oder etwas ähnliches. Denn ich merke, hier kommt mir mein späteres Verständnis zu Hilfe.

»Was heißt das?« fragte ich ihn über ihre Schulter hinweg.

Er klopfte mich auf den Kopf, aber ich konnte weder ihn noch seine tiefe Baßstimme leiden, und es erregte meine Eifersucht, daß seine Hand mich anfaßte und dabei gleichzeitig die meiner Mutter berührte. Und ich schob sie hinweg, so weit ich's vermochte.

»Aber Davy!« ermahnte meine Mutter.

»Der liebe Junge!« sagte der Herr. »Ich kann seine Zärtlichkeit schon begreifen.«

Noch nie hatte ich meiner Mutter Antlitz so schön erröten sehen. Sie schalt mich sanft aus wegen meiner Unfreundlichkeit und sprach, indem sie mich dicht an sich hielt, ihren Dank gegen den Herrn aus, daß er so gütig gewesen war, sie nach Hause zu begleiten. Sie reichte ihm ihre Hand und als er sie nahm, kam es mir vor, als ob sie mich von seitwärts her rasch anblickte.

»Nun laß auch uns gute Nacht sagen, mein kleiner Mann«, sagte der Herr zu mir, nachdem er sich – ich sah es ganz deutlich – über den zierlichen Handschuh meiner Mutter gebeugt hatte.

»Gute Nacht!« sagte ich.

»Komm! Wir müssen die besten Freunde von der Welt werden!« sagte er lachend. »Gib mir die Hand!«

Meine rechte Hand lag in der linken meiner Mutter, deshalb gab ich ihm die andere.

»Das ist ja aber die falsche Hand, Davy!« sagte der Herr lachend.

Meine Mutter zog meine rechte Hand hervor, aber ich war entschlossen sie ihm nicht zu geben, und tat es auch nicht. Ich reichte ihm die andere, er schüttelte sie kräftig und sagte, ich sei ein wackerer Junge, und ging fort.

Noch jetzt sehe ich ihn, wie er sich in der Gartentür umdrehte und uns noch einmal mit seinen unangenehmen schwarzen Augen ansah, ehe sich das Gitter hinter ihm schloß,

Peggotty, die kein Wort gesprochen und keinen Finger gerührt hatte, schob sofort den Riegel vor, und wir gingen alle in das Wohnzimmer. Anstatt sich wie gewöhnlich in den Lehnstuhl neben das Feuer zu setzen, blieb meine Mutter heute am andern Ende des Zimmers stehen und sang dabei leise vor sich hin.

»Hoffentlich haben Sie einen angenehmen Abend verlebt, Ma'am«, sagte Peggotty, die so steif wie ein Stock in der Mitte des Zimmers stand und einen Leuchter in der Hand hielt.

»Ich danke, Peggotty«, erwiderte meine Mutter mit sehr heiterer Stimme. »Ich habe einen sehr angenehmen Abend verlebt.«

»Etwas Fremdes gibt eine angenehme Abwechselung«, bemerkte Peggotty.

»Eine sehr angenehme Abwechselung, gewiß«, entgegnete meine Mutter.

Aus der vorhergehenden Passage erkennt man, dass Davids Muter einen Verehrer gefunden hat, den David und Peggotty nicht mögen. Im Regelfall ist die Reaktion eines Kindes ein Anzeichen dafür, welche Rolle der Erwachsene spielen wird. Bei meiner ersten Lektüre war es für mich vermutlich nicht ganz so wichtig. Es ist aber eindeutig eine epische Vorausdeutung.

Da Peggotty regungslos in der Mitte des Zimmers stehen blieb, meine Mutter wieder zu singen anfing, schlief ich ein, obgleich ich nicht so fest schlief, daß ich nicht Stimmen hören konnte, wiewohl ich nicht verstand, was sie sagten. Als ich aus diesem unbehaglichen Schlummer halb erwachte, sah ich, daß Peggotty und meine Mutter in großer Aufregung miteinander sprachen und dabei weinten.

»So einer wie dieser hätte Mr. Copperfield nicht gefallen«, behauptete Peggotty. »Das sage ich und das schwöre ich!«

»Guter Gott,« rief meine Mutter, »du wirst mich noch zur Verzweiflung treiben! Ist jemals ein armes Mädchen von ihrem Dienstboten so mißhandelt worden! Aber warum tue ich mir das Unrecht, mich ein Mädchen zu nennen? Bin ich niemals verheiratet gewesen, Peggotty?«

»Gott weiß, daß es wahr ist, Ma'am«, entgegnete Peggotty.

»Wie kannst du dann wagen,« sagte meine Mutter – »das heißt, ich meine nicht, wie du es wagen kannst, Peggotty, sondern wie du es auch nur übers Herz bringen kannst, mir solches Unbehagen zu bereiten und so böse Worte zu sagen, da du doch recht gut weißt, daß ich draußen auf der ganzen Welt keinen einzigen Freund habe.«

»Um so mehr habe ich Grund zu sagen, daß es nicht geht«, entgegnete Peggotty. »Nein, es geht nicht, nein; um keinen Preis, nein, nein!« – Ich glaube wahrhaftig, Peggotty wollte den Leuchter hinschleudern, so dramatisch deklamierte sie damit.

»Wie kannst du mich nur so ärgern,« sagte meine Mutter und fing von neuem an zu weinen, »und mich so ungerecht verklagen? Wie kannst du reden, als ob alles schon abgemacht wäre, Peggotty, wenn ich dir immer und immer wieder sage, du böses Mädchen, daß außer den gewöhnlichsten Höflichkeiten nichts vorgefallen ist? Du sprichst von Bewunderung – was soll ich tun? Wenn Leute so töricht sind, Bewunderung zu fühlen, ist das meine Schuld? Was soll ich dagegen tun, frage ich dich? Soll ich mir etwa das Haar abscheren lassen, soll ich mir das Gesicht schwärzen, oder mich mit einem Brandfleck oder heißem Wasser oder etwas ähnlichem verunstalten? Ich glaube, du könntest das verlangen, Peggotty, ja ich glaube, du würdest dich noch darüber freuen.«

Peggotty schienen diese Zumutungen nicht sonderlich zu Herzen zu gehen.

»Und mein lieber Bubi,« rief meine Mutter und kam an meinen Stuhl und liebkoste mich, »mein lieber kleiner Davy! Willst du etwa sagen, es fehle mir an Liebe für mein kostbares Goldkind, für den besten kleinen Buben auf der Welt?«

»Kein Mensch hat jemals an so etwas gedacht«, sagte Peggotty.

»Du hast es getan, Peggotty!« gab meine Mutter zurück. »Ich weiß, daß du es gemeint hast! Was anders soll ich aus deinen Worten entnehmen, du böses Mädchen, da du doch recht gut weißt, daß ich mir nur seinetwegen im letzten Vierteljahr keinen neuen Sonnenschirm kaufen wollte, obgleich der alte grüne obenherum ganz schlecht ist und die Fransen entzwei sind: Das weißt du, Peggotty, und das kannst du nicht leugnen!« Dann wendete sie sich zärtlich an mich, schmiegte ihre Wange an die meine und sagte: »Bin ich eine böse Mama, Davy? Bin ich eine hartherzige, selbstsüchtige, schlechte Mama? Sage ja, Kind, sage ja, liebes Herz, dann wird dich Peggotty lieben und Peggottys Liebe ist viel, viel besser, als die meine, Davy. Ich liebe dich ja gar nicht, nicht wahr?«

Bei diesen Worten fingen wir alle zu weinen an, und soviel ich mich besinnen kann, war ich der lauteste von den dreien, aber wir meinten es sicherlich alle drei gleich aufrichtig. Ich war wie aufgelöst, und ich glaube, daß ich in den ersten Aufwallungen verletzter Zärtlichkeit Peggotty ein Scheusal nannte. Ich besinne mich noch, wie das gute Mädchen in die tiefste Betrübnis geriet und bei dieser Gelegenheit alle ihre Knöpfe verloren haben muß, denn eine ganze Ladung davon sprang ins Zimmer, als sie nach Versöhnung mit meiner Mutter vor meinen Stuhl hinkniete und das gleiche mit mir tat.

Wir gingen alle sehr niedergeschlagen zu Bett. Mein Schluchzen hielt mich noch lange Zeit wach, und als mich ein starker Seufzer im Bette ordentlich in die Höhe hob, sah ich, daß meine Mutter auf dem Gestell saß und sich über mich beugte. Ich schlummerte nun in ihren Armen ein und schlief fest.

Ob ich, schon am folgenden Sonntag den Herrn wieder sah oder ob ein größerer Zeitraum dazwischen lag, dessen kann ich mich nicht mehr entsinnen. In der Zeitrechnung bin ich nicht ganz zuverlässig. Aber er war wieder in der Kirche und begleitete uns dann nach Hause, Er kam auch in die Stube, um sich ein schönes Geranium anzusehen, das im Fenster stand. Er schien es nicht besonderer Aufmerksamkeit zu würdigen, aber ehe er uns verließ, bat er meine Mutter, ihm eine Blüte davon zu geben. Sie sagte, er solle sich selbst eine aussuchen, aber das wollte er nicht – ich konnte nicht begreifen, warum – und so pflückte sie eine Blüte ab und gab sie ihm. Er sagte, er werde sich nun und niemals von ihr trennen, und ich dachte, er müsse ein rechter Narr sein, um nicht zu wissen, daß die Blätter in ein oder zwei Tagen verwelkt sein würden.

Peggotty fing jetzt an, uns abends weniger oft Gesellschaft zu leisten als früher. Meine Mutter besprach zwar mancherlei mit ihr – viel mehr als gewöhnlich, wie mir schien – und wir vertrugen uns vortrefflich, aber es war doch zwischen uns dreien anders geworden, und wir befanden uns nicht mehr so behaglich wie früher. Manchmal kam es mir vor, Peggotty habe etwas dagegen, daß meine Mutter jetzt immer ihre besten Kleider hervorholte und anzog, die in ihrem Kleiderschranke hingen, dann wieder, daß ihr Mutters häufige Besuche in der Nachbarschaft zuwider waren: doch ich konnte mir nicht klar darüber werden, was es eigentlich war.

Allmählich gewöhnte ich mich an den Anblick des Herrn mit dem schwarzen Backenbart. Er gefiel mir nicht besser als von Anfang an, und ich fühlte immer noch in bezug auf ihn dieselbe unbestimmte Eifersucht. Aber wenn ich überhaupt einen Grund dafür hatte, abgesehen von instinktiver kindischer Abneigung und von der allgemeinen Überzeugung, daß Peggotty und ich meine Mutter auch ohne fremde Hilfe beherrschen konnten: jedenfalls geschah es nicht aus dem Grunde, den ich herausgefunden hätte, wenn ich älter gewesen wäre. Das kam mir nie, auch nicht im entferntesten in den Sinn. Ich vermochte meine Beobachtungen gewissermaßen nur stückweise anzustellen, doch aus diesen Bruchstücken ein Netz zu machen und darin irgendeinen zu fangen, das ging noch über meine Kräfte.

An einem Herbstmorgen war ich mit meiner Mutter in dem Garten vor dem Hause, als Mr. Murdstone (ich kannte ihn jetzt unter diesem Namen) vorbeigeritten kam. Er hielt sein Pferd an, um meine Mutter zu begrüßen, und sagte, er ritte nach Lowestoft, um einige Freunde zu besuchen, die dort eine Jacht hätten, und machte scherzend den Vorschlag, mich vor sich auf den Sattel zu nehmen, wenn ich an dem Ritt Gefallen fände.

Das Wetter war so wunderschön und die Luft so milde, und dem Pferde selbst schien die Aussicht auf den Ritt sehr zu gefallen, weil es schnaubend und stampfend vor der Gartentür stand, daß ich große Lust fühlte mitzureiten. Die Mutter schickte mich daher mit Peggotty hinauf, um schmuck gemacht zu werden, und unterdessen stieg Mr. Murdstone ab und ging, die Zügel über den Arm geworfen, langsam vor der Hagebuttenhecke auf und ab, während meine Mutter ihm zur Gesellschaft auf der inneren Seite mit ihm Schritt hielt. Ich erinnere mich noch, wie Peggotty und ich aus meinem kleinen Fenster auf sie hinabguckten, ich besinne mich auch noch, wie eifrig sie bei ihrem Spaziergange in den Hagebuttenbusch spähten, und wie Peggotty, die vorher in der besten Laune gewesen war, plötzlich ganz ärgerlich wurde und mein Haar recht derb gegen den Strich bürstete.

Mr. Murdstone und ich waren bald unterwegs und trabten auf dem grünen Rasenstreifen neben der Landstraße dahin. Er hielt mich leicht mit einem Arm umfaßt, und ich glaube nicht, daß ich besonders unruhig war; aber ich konnte mich nicht entschließen, vor ihm sitzen zu bleiben, ohne den Kopf umzuwenden und ihm ins Gesicht zu sehen. Er hatte jene Art von seichten schwarzen Augen – ich habe kein besseres Wort für ein Auge, das keine Tiefe hat, in die man hineinblicken könnte – die durch ein eigentümliches Spiel des Lichts zu schielen scheinen, wenn sie nachsinnend blicken. Mehrmals, wenn ich ihn ansah, bemerkte ich mit einer Art Scheu diesen Blick und fragte mich, worüber er wohl nachdenken möge. Sein Haupthaar und sein Bart waren, in der Nähe betrachtet, noch schwärzer und dichter, als ich je geglaubt hätte. Die eckigstarken Kinnladen und die bläulichen Schatten, die von dem sorgfältig rasierten Barte übrig blieben, erinnerten mich an eine Wachsfigur, die vor einem halben Jahre in unserer Gegend gezeigt worden war. Dieses, seine regelmäßigen Augenbrauen und das schöne Weiß, Schwarz und Braun seines Teints – verwünscht sei sein Teint und sein Gedächtnis! – all dieses machte, daß ich ihn trotz meiner bangen Ahnungen für einen sehr schönen Mann hielt. Ich bezweifle gar nicht, daß meine arme Mutter ganz derselben Meinung war.

Wir gingen nach einem am Meere belegenen Gasthofe, wo zwei Herren in einem eigenen Zimmer Zigarren rauchten. Jeder von ihnen räkelte sich auf mindestens vier Stühle hingestreckt und hatte eine zottige Matrosenjacke an. In einem Winkel lagen auf einem Haufen übereinander Überröcke und Schifferjacken und eine Flagge,

Sie stolperten beide schwerfällig in die Höhe, als wir eintraten, und riefen: »Holla, Murdstone! Wir dachten, Ihr wäret tot!«

»Noch nicht«, sagte Mr. Murdstone.

»Und wer ist dieser kleine Mann?« sagte einer der Herren, und faßte mich beim Arme.

»Das ist Davy«, gab Mr. Murdstone zur Antwort.

»Davy Wer?« sagte der Herr. »Jones?«

»Copperfield«, sagte Mr. Murdstone.

»Was? ein Sprößling der himmlischen Mrs. Copperfield?« rief der Hell. »Von der reizenden kleinen Witwe?«

»Quinion, sagte Mr. Murdstone, »bitte mit Vorsicht. Jemand ist schlau.«

»Wer?« fragte der Herr lachend.

Ich blickte rasch auf, denn ich war neugierig es zu erfahren.

»Ach, nur Brooks von Sheffield«, sagte Mr. Murdstone.

Ich fühlte mich ordentlich erleichtert, als ich erfuhr, daß es nur Brooks von Sheffield sei, denn anfangs glaubte ich wirklich, man meine mich.

Mr. Brooks von Sheffield schien aber außerordentlich komische Erinnerungen zu erregen, denn beide Herren lachten recht herzlich, als sie seinen Namen hörten, und auch Mr. Murdstone amüsierte sich köstlich darüber. Nach einigem Lachen sagte der Herr, den er Quinion genannt hatte:

»Und was ist des Mr. Brooks von Sheffield Meinung über das beabsichtigte Geschäft?«

»Hm! Ich weiß nicht, ob Brooks vorderhand viel davon weiß,« entgegnete Mr. Murdstone; »aber ich glaube im allgemeinen ist er dem Plan nicht besonders günstig.«

Darüber wurde viel gelacht, und Mr. Quinion sagte, er wolle nach Sherry klingeln, um auf Brooks Gesundheit zu trinken. Das tat er, und als der Wein kam, schenkte er mir ein Gläschen voll ein, hieß mich aufstehen und vor dem Trinken sagen: »Daß dich der Deixel – Brooks von Sheffield!« Der Toast wurde mit großem Beifall und so schallendem Gelächter aufgenommen, daß ich selbst mitlachen mußte, worüber sie noch mehr lachten. Kurz, wir waren sehr vergnügt miteinander.

Wir gingen danach auf den Klippen des Strandes spazieren und setzten uns ins Gras und guckten nach verschiedenen Dingen durch das Teleskop – ich konnte nichts sehen, als sie es mir vor das Auge hielten, obgleich ich so tat – und dann kehrten wir nach, dem Gasthofe zurück, um zeitig zu Mittag zu essen. Während unseres Spazierganges rauchten die beiden Herren in einem fort – was sie, nach dem Dufte ihrer Schifferjacken zu urteilen, unaufhörlich seit dem Tage getan haben mußten, an dem sie die Jacken vom Schneider erhielten. Ich darf auch nicht zu berichten vergessen, daß wir die Jacht besuchten, wo sie alle drei in die Kajüte hinabgingen und sich mit einigen Papieren zu tun machten. Ich sah sie damit sehr eifrig beschäftigt, als ich durch das offene Lukenfenster hinabblickte. Diese ganze Zeit über ließen sie mich in Gesellschaft eines sehr netten Mannes mit einem starken Schopf roter Haare und einem sehr kleinen lackierten Hut darauf; er trug ein buntgestreiftes Hemd, mit dem Worte »Seemöve« in großen Buchstaben quer über die Brust. Ich glaubte, es sei sein Name und er schreibe ihn auf die Brust, weil er auf dem Schiffe wohnte und daher seinen Namen an keine Haustür schlagen könnte; als ich ihn aber Mr. Seemöve nannte, sagte er, das Schiff heiße so.

Den ganzen Tag über bemerkte ich, daß Mr. Murdstone ernster und gesetzter war, als die andern beiden Herren. Diese waren sehr lustig und ungeniert; sie trieben ihren Scherz miteinander, aber selten mit ihm. Er schien mir klüger und kälter als sie, und sie mochten ihn ziemlich mit denselben Gefühlen einer gewissen Scheu betrachten wie ich. Auch kann ich mich nicht erinnern, daß Mr. Murdstone den ganzen Tag über gelacht hätte, außer über den Witz mit Brooks von Sheffield – und das war, beiläufig gesagt, sein eigener Witz.

Zeitig gegen Abend traten wir wieder den Heimweg an. Es war ein sehr schöner Abend, und meine Mutter und er machten einen zweiten Spaziergang am Hagebuttenstaket, während sie mich zum Tee hinauf schickte. Als er fort war, fragte mich meine Mutter begierig aus über das, was ich den Tag über gesehen und gehört hätte. Ich erzählte, was sie über sie geäußert hatten, und sie lachte und sagte, es wäre unverschämtes junges Volk, das Unsinn schwatze, – aber ich wußte, daß es ihr Vergnügen machte; ich wußte es damals gerade so gut wie jetzt. Darauf fragte ich sie, ob sie einen gewissen Mr. Brooks von Sheffield kenne, aber sie erwiderte, nein, sie glaube indessen, es müsse wohl ein Stahlwarenfabrikant sein.

Soviel Grund ich auch habe, mich ihres nachmals so veränderten Gesichts zu erinnern – kann ich sagen, daß es in seiner unschuldsvollen, mädchenhaften Schöne für immer dahin ist, wenn ich es jetzt noch so leuchtend klar vor mir stehen sehe, wie das des nächsten besten Menschen, der mir im Straßengewühl begegnet? Wenn ich noch jetzt den Hauch ihres Mundes auf meiner Wange zu verspüren glaube, wie ich ihn an jenem Abende verspürte? Darf ich sagen, daß sie sich je verändert hat, wenn sie mir meine Erinnerung immer nur so wieder ins Leben zurückruft und, treuer der Jugendliebe als ich oder ein Mann es je gewesen ist, die damals geliebte Gestalt noch immer festhält? . . .

Ich schildere sie mit denselben Zügen, wie sie war, als ich nach dieser Unterhaltung zu Bett gegangen war und sie noch einmal zu mir kam, um mir gute Nacht zu sagen. Sie kniete neben meinem Bett nieder, legte das Kinn auf ihre Hände und fragte lachend:

»Was sagten sie, Davy? Sage es noch einmal! Ich kann es nicht glauben,«

»Die Himmlische –« fing ich an.

Meine Mutter legte mir die Hand auf den Mund.

»Die Himmlische gewiß nicht«, sagte sie lachend. »Himmlisch kann es nicht gewesen sein, Davy. Das weiß ich jetzt ganz bestimmt, daß es nicht so ist!«

»Doch! Die Himmlische Mrs. Copperfield,« wiederholte ich standhaft, – »und reizend!«

»Nein, nein, reizend gewiß nicht, nicht reizend!« unterbrach mich meine Mutter und legte mir wieder die Hand auf den Mund.

»Und sie sagten es doch. ›Die reizende kleine Witwe!‹«

»Was für närrische, unverschämte Menschen!« rief meine Mutter lachend und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Wie lächerlich! Nicht wahr? Lieber Davy –«

»Ja, Ma.«

»Sage Peggotty nichts davon; sie könnte sonst böse auf die Herren werden. Ich bin auch sehr böse auf sie; aber es ist besser, Peggotty erfährt nichts davon.«

Ich versprach es natürlich, wir küßten uns noch vielmals zur »Guten Nacht«, und bald lag ich in festem Schlafe.

Es kommt mir jetzt noch so vor, als ob mir Peggotty schon am Tage darauf den seltsamen Vorschlag gemacht hätte, den ich sogleich erzählen will; aber wahrscheinlich geschah es erst zwei Monate später.

Wir saßen wieder eines Abends, als meine Mutter auf Besuch war, in Gesellschaft mit dem Strumpfe, dem Ellenmaß, dem Stückchen Wachslicht, dem Arbeitskästchen mit der St. Paulskirche auf dem Deckel und dem Krokodilenbuch, als Peggotty, nachdem sie mich mehrmals angeblickt und den Mund aufgetan hatte, als ob sie sprechen wollte, ohne dazu zu kommen – was ich für Gähnen hielt, sonst hätte es mich beunruhigt – endlich mit schmeichelnder Stimme sagte:

»Master Davy, wie wäre es denn, wenn du mit mir auf vierzehn Tage meinen Bruder in Darmouth besuchtest? Wäre das nicht herrlich?«

»Ist dein Bruder ein netter Mann, Peggotty?« fragte ich vorsichtigerweise.

»O was für ein netter Mann«, rief Peggotty und hielt die Hände in die Höhe. »Dann ist das Meer da und die Boote und Schiffe und die Fischer und der Strand und Ham als Spielkamerad –«

Ham war jener Neffe Peggottys, der schon in meinem ersten Kapitel vorgekommen ist, und den sie stets um seinen Anfangsbuchstaben verkürzte.

Ihre Aufzählung dieser Genüsse von Darmouth versetzte mich ganz in Aufregung, und ich erwiderte, daß es freilich herrlich wäre, aber was wohl die Mutter dazu sagen würde.

»Ich will eine Guinee wetten,« sagte Peggotty, mich dabei scharf prüfend, »daß sie uns Erlaubnis zur Reise gibt. Wenn du willst, frage ich sie, sobald sie nach Hause kommt.«

»Aber was soll sie machen, während wir dort sind?« sagte ich und stemmte meine kleinen Ellbogen auf den Tisch, um die Sache gründlich durchzusprechen. »Sie kann doch nicht allein bleiben!«

Wenn Peggotty ganz plötzlich nach einem Loche im Hacken des Strumpfes fahndete, so muß es wahrhaftig ganz, ganz klein und des Stopfens nicht wert gewesen sein,

»Peggotty! Ich sage, sie kann doch nicht allein bleiben!«

»O du meine Güte!« sagte Peggotty und sah mich endlich wieder an. »Weißt du es noch nicht? Sie geht auf vierzehn Tage zum Besuch zu Mrs. Grayper. Mrs. Grayper bekommt viele, viele Gäste.«

O! wenn sich die Sache so verhielt, dann war ich ganz bereit zur Reise. In der größten Ungeduld wartete ich, bis meine Mutter von Mrs. Grayper (denn das war die Nachbarin) nach Hause kam, um zu erfahren, ob sie mit dem hochfliegenden Plane einverstanden sei? Ohne so überrascht zu sein, wie ich erwartet hatte, ging meine Mutter bereitwillig darauf ein, und die Sache wurde diesen Abend noch abgemacht und festgesetzt, was an Wohnung und Kost für mich während der vierzehn Tage zu bezahlen sei.

Der Tag der Abreise kam bald. Er war so nahe angesetzt, daß er selbst für mich bald kam, obgleich ich von fieberhafter Ungeduld erfüllt war und fast fürchtete, ein Erdbeben oder ein feuerspeiender Berg oder der Eintritt einer andern großen Katastrophe könnte die Reise verhindern. Wir sollten mit einem Fuhrmann reisen, der immer morgens nach dem Frühstück abfuhr. Ich hätte viel Geld für die Erlaubnis gegeben, mich über Nacht in den Mantel wickeln und schon reisefertig mit Hut und Stiefeln schlafen zu dürfen.

Es rührt mir jetzt noch das Herz, obgleich ich es in kalten Worten erzähle, wenn ich daran denke, wie ungeduldig ich mich von dem glücklichen heimischen Herd wegsehnte und wie wenig ich ahnte, wieviel ich auf immer verlieren sollte.

Es freut mich, wenn ich daran denke, daß, als der Fuhrmann mit seinem Wagen vor der Tür stand und meine Mutter mich küßte, meine zärtliche Liebe zu ihr und zu dem alten Hause, das ich noch nie verlassen hatte, mich weinen machte. Es freut mich zu wissen, daß auch meine Mutter weinte und daß ich ihr Herz an dem meinigen schlagen fühlte.

Es freut mich, wenn ich daran denke, daß, als der Wagen fortfuhr, meine Mutter noch einmal zur Gartentür hinausgelaufen kam und dem Fuhrmann zurief, anzuhalten, damit sie mich noch einmal küssen könne.

Wie beglückt rufe ich mir die Innigkeit ins Gedächtnis, mit der sie ihr Antlitz zu dem meinen aufhob und mich küßte.

Als sie dann, uns nachblickend, mitten auf der Straße stand, trat Mr. Murdstone hinzu und schien ihr Vorstellungen über ihre große Erregtheit zu machen. Ich blickte um den Plan des Wagens herum nach ihr zurück und wunderte mich, was ihn eigentlich die ganze Sache anging? Peggotty, die auf der andern Seite gleichfalls aus dem Wagen hinaussah, schien nichts weniger als zufrieden zu sein, wie ihr Gesicht verriet, als sie wieder ruhig im Wagen saß.

Ich saß eine Zeitlang stumm neben Peggotty, betrachtete sie aufmerksam und war ernstlich beschäftigt mit der Lösung der Frage, ob, im Falle sie mich vom Hause entführen sollte, wie den Knaben im Märchen, ich imstande sein werde, vermittels der Knöpfe, die sie verlor, den Heimweg glücklich wieder aufzufinden." 

(2. Kapitel)

Im nächsten Kapitel wird deutlich, dass David seine Heimat verliert, und angedeutet, dass Peggotty die einzige Verbindung zu seiner Heimat bleibt.


10 Januar 2025

Edmondo De Amicis: Cuore (Herz) , ein Kinderroman

Das Buch wurde 1886 für italienische Grundschüler verfasst. Es trieft so von Moral, dass Heidi (1880) von Johanna Spyri und Die Familie Pfäffling (1909) von Agnes Sapper demgegenüber fast modern wirken. Aber es ist von einem Geist der Zuwendung zu den Benachteiligten getragen, dass es - obwohl auch die italienischen Faschisten es zu schätzen wussten - in China am Anfang des 20. Jh.  und in Israel in den Aufbaujahren kurz nach der Staatsgründung sehr beliebt war. 

Weil es ein Kinderbuch ist und der Stil der deutschen Übersetzung recht schmucklos, werde ich wohl nur wenige Passagen vollständig vorstellen (Die vollständige italienische Version ist hier zu finden), vermutlich werde ich  nach und nach das einen oder andere Kapitel maschinenübersetzt aus dem Italienischen anfügen.

Doch lese ich das Buch gegenwärtig mit einigem Interesse und möchte es deshalb (angelehnt an den englischen Wikipediaartikel dazu) kurz vorstellen:

Cuore (Herz) ist ein Kinderroman des italienischen Schriftstellers Edmondo De Amicis, der Romanautor, Journalist, Kurzgeschichtenschreiber und Dichter war. Der Roman ist bis heute sein bekanntestes Werk, da er von seinen eigenen Kindern Furio und Ugo inspiriert wurde, die zu dieser Zeit noch Schüler waren. Er spielt zur Zeit der italienischen Einigung und enthält mehrere patriotische Themen. Es wurde am 18. Oktober 1886, dem ersten Schultag in Italien, von Fratelli  Treves veröffentlicht und wurde sofort ein großer Erfolg.

Durch die Auseinandersetzung mit sozialen Themen wie der Armut zeigt Cuore den Einfluss linker Ideologien auf De Amicis' Werk (er trat später der Sozialistischen Partei Italiens bei). Aus diesem Grund blieb das Buch in den Ländern des Ostblocks einflussreich (und Abschnitte daraus wurden in viele Schulbücher aufgenommen). Andererseits war das Buch aufgrund seiner starken Beschwörung des italienischen Nationalismus und Patriotismus auch im faschistischen Italien willkommen.

Der Roman ist in Tagebuchform geschrieben und wird von Enrico Bottini erzählt, einem 11-jährigen Grundschüler in Turin, der aus der Oberschicht stammt und von Klassenkameraden aus der Arbeiterklasse umgeben ist. Der gesamte zeitliche Rahmen entspricht der dritten Klasse von 1881-82 (Enrico erzählt, dass vier Jahre seit dem Tod von Viktor Emanuel II., dem König von Italien, und der Nachfolge von Umberto I. vergangen sind, und berichtet auch über den Tod von Giuseppe Garibaldi, der sich 1882 ereignete).

Enricos Eltern und seine ältere Schwester Silvia begleiten ihn dabei, wie es in seinem Tagebuch steht, ebenso seine Lehrerin, die ihm Hausaufgaben aufgibt, die sich mit verschiedenen Geschichten von Kindern in den italienischen Staaten befassen, die als Vorbilder angesehen werden sollten. Diese Geschichten werden dann im Buch so wiedergegeben, wie Enrico sie zu lesen bekommt. Jede Geschichte dreht sich um einen anderen moralischen Wert, von denen die wichtigsten die Hilfe für Bedürftige, die große Liebe und der Respekt für Familie und Freunde sowie der Patriotismus sind. Diese Geschichten werden „Monatsgeschichten“ genannt und erscheinen am Ende jedes Schulmonats.

Personen:

Enrico Bottini: Erzähler und Hauptfigur, Enrico ist ein durchschnittlicher Schüler, der gerne etwas lernt und über seine Mitschüler berichtet.
Mr. Alberto Bottini: Enricos Vater. Streng, aber liebevoll, er arbeitet als Ingenieur und Geschäftsmann.
Frau Bottini, Enricos Mutter, ist eine traditionelle Hausfrau, liebevoll, aber streng.
Silvia Bottini ist Enricos ältere Schwester und kümmert sich ebenfalls um ihn und seine Lernfortschritte. Sie verzichtet einmal selbstlos darauf, mit Freundinnen auszugehen, um sich um ihn zu kümmern, als er krank im Bett liegt.
Enricos und Silvias jüngerer Bruder, der bei Frau Delcati lernt, hat nicht viel Einfluss auf Enricos Tagebuch, da er von Enrico nicht so beachtet wird wie die anderen Familienmitglieder.
Enricos Klassenkameraden
Antonio „Tonino“ Rabucco: Bekannt als „der kleine Steinmetz“ wegen des Berufs seines Vaters, ist er der jüngste Junge in der Klasse.
Coretti: Der fröhliche Sohn eines pensionierten Veteranen, der zum Holzfäller wurde. Da er oft frühmorgens aufsteht, um Holz zu sammeln, ist er auf Kaffee angewiesen, um im Unterricht wach zu bleiben. Man sieht ihn immer mit seiner Lieblingsmütze aus Katzenfell.
Ernesto Derossi: Er ist fortwährend der Klassenbeste und gewinnt jeden Monat eine Medaille. Er ist ein geborener Lerner, dem lernen keinerlei Schwierigkeiten macht. Er ist dennoch bescheiden.
Garrone ist ein freundlicher, harndfester Bursche, der seine schwächeren Klassenkameraden Nelli und Crossi beschützt und als der älteste Junge der Klasse de facto das Sagen hat.
Pietro Precossi ist der sanftmütige, schwächliche Sohn eines alkoholkranken Schmieds, der ihn verprügelt. Als er einmal Zweiter der Klasse wird, sieht sein Vater ein, dass er falsch gehandelt hat, und hört auf, ihn zu schlagen.
Carlo Nobis ist hochmütig, weil seine adligen Eltern reich sind, doch als er Betti und seinen Vater beleidigt hat, bringt sein Vater ihn dazu, sich bei Betti zu entschuldigen.
Stardi ist zusammen mit Votini ständiger Konkurrent von Derossi. Obwohl er nicht so begabt ist wie Votini, gleicht er das dadurch aus, dass er der engagierteste und fleißigste Schüler der Klasse ist. Er liest gerne Bücher, auch wenn er nicht viele davon besitzt.
Betti: Sohn eines Bergarbeiters.
Votini ist der Top-Konkurrent von Derossi als Klassenprimus, einmal machen sich andere über seinen Neid auf Derossi lustig.
Crossi ist ein schüchterner Rotschopf mit einem gelähmten Arm, dessen Vater ein Holzarbeiter ist, der die meiste Zeit der Kindheit seines Sohnes wegen fahrlässiger Tötung im Gefängnis saß. Wegen seiner Behinderung und seiner familiären Herkunft wird Crossi oft schikaniert.
Nelli hat einen Buckel und wird deswegen auch gemobbt. Garrone wird sein Beschützer.
Coraci ist dunkelhäutiger Junge aus Kalabrien in Süditalien.
Garoffi, der Sohn eines Apothekers, ist ein geschickter Händler, der nebenbei mit Spielzeug, Sammelkarten und nützlichem Krimskrams handelt, wann immer er kann.
Franti ist ein schlechter Schüler, der andere schikaniert, gemeine Streiche macht, seine Mitschüler und Lehrer nicht respektiert und über traurige Situationen lacht. Er ist schon einmal von einer anderen Schule verwiesen worden und wird auch von dieser Schule verwiesen, nachdem er einen Feuerwerkskörper gezündet hat, der eine große Explosion verursachte.

Lehrer: Perboni, Lehrer der 3. Klasse, Lehrerin der 1. Klasse Delcati

Der Roman wurde Anfang des 20. Jahrhunderts ins Chinesische übersetzt (unter dem Titel „愛的教育“ - wörtlich „Die Erziehung der Liebe“) und wurde in Ostasien recht bekannt. 

Er wurde unter dem Titel Corazón: Diario de un niño (Herz: Tagebuch eines Kindes) ins Spanische übersetzt . Das Buch war in lateinamerikanischen Ländern wie Mexiko in den 1960er und 1970er Jahren bei Jungen und Mädchen sehr beliebt.

Auch im Israel der 1950er Jahre war der Roman äußerst populär und einflussreich; die Übersetzung in Ivrit erfuhr bis 1963 nicht weniger als siebzehn Auflagen. Die starke Beschwörung des Patriotismus der italienischen Einigung passten gut zum Israel der 1950er Jahre, das aus katastrophalen Kriegen und Kämpfen hervorging, und die sozialistischen Untertöne des Buches entsprachen den Werten des damals in Israel vorherrschenden Arbeiterzionismus. Gegenwärtig gilt es jedoch als ziemlich altmodisch und ist der heutigen Generation junger Israelis nicht mehr gut bekannt.

Im Jahr 1887 schrieb der Neurologe Paolo Mantegazza, Amicis Freund, eine Fortsetzung mit dem Titel Testa (Kopf), die das Leben von Enrico in seiner Jugendzeit schildert.

1962 veröffentlichte Umberto Eco Elogio di Franti (Lob des Franti), in dem er Franti, den „bösen Buben“ des Romans, als eine Figur des Widerstands gegen die militaristische und nationalistische Ideologie sieht.

Eine der beiden jugendlichen Hauptfiguren in dem Film 
I Prefer the Sound of the Sea (2000) liest Cuore und hat einen Job in einer Buchhandlung namens Franti.


Der erste Schultag (übersetzt aus dem Italienischen mit Hilfe von DeepL und der Übersetzung von Hans Ludwig Freese, 1986)

Heute ist der erste Schultag. Diese drei Monate auf dem Land sind wie ein Traum vergangen! Meine Mutter brachte mich heute Morgen zur Sektion Baretti, um mich für die dritte Klasse anzumelden: Ich dachte an das Land und ging schlecht gelaunt hin. In allen Straßen wimmelte es von Kindern; die beiden Buchhandlungen waren überfüllt mit Vätern und Müttern, die Schulranzen, Mappen und Hefte kauften, und vor der Schule waren so viele Menschen, dass der Hausmeister und der Stadtwächter Mühe hatten, die Tür frei zu halten. In der Nähe der Tür spürte ich eine Berührung an meiner Schulter: Es war mein Lehrer aus der zweiten Klasse, immer fröhlich, mit seinen zotteligen roten Haaren, der zu mir sagte: - Also, Enrico, sind wir für immer getrennt? - Ich wusste es genau; dennoch taten mir diese Worte leid. Wir kamen nur mit Mühe hinein. Damen, Herren, Frauen aus dem Volk, Arbeiter, Offiziere, Großmütter, Diener, alle mit Kindern in der einen und Beförderungsbüchern in der anderen Hand, füllten den Eingangsraum und die Treppe und bildeten ein Gewusel, das den Anschein erweckte, als würden wir ein Theater betreten. Ich sah es mit Vergnügen in dem großen Raum im Erdgeschoss mit den Türen zu den sieben Klassen wieder, wo ich drei Jahre lang fast jeden Tag war. Es herrschte Gedränge, Lehrer kamen und gingen. Meine Grundschullehrerin begrüßte mich an der Klassenzimmertür und sagte: - Enrico, du gehst dieses Jahr nach oben; ich werde dich nicht einmal mehr vorbeigehen sehen! - und schaute mich traurig an. Der Schulleiter war von Frauen umringt, die sich alle aufregten, weil es keinen Platz mehr für ihre Kinder gab, und mir schien, dass sein Bart etwas weißer war als im letzten Jahr. Ich fand, dass einige Jungen größer und stärker geworden waren. Im Erdgeschoss, wo die Aufteilung bereits vorgenommen worden war, gab es einige Kinder aus den unteren Klassen, die nicht in die Klasse gehen wollten, und sie klammerten sich wie Esel aneinander und mussten mit Gewalt hineingezogen werden; und einige liefen von ihren Tischen weg; andere, als sie ihre Verwandten gehen sahen, begannen zu weinen, und sie mussten zurückgehen, um sie zu trösten oder zurückzunehmen, und die Lehrer verzweifelten. Mein kleiner Bruder kam in die Klasse von Lehrerin Delcati, ich in die von Lehrer Perboni, oben im ersten Stock. Um zehn Uhr waren wir alle in der Klasse: vierundfünfzig: nur fünfzehn oder sechzehn meiner Klassenkameraden aus der zweiten Klasse, darunter Derossi, der immer den ersten Preis bekommt. Die Schule kam mir so klein und traurig vor, wenn ich an die Wälder dachte, an die Berge, in denen ich den Sommer verbracht hatte! Ich dachte auch an meinen Lehrer aus der zweiten Klasse, so gut, der immer mit uns lachte, und klein, der wie einer unserer Kameraden aussah, und ich bedauerte, ihn nicht mehr dort zu sehen, mit seinem struppigen roten Haar. Unser Lehrer ist groß, ohne Bart, mit langen grauen Haaren, und er hat eine gerade Falte auf der Stirn; er hat eine große Stimme, und er starrt uns alle an, einen nach dem anderen, als ob er in unserer Seele lesen könnte; und er lacht nie. Ich sagte zu mir selbst: - Heute ist der erste Tag. Neun Monate noch. So viel Arbeit, so viele monatliche Prüfungen, so viel Mühe! - Auf dem Weg nach draußen musste ich unbedingt meine Mutter finden, und ich lief zu ihr, um ihr die Hand zu küssen. Sie sagte zu mir: - Nur Mut, Henry! Wir werden zusammen lernen. - Und ich ging glücklich nach Hause. Aber ich hatte meine Lehrerin nicht mehr, die so gut und fröhlich lächelte, und die Schule schien nicht mehr so schön wie früher.



Heute mal ein Bericht über mein Lesen

 Heute mal kein Bericht über ein Buch, sondern ein Bericht über mein Lesen.

Wer diesen Blog mitverfolgt, hat festgestellt, dass ich eigentlich immer mehrere Bücher abwechselnd lese. Gestern habe ich den Bericht über Applebaum, den ich am 21.11.24 auf einem anderen Blog angefangen und erst kürzlich hierher verlagert habe, abgeschlossen, zwischen 4 - 6 anderen Büchern, die ich gegenwärtig lese, habe ich mich für ein elektronisch lesbares (für die Bettlektüre) entschieden, doch halbherzig, denn es könnte doch etwas darin stehen, was ich im Bett schlecht festhalten kann und und und ...

Heute fällt mein Blick in eins der Regale der Kinderbücher (und andere) von vor vermutlich über 30 Jahren. Da sehe ich - wie neu gekauft - ein Buch mit mir unbekanntem Titel: Cuore von Edmondo De Amicis. "Eine Kindheit vor hundert Jahren" mit Abbildungen aus der "Prachtausgebe" von 1892. Daneben "David Copperfield" 1. Teil. Das Buch, das ich als Jugendlicher in Übersetzung angefangen habe, angesichts der Dicke trotz großen Lexikonformats sterbenslangweilig fand. Meine Frau zitierte mir daraus "I am a (a)lon(e) lorn creature. I feel it more than others do". Typisch für einen Typ Frau, den man zu kennen glaubt, und doch viel typischer für mich, wenn ich in der ersten drei, vier Tagen meines Laufschnupfens leide. Typischer überhaupt für Männer als für etwa die Kriegerwitwen, die den Krieg allein mit einer großen Kinderschar durchgestanden haben, wobei sie fast täglich dem Mann "im Feld" Ermutigendes und Erheiterndes zu schreiben bemüht waren (auch wenn gelegentlich auch mal von 4 Stunden Schlaf und Sorgen die Rede war). Frauen, die dann in der Nachkriegszeit wie meine Tante auch 9 Kinder betreut haben und die ihrem Vater Rechenschaft darüber ablegte, wie sie die  5 Kinder der Schwester vorgefunden habe und wie es dieser in der Nervenheilanstalt gehe.

Copperfield also, den ich auch als Erwachsener trotz des Hinweises auf die Qualität von Dickens nicht gelesen habe. Als ich meiner Tochter, die schon mit 10 Jahren etwa doppelt so schnell las wie ich, von meiner Mühe berichtete, weil sie soo begeistert von der Lektüre des englischen Originals berichtete, meinte: "Ja, die Jugendausgabe fand ich auch langweilig; aber das Original ist ja so witzig, die reine Freude." 

Dabei hatte sie mit 8 Jahren, als sie "Der Mond hinter den Scheunen" von Erwin Moser gelesen hatte, sehr geweint, weil sie nie (!) wieder so ein schönes Buch lesen werde. 

Jetzt aber wieder ich und Dickens. Laut meinem Blog habe ich 2009 und 2021 wieder in ein Werk von Dickens gesehen und im Februar 2024 sogar in Copperfield, im Unterschied zu Hard Times und Oliver Twist wieder auf Deutsch

Zum Vergleich hier eine Passage des englischen Originals:

"I was born with a caul, which was advertised for sale, in the newspapers, at the low price of fifteen guineas. Whether sea-going people were short of money about that time, or were short of faith and preferred cork jackets, I don’t know; all I know is, that there was but one solitary bidding, and that was from an attorney connected with the bill-broking business, who offered two pounds in cash, and the balance in sherry, but declined to be guaranteed from drowning on any higher bargain." (https://www.gutenberg.org/cache/epub/766/pg766-images.html)

Die Übersetzung bietet für caul Haarnetz, die deutsche Wikipedia "Glückshaube". Für meine Tochter offenbar kein Problem. Ich musste in der Wikipedia nachsehen, um Dickens zu verstehen:

"Eine Glückshaube (lateinisch Caput galeatum) sind Teile der Fruchtblase (Eihäute = Amnion und Chorion), die in seltenen Fällen nach der Geburt den Kopf eines Neugeborenen bedecken.

Die zähen Eihäute sind weißlich durchschimmernd, so dass man die Konturen des Gesichtes schemenhaft erkennen kann. Die Glückshaube ist harmlos und kann einfach von der Hebamme oder dem Arzt unmittelbar nach der Geburt vom Kopf abgezogen werden. Generell kann eine Glückshaube bei allen Säugetieren vorkommen.

Im Mittelalter galten Glückshauben als Glückszeichen. Sie wurden als ein gutes Omen dafür betrachtet, dass das Kind für Geistesgröße und Großmütigkeit auserkoren oder auch mit advokatorischer Beredsamkeit ausgestattet war. Außerdem glaubte man, dass solche Kinder übernatürliche Fähigkeiten hatten und „sehen“ konnten.

Tatsächlich war das Vorhandensein einer Glückshaube im Mittelalter mitunter ein Glück für die Mutter, falls ihr Kind – aus welchem Grund auch immer – tot geboren wurde. Kindstötung wurde im Mittelalter hart bestraft, und eine Mutter mit einem toten Neugeborenen hatte wenig Chancen zu beweisen, dass sie es nicht getötet hatte. War bei dem toten Neugeborenen aber die dünne Membran der Fruchtblase noch intakt, glaubte man, die Mutter könnte das Kind nicht getötet haben. Somit blieb sie von Strafen verschont.

Es gehörte die Tradition dazu, das Häutchen auf einem Papier zusammenzulegen. Die Hebamme rieb mit einem Stück Papier das Gesicht des Neugeborenen und drückte so das Häutchen auf das Papier. Dieses wurde der Mutter übergeben und sollte als Erbstück behalten werden. Häufig wurde die „Glückshaube“ auch in der Kleidung der Kinder vernäht.

Mit der Zeit kam der Aberglaube auf, dass der Besitzer einer Glückshaube von besonderem Glück beseelt sei und ihn die Haube vor dem Ertrinken schütze. Deswegen bezahlten Seeleute den Müttern und Hebammen hohe Summen für Glückshauben. Eine Glückshaube war ein wertvoller Talisman.

Nach dem Aberglauben der Nordländer wohnte der Schutzgeist oder ein Teil der Seele des Kindes in der Glückshaube." (Glückshaube)

So viel zum Verständnis dafür, wenn ich demnächst Passagen aus Cuore (nach der deutschen Jugendausgabe) und David Copperfield vorstellen sollte. Copperfield auf Deutsch des Originals und der Jugendausgabe im Vergleich, auf Englisch anhand von gutenberg.org.

 .

09 Januar 2025

Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten, 2024

 Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten, Siedler Verlag, München 2024   (orig.: Autocracy, Inc.: The Dictators Who Want to Run the World, Doubleday, 2024)

Wikipedia: "Anne Applebaum betrachtet sich selbst als Liberal-Konservative. Sie bejaht Marktwirtschaft,  Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, die NATO und die Europäische Union.[26]

Im Jahr 2002 veröffentlichte sie eine Kolumne, in der sie israelische Angriffe auf die palästinensische Radio- und TV-Station Voice of Palestine verteidigte, weil diese ihrer Meinung nach durch die systematische Verbreitung von anti-israelischen Inhalten und der Befürwortung des Terrorismus, insbesondere von Selbstmordattentaten, ein legitimes Ziel seien.[27]

Russland unter Präsident Wladimir Putin sieht sie als raffinierte Diktatur. Die russische  Gazprom etwa sei kein privatwirtschaftliches Unternehmen, sondern ein Instrument russischer Außenpolitik: „Das ist nicht dasselbe wie – sagen wir – Shell. Gazprom gehört den Leuten, die den Kreml kontrollieren und ist eines ihrer Werkzeuge. Gazproms Aktivitäten in Deutschland – einschließlich des Kaufs eines Fußballvereins – ist russische Propaganda. Es hat alles mit Korruption zu tun, wenn man sich anschaut, wie die russischen Oligarchen reich geworden sind: Die haben fast alle westliches Offshore-Banking benutzt. Sie haben ihr Geld zusammen mit der russischen Mafia angelegt. Die Firmen haben ein Doppelleben geführt – ein legales und ein illegales“, meinte Applebaum in einem Interview mit The European.[28] Putins Krieg in der Ukraine sei zynisch, da er damit versuche, den Westen einzuschüchtern und zu destabilisieren.[29] Nur wenn Russland begreife, dass der Angriff auf die Ukraine ein Fehler war, gebe es eine Chance für dauerhaften Frieden, so Applebaum Anfang 2023. Jede andere Lösung – ein vorausgehender Waffenstillstand oder die Abtretung von Gebieten – berge das Risiko, dass Russland einige Monate oder Jahre warte und dann wiederum eine Invasion beginne. Mit den Waffenlieferungen schicke der Westen „eine klare Botschaft“ an Russland.[30]"


"Autokratische Herrschaft besteht im 21. Jahrhundert nicht länger nur aus einem Tyrannen an der Spitze, der mit Gewalt sein Volk unterdrückt: Heute werden Autokratien durch ausgeklügelte Netzwerke geführt, es hat sich eine neue internationale autokratische Allianz gebildet, wie Bestsellerautorin Anne Applebaum in ihrem neuen Buch zeigt. Von China bis Weißrussland, von Syrien bis Russland unterstützen sich Autokraten von heute gegenseitig mit Ressourcen und Equipment made in Iran, Myanmar oder Venezuela: von Propaganda-Trollfarmen und Bots über Investitionsmöglichkeiten für ihre korrupten Staatsunternehmen bis hin zum Austausch modernster Überwachungstechnologien. Applebaum offenbart, wie die Diktatoren der Welt hinter den Kulissen zusammenarbeiten und sich mit aggressiven Taktiken gegenseitig Sicherheit und Straffreiheit verschaffen. Und sie macht deutlich, wie diese autokratische Allianz unsere Demokratie untergräbt." (Siedler Verlag)

daraus:
"[...] Sieglinde Geisel einen überzeugenden Überblick über die "flexiblen Zweckbündnisse" vor, die Autokratien und Diktaturen weltweit eingehen, um ihre Macht zu erhalten und Demokratien zu zerstören. Von Russland über Syrien bis Venezuela werden die verschiedensten Staaten beleuchtet und aufgezeigt, welche Strategien sie von Waffenlieferungen an Rechtsextremisten bis Finanzspritzen an Terroristen zur Destabilisierung nutzen, so Geisel. Dass Putin und Xi Jinping bestimmt Begriffe nutzen, zum Beispiel von "Souveränität" sprechen statt von Menschenrechten, um sich so weiter gegen demokratische Bestrebungen wehren, kann Applebaum kenntnisreich vermitteln. "

NZZ "[...] Als Beispiele nennt sie iranische Drohnenlieferungen an Russland, so Ribi, oder auch die Hilfe, die der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko von seinesgleichen erhält. Autokraten wie Lukaschenko setzen ihre Machtinteressen inzwischen ganz offen durch, beschreibt Ribi mit Applebaum, auch weil der Westen, der lange vergeblich auf Wandel durch Handel setzte, dem nichts entgegenzusetzen habe. Applebaum plädiert nun für ein Umdenken, und ganz besonders für eine Fortsetzung der Waffenlieferungen an die Ukraine, so Ribi. Neue Erkenntnisse bringt dieses Buch nicht, gesteht er, aber es gelinge Applebaum, ein erfahrungsgesättigtes Gesamtbild von der derzeitigen bedrohlichen Weltlage zu zeichnen."
SZ "[...] Rezensentin Viola Schenz [...] Siegeszug der Autokraten, für den sie keine globale Verschwörung, wohl aber geschickte Kollaborationen von totalitären Regimes verantwortlich macht, die nicht durch eine gemeinsame Ideologie, sondern nur durch ihre Ablehnung des Westens zusammengehalten werden. Als Beispiele nennt Applebaum unter anderem den Gegenwind, den die Ukraine bei ihren Forderungen nach Unterstützung erhält, sowie die Ölverkäufe an China und Indien, die dem Iran dabei helfen, Terrormilizen im Nahen Osten zu finanzieren. Die Autokraten der Gegenwart, liest Schenz, tun nicht einmal mehr so, als würden sie das Beste für ihr Land wollen, stattdessen setzen sie darauf, die eigene Bevölkerung apathisch und hoffnungslos zu machen. Allzu viel Hoffnung macht auch Applebaums stark argumentiertes und angenehm verdichtetes Buch nicht, gesteht die Rezensentin ein, die Hoffnungen auf Wandel durch Handel haben sich inzwischen zerschlagen. Die Demokratien müssten eine Gegenachse bilden, erklärt Schenz, der Westen dürfte nicht immer nur auf den eigenen Vorteil blicken und Freiheitsbestrebungen auch andernorts fordern. [...]"


Inhalt des Buches

Einleitung: Die Achse der Autokraten

Kapitel 1: In Gier vereint S.25 ff
gegenseitige Unterstützung durch andere Autokraten, ganz unabhängig von Ideologien

Kapitel 2: Das Krebsgeschwür der Kleptokratie S.4 ff.
z.B. arbeiten Venezuela und Iran zusammen

Kapitel 3 Deutungshoheit (S.70 ff.)
Sharp power (S. 84ff.) [Zum Aufkommen des Begriffs im 19. Jh. und schlagartiger  Vervielfachung am Anfang des 21. Jhs: google books]














:
Kapitel 4 Ein neues Betriebssystem (S.103ff) 
Statt Menschenrechte   China: Recht auf Entwicklung, Souveränität

Kapitel 5 Die Verunglimpfung der Demokraten (S.127-154)  
Gene Sharp: Von der Diktatur zur Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung. Beck, München 2008, 
Dazu Perlentaucher"[...] ein Lehrbuch zum gewaltfreien Sturz von Diktaturen. Der Politikwissenschaftler Gene Sharp hat es ursprünglich für die Demokratiebewegung in Myanmar (Birma) geschrieben. Besonders bei der Befreiung von den Diktaturen in Osteuropa hat es im letzten Jahrzehnt eine wichtige Rolle gespielt. Die serbische Widerstandsbewegung "Otpor" hat es beim Sturz Milosevics im Jahre 2000 benutzt, es wurde von den Befreiungsbewegungen Kmara" in Georgien, "Pora!" in der Ukraine, "KelKel" in Kirgisistan und "Subr" in Belarus (Weißrußland) verwendet.

Die Tageszeitung "Michael Holmes [...] dieser programmatische Klassiker der Widerstandsliteratur aus dem Jahr 1993 [...] analysiere systematisch Schwächen und Stärken von Diktaturen und bespreche Chancen und Risiken von Kommunikations- und Widerstandsstrategien. [...] Autor Gene Sharp sei dabei kein "blauäugiger Pazifist", sondern interessiere sich schlicht für die Frage, wie man Diktaturen effektiv und mit wenigen Opfern "zersetzen" könne. Ziel: Die liberale Demokratie." 







"Keine politische Gruppe hat sich diese neuen Möglichkeiten geschickter zu eigen gemacht als die Demokratiebewegung von Hongkong 2016 und 2019/20 (S.133/34) "Doch obwohl sie eine Schlacht nach der anderen gewannen, verloren sie den Krieg. Während ich dies schreibe, sind alle Führer der Proteste von Hongkong entweder im Gefängnis oder im Exil." (S.135)

Aber es gab auch Erfolge, die von einem einzelnen ausgingen, einem Pastor der Pfingstbewegung in SimbabweEvan Mawarire, der das #ThisFlag movement auslöste (2016). (vgl. S.136-139) 
Darauf reagierte das Regime, indem es "Mawarire als falsch, verlogen und von Ausländern manipuliert (S.139) verleumdete. 
Diese Methode ist alt, schon in der Antike zu Ciceros Zeiten, dann im Kampf von Stalin gegen seine Gegner, vor allem gegen Trotzki, dann 2009 gegen die Proteste im Iran und von Hugo Chávez, der seine Gegner als Agenten des amerikanischen Imperialismus bezeichnete, oder gegen den Investor George Soros, dem allerlei Verschwörungstheorien gelten, die auf die „Spitze des Weltfinanz-Zionismus“ und damit das Judentum allgemein zielen.
Mawarire sagte dazu "Die sozialen Medien, die uns groß gemacht haben, haben uns auch wieder abgeschossen" (S.142)
[Dazu Fontanefan: Ähnlich ist es auch Greta Thunberg gegangen, als sie sich für die Bevölkerung im Gazastreifen einsetzte.]
Auf die Verdächtigungen von US-Einfluss reagierte eine Euromaidan-Demonstrantin: 
" 'Die haben einfach nicht kapiert, dass wir uns selbst organisieren.' Wie Shore erklärt: 'Aus der Kreml-Propaganda, der zufolge amerikanische Geheimdienste oder andere internationale Verschwörer die Fäden ziehen, spricht nicht nur bösartige Absicht, sondern auch die Unfähigkeit, sich vorzustellen, dass es Menschen geben könnte, die eigenständig denken und handeln.' " (S.140)
[Dazu Fontanefan: Indem Applebaum diese Argumentation von Shore nicht kritisiert, gerät sie freilich in den inneren Widerspruch, dass sie bösartige Absicht und gleichzeitig Unfähigkeit, sich selbständiges Handeln vorzustellen, unterstellt. Beides zugleich schließt sich aber aus. Mit dieser überzogenen Kritik nähren Shore und  Applebaum den Verdacht, dass sie von vielleicht wirklich vorhandenen US-Einflüssen ablenken wollen. Der Demonstrantin auf dem Euromaidan darf man zu gute halten, dass sie vielleicht wirklich an die Unfähigkeit des Kreml glaubt. Applebaum hat allzu deutlich gemacht, dass sie nicht daran glaubt, als dass sie Shores unbedachten Satz einfach auf sich beruhen lassen dürfte.]
Diese begründete Kritik  hat mich freilich auf eine falsche Fährte geführt. So habe ich kritisiert: 
Nachdem Applebaum (auf S.144) den Fall Nawalny angesprochen hat, schreibt sie auf S.145: "Deshalb schrecken moderne Autokraten vor Mord zurück. Ein Märtyrer kann eine politische Bewegung beflügeln, doch eine erfolgreiche Schmutzkampagne kann sie zerstören." 
Dabei geht sie auf S.145 ff. , die noch nicht gelesen hatte, darauf ein, dass Autokraten inzwischen Mord und Schmutzkampagne miteinander verbinden, um Kritiker möglichst unglaubwürdig zu machen, bevor sie sie ermorden, damit sie dann nicht zu Märtyrern werden können. Besonders gut funktioniert das freilich, wenn Kritiker aufgrund der Furcht, ermordet zu werden, ins Ausland gehen, weil dann behauptet werden kann, sie seien vom Ausland bestochen.
Hat die DDR vielleicht einen Fehler gemacht,, als sie Biermann 1976 nicht in die DDR hat zurückkehren lassen, weil sie ihn so zum Märtyrer gemacht hat, bevor es ihr gelang, seine Glaubwürdigkeit mit einer Schmutzkampagne zu zerstören?
"Fortschrittliche Autokratien bereiten heute schon im Voraus den legalen und propagandistisch Boden für solche Kampagnen und stellen Demokratieaktivisten Fallen, damit sie erst gar nicht an Glaubwürdigkeit und Beliebtheit gewinnen. Seit dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts haben Autokratien und einige nicht freiheitliche Demokratien sehr ähnliche Gesetze verabschiedet, die der Beobachtung und Kontrolle zivilgesellschaftlicher (auch unpolitischer und sozialer) Organisationen dienen und deren Mitglieder zu Terroristen, Extremisten oder Landesverrätern erklären." (S. 145).
Beispiele sind Jemen 2001, ähnliche Gesetze gibt es in der Türkei, in Eritrea und im Sudan.  "Uganda gründete 2009  eine Aufsichtsbehörde für zivilgesellschaftliche Organisationen, die befugt ist, diese auch aufzulösen." (S.145) Ähnliches geschieht in Äthiopien, in Kambodscha, in Venezuela (2024).
"Kuba, wo seit 1985 keine unabhängigen Organisationen mehr zugelassen wurden, verhaftete unlängst Hunderte von Menschen, die in informellen Gruppen mitwirken.
Besonders im Blickfeld stehen Organisationen, die tatsächlich Beziehung ins Ausland unterhalten. Im Jahr 2012 verabschiedete Russland Gesetze zur Beschneidung der Rechte von Nichtregierungsorganisationen und sozialen Einrichtungen, die Geld aus dem Ausland erhalten, und verlangte von Ihnen, sich öffentlich als ausländische Agenten zu bezeichnen Zwischenraum das belarussische Regime durchsuchte die Wohnungen von Mitarbeitern einer Stiftung, die sich für Menschen mit Behinderung / engagiert, wieder auf der Suche nach Beweisen für ausländische Finanzierung. China verabschiedete 2016 ein Gesetz, das Organisationen mit Beziehungen zum Ausland der Aufsicht durch den Geheimdienst unterstellt, darunter auch medizinische, soziale und kulturelle Einrichtungen mit Verbindungen zur chinesischen Diaspora.
 Diese Gesetze dienen als recht staatliches Feigenblatt für das, was dann folgt: kein politischer Prozess, sondern eine erfundene Anklage wegen Korruption. Selbst hochgradig korrupte Regimes drehen den Spielspieß einfach um und verwischen den Unterschied zwischen sich und ihren Gegnern. [...] In Venezuela wurde Leopoldo Lopez, damals einer der beliebtesten demokratischen Oppositionsführer, 2008 daran gehindert, für politische Ämter zu kandidieren, weil ihm das Regime Veruntreuung und Korruption vorwarf; unter ähnlichem Vorwand wurde Henrique Capriles 2017 von den Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen.
Solche Anschuldigungen verfehlen ihre Wirkung nicht, selbst wenn sie falsch oder übertrieben sind [...] Wenn jemand wiederholt verunglimpft wird, dann fragen sich irgendwann sogar engste Vertraute ob die Vorwürfe nicht doch ein Körnchen Wahrheit enthalten. Wenn 'Geheimnisse' über einen Aktivisten [...] publik gemacht werden, zum Beispiel durch Veröffentlichung eines heimlich aufgezeichneten Telefonats [...]  Dann entsteht der Eindruck, dass die betroffene Person eher unehrlich ist und etwas zu verbergen hat, auch wenn sich in dem Gespräch oder den E-Mails nicht der geringste Hinweis auf ein Fehlverhalten findet.
Korruptionsvorwürfe gegen Dissidenten lenken zugleich von der Korruption in der Regierung ab. [...], Vorwürfe vermögen, frei erfunden oder verlogen sein und verlogen sein, doch sie vertiefen den Zynismus in der Bevölkerung und verstärken den Eindruck, dass Politik grundsätzlich ein schmutziges Geschäft ist, auch die Politik der Opposition, und dass man allen Politikern, auch Dissidenten, grundsätzlich misstrauen sollte. [...] 
Die saudische Regierung attackiert ihre Feinde mit tausenden realen und falschen Twitter- Konten. Dieser so genannten Fliegenarmee gehören staatliche Bots ebenso an wie begeisterte Freiwillige. Dank dieser öffentlich-privaten Partnerschaft wurde nach dem Mord an Khashoggi der arabische Hashtag. 'Wir vertrauen. Mohammed bin Salman' mehr als 1,1 Millionen mal verwendet. Das Gefühl der Stärke und Zugehörigkeit, das Menschen in der Masse erleben, können Sie nun auch zu Hause am Computer oder mit dem Handy haben.

Diese neue Art von Massenmobbing kann – gerade wenn sie vom Staat ausgeht, der auch Polizei und Geheimdienste kontrolliert – Leid, Angst und Paranoia in überwältigende Ausmaß verursachen. Opfer von Trollkampagnen werden oft sogar für Angehörige und enge Vertraute zu Unberührbaren. (S.150)
Die Kombination von neusten Technologien aus Silicon Valley, klassischen PR-Techniken und eine diktatorischen Grundhaltung wird seit langem für koordinierte Online-Hetzkampagnen verwendet, nicht nur von Amateuraktivisten und nicht nur für Cancel-Kampagnen oder Shitstorms, sondern auch von demokratisch gewählten Regierungen und Politikern in aller Welt. In der Tat sind sie oft ein Warnsignal, dass sich eine Demokratie im Niedergang befindet. [...]
Die Kampagne gegen die mexikanische Politikwissenschaftlerin Kolumnisten, Feministin und Aktivistin Denise Dresser. Seit 2020 attackierte Präsident [...Obrador] sie regelmäßig während seiner morgendlichen Pressekonferenzen. [...] Sie wurde heimlich in der Öffentlichkeit fotografiert; auf einem der Fotos, das in einem Starbucks aufgenommen wurde, scheint ihre Bluse offen zu stehen. Das Foto verbreitete sich im Internet ,darunter der Kommentar, sie lebe allein und leide unter Demenz. (S.151/152)

"Seit / 2023 spricht Trump davon, im Falle seiner Wiederwahl werde er das Justizministerium auf seine Feinde ansetzen – nicht, weil sie sich etwas hätten zuschulden kommen lassen, sondern weil er 'Vergeltung' wolle. Sollte es ihm jemals gelingen, nicht nur mit massiven Trollkampagnen, sondern auch mit Gerichten und Ermittlungsbehörden gegen seine Feinde vorzugehen, dann wäre die Vermischung aus autokratischer und demokratischer Welt perfekt." (S.153/54) 
[Das wäre eine politische Rechtfertigung für die von Biden vorsorglich ausgesprochenen Begnadigungen, aber eine rechtlich sehr fragwürdige. Es sei denn, man nähme an, die vorsorgliche Amnestie für Trump von Seiten des obersten Gerichtshofes für seine Taten im Amt sei illegal.]


Epilog: Demokraten vereinigt euch (S.155 ff.)

"[...] Von der Leyens Aufruf, diese Beziehungen auf der Grundlage von Transparenz, Berechenbarkeit und Gegenseitigkeit neu auszutarieren, war eine diplomatisch formulierte Forderung nach Zöllen, Einfuhrverboten und Exportkontrollen, die sicherstellen sollen, dass China mit staatlichen Mitteln nicht unsere Industrie ruiniert.
Diese Warnung reicht noch nicht aus, denn die Konkurrenz betrifft nicht nur China und nicht nur die Wirtschaft. Wir stehen heute an einem Wendepunkt, an dem wir dafür Sorge tragen müssen, dass Überwachungstechnologie, Künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge, Stimm- und Gesichtserkennungssysteme und andere neue Technologien, den demokratischen Werten, den Menschenrechten und der Transparenz verpflichtet sind. Bei der gesetzlichen Regulierung der sozialen Medien sind wir bereits gescheitert mit fatalen Folgen für die Politik in aller Welt [...] Ein Bündnis aus Demokratien, sollte Transparenz fördern und internationale Standards festlegen,[...] 
Wir können es nicht länger zulassen, dass die Reichsten Geschäfte mit Autokratien machen und sich für deren außenpolitische Ziele einspannen lassen, während sie gleichzeitig Aufträge von demokratischen Regierungen erhalten und den Status, die Privilegien der Staatsbürgerschaft und die Rechtssicherheit der demokratischen Welt genießen.  Es ist Zeit, sie vor die Wahl zu stellen. [...]" (S. 176/77).

Mein Urteil: Ein nützliches Buch, aber indem Applebaum gar nicht auf dieselben Verleumdungsmethoden von Seiten des Westens ("Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst") eingeht, schwächt sie ihre Argumentation.
Die Aussage von Rezensenten, sie habe nicht genügend darauf hingewiesen, was man zur Verteidigung der Demokratie tun könne, lässt fast den Verdacht aufkommen, sie hätten die Seiten ab S.127 nicht gelesen. 
Einen Königsweg zur Verteidigung der Demokratie gibt es freilich in der Tat nicht. Denn fehlerlos regieren und der eigenen Bevölkerung jede Zumutung ersparen, das kann keine Regierung, das ist nicht Menschensache. 

Sieh auch:

LRT (LT)

Bedrohlicher Zusammenschluss von Diktatoren

Für LRT-Kolumnist Rimvydas Valatka ist der Krieg damit ein Stück weiter an Litauen herangerückt:

„Das tapfere ukrainische Volk wird die nächsten tausend Tage dieses Krieges nicht überstehen – zu isoliert, zu ungleich in der Stärke, um dem Zusammenschluss von Diktatoren aus aller Welt standzuhalten. Und wenn das geschieht, wird das faschistische Russland seinen Krieg nach Litauen und nach ganz Europa tragen. Die Bedrohung ist bereits spürbar: Die nahezu zeitgleiche Beschädigung der Kabel zwischen Finnland und Deutschland sowie zwischen Litauen und Schweden ist kein Zufall.“

Rimvydas Valatka