10 Oktober 2024

Han Kang erhält den Literaturnobelpreis

 Han Kang (Wikipedia)

gaus58 auf gutefrage.net:

"Der südkoreanischen Autorin Han Kang wurde der Literaturnobelpreis zuerkannt. Sie ist eine Schriftstellerin, die ihren eigenen Stil gefunden hat. Ihre eher düsteren Werke handeln von Identitätsfragen, von der Fragilität menschlichen Lebens, von Gewalt und Sozialkritik. Sie dringt tief in die Psyche des Menschen ein. Ihre Beschreibungen nehmen manchmal groteske Züge an, die interpretationsbedürftig sind.

Bekannt wurde sie insbesondere mit "Die Vegetarierin". Es ist die seltsame Geschichte der unscheinbaren Yong-Hye, die sich gegen Konventionen auflehnt und eine Verwandlung durchlebt. Im Fokus dieser finsteren Geschichte stehen Selbstbestimmung und Realitätsverlust. Es ist ein sozialkritischer Roman, der Fragen aufwirft hinsichtlich der Brutalität gesellschaftlicher Normen.

"Menschenwerk" handelt von dem Aufstand 1980 in der südkoreanischen Stadt Gwanju gegen die Militärdiktatur. Die Demokratiebewegung wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Die Menschen sind hilflos. Jugendliche Unbekümmertheit prallt auf brutale Staatsgewalt. Auffallend sind die unterschiedlichen Perspektiven. Der Roman trägt dazu bei, dass das Massaker in Erinnerung bleibt.

Menschen verbergen ihr wahres Ich hinter Masken, Makel sollen unsichtbar bleiben. "Deine kalten Hände" handelt von dem Künstler Jang Unhyang, der getrieben davon ist, Masken von Menschen zu erstellen, um hinter die Fassaden schauen zu können. Es geht um existenzielle Fragen. Künstler und Modell sind in ihren Rollen gefangen. Sie funktionieren, können Fragen nach dem "Warum" nicht beantworten.

In "Griechisch Stunden" geht es um persönliche Verluste, um zaghafte Annäherung, um ein Weiterleben in schwierigen Verhältnissen, die die Protagonisten überfordern. Träume, Visionen und Erinnerungen sind eingeflochten. Ein Griechisch- Kurs ist die einzige Schnittstelle für Begegnungen. Der Leser kann sich verlieren in Handlungssträngen, die sich übergangslos ändern.

Han Kang hat ihren eigenen oftmals düsteren aber äußerst kreativen Stil gefunden. In ihren Werken geht es auf groteske Art und Weise um Selbstbestimmung, Identität und Erwartungen. Sie bricht mit gesellschaftlichen Konventionen und entwickelt Geschichten, die fremdartig aber auch einzigartig wirken, weil es ihr auf unnachahmliche Weise gelingt, das Innere nach Außen zu kehren."

06 Oktober 2024

Grenzen

Grenzen, 2015, hrsg. von Gisela Dachs (in der Reihe Jüdischer Almanach der Leo Baeck Institute)

Der Eruv ist in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft entwickelt worden, um es  orthodoxen Juden zu erleichtern, mit Ungläubigen zusammenzuleben. Er ist besonders in der Diaspora für orthodoxe Juden, die streng nach dem Gesetz leben, wichtig.

Das gedanklich Anspruchsvolle dabei ist, dass er gleichzeitig Grenze wie Abgrenzung ermöglicht, so wie eine Tür durch das Öffnen ermöglicht, einen geschlossenen Raum zu verlassen und gleichzeitig durch Schließen einen für andere verbotenen Raum herstellen kann.  Das kennt man im bürgerlichen Leben von der Trennung von privat und öffentlich.

Der Eruv ist freilich gedanklich weit anspruchsvoller, zum Beispiel, weil Brot, das Mischen und Zäune bzw. Drähte dazu dienen können, öffentliche Räume zu (dem Gesetz nach) privaten Räumen einer Gemeinschaft zu machen. 

Dazu passt die jüdische Anekdote vom Wunderrabbi, der eine Gruppe von Orthodoxen eine Weiterreise am Sabbath ermöglichte: "Wir saßen im Zug und konnten nicht aussteigen, doch der Sabbath fing an. Da half unser Rabbi mit einem Wunder: 'Rechts war Sabbath, links war Sabbath, aber im Zug war kein Sabbath.' "

Astrid von Busekist: Der Eruv, S.13-25

Dieses Konzept könnte in einer zerstrittenen Welt Zusammenarbeit ermöglichen, wo (zeitweise) unüberbrückbare Gegensätze bestehen.

David Rechter: Habsburg Bukowina: Juden am Rande des Reichs, S.84-94

BukowinaCzernowitz

"Wegen ihrer traditionell stark multikulturellen Bevölkerung benutzt der Rechtswissenschaftler Gunther Teubner den Begriff Bukowina als Metapher zur Beschreibung pluralistischer Entwicklungen auch im internationalen Recht, wie sie sich im Zuge der Globalisierung seit den 1990er Jahren zeigen, und spricht von einer „globalen Bukowina“.[13]" (Wikipedia)

22 September 2024

Gabriel García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit

PierreVL: "Ich habe nie auch nur ansatzweise verstanden, was so viele Leute an dem Buch finden. Eigentlich mag ich phantastische Literatur ja schon, auch den magischen Realismus, z.B Juan Rulfo "Pedro Paramo". Auch die Liebe in den Zeiten der Cholera von Garcia Marquez habe ich total gerne gelesen.

Aber Hundert Jahre Einsamkeit habe ich bestimmt dreimal angefangen und nach ein paar dutzend Seiten entnervt weggelegt. Was soll das, ein Autor, der sich über seine eigenen Figuren lustig macht? Ich fand die ganze Handlung total klamaukig, pubertär und echt zum Fremdschämen.

Gibt es noch mehr Leute, die gerade dieses Buch exzeptionell schlecht finden?"

Fontanefan: "Nicht exzeptionell schlecht, aber: nichts für mich.

Ich habe mehr als nur ein paar dutzend Seiten gelesen und keinen Zugang gefunden. Die weiteren Werke habe ich - wenn überhaupt - nur kurz angelesen und bald aufgegeben.

Dagegen fand ich die Autobiographie von Gabriel García Márquez anregend und interessant: 2002 Vivir para contarla (Leben, um davon zu erzählen, dt. von Dagmar Ploetz; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002, ISBN 3-462-03028-0.

 Hundert Jahre Einsamkeit hat mich erfolgreich abgeschreckt.

Noch steht das Buch im Regal. Eingelegt ist eine Rezension (29.4.78) von "Der Herbst des Patriarchen". Ich bin überzeugt, dass Márquez ein bedeutender Autor ist, aber ich habe den Zugang zu seinem Werk 1976 verpasst.

Sollte ich es mit Die Liebe in den Zeiten der Cholera versuchen?

Es geht auch bei "100 Jahre ...": "Er fühlte, wie Amarantas Finger, wie warme, begierige Würmer seinen Bauch absuchten. So drehte er sich zum Schein im Schlaf zu ihr um, um jede Schwierigkeit auszuschalten, und fühlte die Hand ohne schwarze Binde, wie eine blinde Moluske zwischen die Algen seines Sehnens tauchen. Wenngleich sie so taten, als wüssten sie nicht, was sie beide wussten, und wovon jeder von beiden wusste, dass der andere es wusste, waren sie von jener Nacht an durch eine unverbrüchliche Mitwisserschaft aneinander gekettet." (S.113). 

Er kann es, aber er versteckt es unter Klamauk. Und der ist - Millionen Leser bezeugen es - offenbar ebenso oder sogar weit besser gekonnt, aber leider nichts für mich.

Bei Gelegenheit schaue ich wieder hinein.

Auf gutefrage.net schreibt Skoph zu Márquez:

"Ich meine, dass Márquez einer der sehr wenigen Menschen der Welt ist, der jeden vieler Romane fast völlig anders schreiben kann, vielleicht sogar will. [...]

"Hundert Jahre... ist kein magischer Realismus, sondern eine real-satirische Darstellung einer Dorfbevölkerung, die mit abergläubischen Ritualen ihrer Religion lebt und sich daraus zumeist entsetzlich primitiv den Alltag erklärt und auch noch so handelt,

Liebe in den Zeiten... ist magischer Realismus, weil man diese lebenslange unbefriedigende Liebesgeschichte als real annehmen kann UND erst am Ende augenscheinlich auf magischer Ebene in den Frohsinn durch glückliche Erfüllung des Lebens erhoben wird. Leider gibt es noch keine mehrteilige, um viel mehr die so feinen Details des Romans darzustellen, Verfilmung dieser epischen Poesie."

20 September 2024

Christa Wolf: Kassandra

 Christa WolfKassandra 

Zitate: 

"Die Leute des Eumelos waren an der Arbeit. Sie hatten Anhänger und der Palastschreiber und Tempeldiener gewonnen. Auch geistig müssten wir gerüstet sein, wenn der Grieche uns angreife. Die geistige Rüstung bestand in der Schmähung des Feindes (von 'Feind' war schon die Rede, eh noch ein einziger Grieche ein Schiff bestiegen hatte) und im Argwohn gegen die, welche verdächtig waren, dem Feind in die Hände zu arbeiten:/ Panthoos, der Grieche. Briseis, des abtrünnigen Kalchas  Tochter. Die weinte abends oft in meinem Schlafraum. Auch wenn sie sich, um ihn nicht in Gefahr zu bringen, von Troilos trennen würde: er ließ sie ja nicht gehen. Auf einmal war ich die Beschützerin eines gefährdeten Paares. Mein junger Bruder Troilus, der Sohn des Königs, wurde angefeindet, weil er sich eine Liebste nach seinem Geschmack nahm: Unvorstellbarer Vorgang. Tja, sagte König Priamos, schlimm, schlimm." (S.84/85) 

"Sie leisteten es sich, Mord und Totschlag weniger zu fürchten als die rollende Augenbraue ihres Königs und die Denunziation durch Eumelos. Ich leistete mir ein bißchen Voraussicht und ein kleines bißchen Trotz. Trotz, nicht Mut.

Wie lange habe ich an die alten Zeiten nicht gedacht. Es stimmt: Der nahe Tod mobilisiert noch mal das ganze Leben. Zehn Jahre Krieg. Sie waren lang genug, die Frage, wie der Krieg entstand, vollkommen zu vergessen. Mitten im Krieg denkt man nur, wie er enden wird. Und schiebt das Leben auf." (S.87)


17 September 2024

Jaques Offenbach: Orpheus in der Unterwelt

 Jaques Offenbach: Orpheus in der Unterwelt

Von Offenbach kannte ich bisher nur den  Cancan aus Orpheus in der Unterwelt und die  Oper Hoffmanns Erzählungen mit der berühmten Barcarole (die ziemlich gut).

Dass Orpheus in der Unterwelt keine tragische Oper ist, wusste ich schon lange; aber dass die Öffentliche Meinung darin eine Hauptrolle spielt und dass und wie sie erklärt, dass sie die Stelle des antiken Chores vertrete, habe ich jetzt nachdem das Reclamheft mit dem Operntext schon seit Jahrzehnten in meinem Bücherregal steht, mit Erstaunen gelesen. Ob ich das schon einmal wusste??

Hier der französische Text der Erstaufführung

Der Anfang in Maschinenübersetzung:

Die Öffentliche Meinung:

Wer bin ich? - des antiken Theaters

Ich habe den Chor perfektioniert,

Ich bin die öffentliche Meinung,

Eine symbolische Figur,

Was man einen Raisonneur nennt.

Der antike Chor im Vertrauen

Übernahm die Aufgabe, den Menschen zu erklären

Was sie im Voraus verstanden hatten,

Wenn sie klug waren.

Ich mache es besser. Ich handle selbst;

Und nehme an der Handlung teil,

Von der Palme oder dem Anathema.

Ich mache die Verteilung.

Die Frau soll sich vor mir hüten

Die ihren Mann betrügen will,

Und hüte sich auch der Ehemann

Der seiner Frau Züge machen würde! ...

(Übersetzt mit DeepL.com, kostenlose Version)

"seiner Frau Züge machen / Qui ferait des traits à sa femme" heißt im deutschen Operntext: "Seitenpfade geht".

Die gesamte Handlung der Oper bezieht sich darauf, dass Orpheus und Eurydike sich nach ihren Ehejahren inzwischen hassen und gern "Seitenpfade" gehen. Die antiken Götter Jupiter und Pluto wollen Eurydike für sich. Als Pluto Eurydike in die Unterwelt entführt hat, ist Orpheus hocherfreut; doch die Öffentliche Meinung fordert von ihm, dass er bei Jupiter Eurydike für sich zurückfordern soll.  Dieser sieht darin eine Chance, Eurydike zu verführen,  was ihm - Eurydik hat umgedacht - aber nicht gelingt. Als Orpheus jetzt Eurydike u sich nach Hause nehmen will, greift Jupiter mit seinem Blitz ein, doch in die Unterwelt lässt er sie nicht zurück, weil er sie seinem Rivalen Pluto nicht gönnt, sondern verwandelt sie in eine Bachantin (griechisch: Mänade). Nun folgt sie also als eine unter vielen (wahnsinnig, in Ekstase oder im Alkoholrausch?) dem Gott Bacchus.

Die Wikipedia zur Handlung.

"Zur Zeit der Uraufführung konnten sich viele Personen der Pariser Gesellschaft in dem Stück wiedererkennen. Die griechische Mythologie war ein beliebtes Gesprächsthema der feinen Leute, und Offenbach nahm mit seinem Orpheus den Antikenkult gehörig auf die Schippe. Selbst der regierende Kaiser Napoléon III. blieb nicht verschont. Er konnte sich in der Figur des liebestollen obersten Gottes Jupiter wiederfinden. Die Oper gefiel dem Kaiser; er nahm Offenbach die Anspielungen anscheinend nicht übel und applaudierte laut." (Wikipedia)

Die Einführung zum Operntext, der mir vorliegt, stammt aus DDR-Zeiten und sieht Offenbach hauptsächlich als Zeitkritiker und Erfinder der OperetteHoffmanns Erzählungen sieht er als enttäuschenden Rückfall in das alte Operngenre.

15 September 2024

Thomas R.P. Mielke: Inanna


































Inhalt laut Waschzettel: 
Ein Planetoid vernichtet die Hochkultur von Atlantis und lässt Europa in Dunkelheit und Eiseskälte versinken – vor über 8000 Jahren unserer Zeitrechnung. Inanna, die Göttin des Himmels und der Erde, war in die Welt geschickt worden, nach dem verlorenen Wissen der Götter zu suchen. Sie überlebt die Katastrophe, sie findet Zuflucht in den Höhlen der  Cro Magnon-Menschen. Nur langsam erwacht sie aus ihrer Benommenheit und erinnert sich an ihren Auftrag.

Es beginnt ihre Odyssee durch Europa, Kleinasien und Afrika: sie schließt sich hoch im Norden Rentierjägern an, lebt bei Fischern an der Donau, findet die Stadt der Frauen von Catal Hüyük und begegnet Gilgamesch, dem König von Uruk.
Inanna wird so zur Kulturbringer der Menschheit, sie lässt die Menschen an ihren Erfahrungen und ihrem Wissen teilhaben: sie zähmt die ersten Wölfe, erfindet den Kamin, den Zement, die Töpferscheibe und die Waage.  Das Wissen der Götter aber, das sie sucht, hat Gott Enki in seinem Palast auf dem Grund des Meeres versteckt.