04 Mai 2024

Drei heilige hochbegabte Degen (Heliand)

 Was Thomas Mann in seinen Josephsromanen an dichterischer Ergänzung leistet, bietet in begrenzterer Form auch der Heliand. Aus wenigen Versen der Bibel gestaltet er eine Darstellung, die den Hörern angepasst ist. Was aufgrund seiner Stoffauswahl verlorengeht, ergänzt er durch Eigenes in dichterischer Form;

Die Mär erscholl
In der Welt nicht weiter,   als sein Wille ging,
Des Himmelsherrn Gedanke.   Ob heilige Männer schon
Den Christ erkannten,   doch ward es am Königshof
Nicht den Mannen gemeldet,   die im Gemüte
Ihm Huld nicht hegten.   Verhohlen blieb es ihnen
Mit Worten und Werken,   bis westwärts von Osten her
Hochbegabte   gegangen kamen,
Schneller Degen   drei zu dem Volke
Auf langem Wege   über das Land dahin.
Sie folgten glänzendem Zeichen   und suchten Gottes Kind
Mit lauterm Herzen,   hinzuknien vor ihm,
Seine Jüngerschaft bekennend.   Sie trieb Gottes Kraft
Dahin, wo sie Herodes,   den Herrscher, fanden
In seinem Saale sitzen,   auf Arges sinnend,
Hochmütig bei den Mannen,   den mordgiergen Mann.
Sie grüßten ihn höflich,   wie dem Herrscher gebührte,
In seinem Saal nach Sitte.   Da fragt' er sie schnell,
Welche Absicht   sie nach außen brächte,
Die Wege zu wandern.   »Führt ihr gewunden Gold
Zur Gabe dem Gönner,   zu dem ihr gegangen kommt,
Gefahren zu Fuße?   Von ferne kommt ihr doch,
Andrer Völker Fürsten:   denn vornehm scheint ihr geboren,
Gutem Stamm entsprossen;   nie kamen uns noch solche
Boten von andern Völkern,   seit ich hier gewalte
Dieses weiten Reichs.   Drum sagt mir in Wahrheit
Vor diesen Leuten,   warum ihr zu diesem Lande kamt.«

Da gaben ihm zur Antwort   die östlichen Männer,
Weise von Worten:   »Der Wahrheit nach mögen wir
Unser Gewerbe   dir wohl berichten,
Frei bekennen,   warum wir gefahren kommen
Von Osten der Erde.   Edle lebten einst,
Seligsprechende,   die uns Segen viel,
Hilfe verhießen   vom Himmelskönig
Mit wahren Worten.   Ein Wissender darunter,
Erfahren und weise,   war in früher Zeit
Unser Ahn im Osten;   kein andrer seitdem
War der Sprachen so kundig:   er kannte Gottes Wort,
Denn verliehen hatt ihm   der Leute Herr,
Daß er von der Erde   aufwärts vernahm
Des Waltenden Wort:   drum war das Wissen groß
In des Degens Gedanken.   Dann, als er sollte
Diese Wohnungen räumen,   der Verwandten Genossenschaft,
Der Leute Traum verlassen,   andres Licht zu suchen,
Und nun die Jünger   sich näher gehen hieß,
Die Erbwarte   und die Angehörigen,
Da sagt' er für sicher,   was seither geschah
Und ward in dieser Welt.   Ein weiser König,
Sagte der Seher,   sollte kommen
Ruhmvoll und mächtig   zu diesem Mittelkreis,
Von bester Geburt,   aus Gott geboren:
Der werde walten   in dieser Welt
Bis zu ewigen Tagen   der Erd und des Himmels.
Und am selben Tage,   wo ihn, den Seligen,
An diesem Mittelkreis   die Mutter gebäre,
Da sollte scheinen,   sagt' er, von Osten her
Ein heller Himmelsstern,   wie wir hier nie sahen
Zwischen Erd und Himmel   noch irgend anderswo
Solch Kind noch solch Zeichen.   Es zu verehren sollten dann
Dort aus dem Volke   drei Männer fahren:
Im Augenblick, da sie im Osten   aufsteigen sähen
Das Gotteszeichen,   sollten sie gegürtet sein
Und wir ihm dann folgen,   wie es fürder ginge
Westlich über die Welt.   Das ist nun wahr geworden,
Durch Gottes Kraft gekommen.   Der König ist geboren
Stark und schön:   wir sahn sein Zeichen scheinen
Hell unter den Himmelssternen,   wie der Herr uns selber,
Der Mächtige, melden ließ.   Jeden Morgen sahen wir
Des Sternes Strahlenglanz:   wir folgten ihm stets
Auf waldigen Wegen;   unser Wunsch war nur,
Daß wir ihn selber sähen,   ihn zu suchen wüßten,
Den König, in diesem Kaisertum.   Nun künd uns, wo das Kind entsproß.«

Da ward dem Herodes   inwendig der Brust
Das Herz voll Harm,   ihm wallte heiß der Mut,
Die Seele mit Sorgen,   da er sagen hörte,
Daß er ein Oberhaupt   sollt über sich haben,
Einen kräftigern König,   von edler Abkunft,
Einen seligern unter dem Gesinde.   Versammeln hieß er da,
Was weiser Männer wär   in Jerusalem,
Die klügsten und kundigsten   Kenner in Sprachen,
Die in der Brust auch bärgen   der heiligen Bücher
Wahrhaftes Wissen.   Zu diesen gewendet fragte
Nun aufs genauste   der neidherzge Mann,
Der König des Landes,   wo Christ geboren
Werden sollte   im Weltreiche,
Der beste Friedenswart.   Der Frage antworteten
Die Weisen nach Wahrheit:   sie wüßten, er werde
In Bethlem geboren:   »so ist in den Büchern
Weislich verzeichnet,   wie die Wahrsager
Durch Gottes Kraft,   begabte Männer,
Hochweise Leute,   weiland sprachen,
In Bethlehem solle   der Burgen Hirte,
Der liebe Landeswart   ans Licht gelangen,
Der reiche Berater,   der da richten soll
Über der Juden Volk   und seine Gabe teilen
Mild über den Mittelkreis   der Menge der Völker.«

Nun erfuhr ich, daß sofort   der falsche König
Der Wahrsager Worte   den Wallern sagte,
Die dahin aus der Heimat   als Herolde waren
So fernher gefahren.   Er fragte sie dann,
Wann sie im Ostenland   zuerst gesehen
Den Königsstern strahlen,   die Standarte leuchten
So hell am Himmel.   Nichts hehlen wollten sie,
Gaben redlich Bericht.   Da hieß er sie reisen,
Bis sie alles aufgefunden,   ihrem Auftrag gemäß,
Von des Kindes Kunst.   Der König gebot auch
Und erheischt' es hart,   der Herrscher der Juden,
Den weisen Männern,   eh sie von Westen führen,
Ihm kundzutun,   wo er den König sollte
In seinem Sitze suchen:   mit dem Gesinde dächt er dann
Den Gebornen anzubeten.   Alsbald ertöten wollt er ihn
Mit der Waffen Schärfe.   Aber der waltende Gott
Dachte anders zu dem Ding   und mochte mehr gedenken
Und leisten an diesem Licht:   das blieb noch lang ersichtlich,
Gottes Kraft ward kund.

                                            Strahlend klommen die Zeichen
Weiter zwischen Wolken.   Die Weisen waren
Fertig zu ihrer Fahrt:   da fuhren sie hin sofort,
Die Botschaft zu vollbringen,   den Gebornen Gottes
Selber aufzusuchen.   Des Gesindes war nicht mehr,
Die dreie nur; der Dinge   wußten sie doch Bescheid,
Die gottbegabten Männer,   die die Gaben brachten.
Weislich sahen sie wohl   unter der Wolken Wölbung
Auf zu dem hohen Himmel,   wie die hellen Sterne fuhren:
Da erkannten sie Gottes Zeichen,   die dem Christ zu Liebe waren
Dieser Welt gewirkt:   ihnen wanderten sie nach,
Folgten in Ehrfurcht.   Sie förderte der Mächtige
Weiter, bis sie gewahrten,   die wegmüden Männer,
Hell am Himmel   das hehre Gotteszeichen
Stillestehen.   Der Stern leuchtete
Hell über dem Hause,   wo das heilige Kind
Willig wohnte,   bewacht von der Jungfrau,
Die ihm demütig diente:   da ward der Degen Herz
Erquickt in ihrer Brust,   sie erkannten an dem Zeichen,
Daß sie das Friedenskind Gottes   gefunden hatten,
Den heiligen Himmelskönig.   Da in das Haus sie nun
Mit ihren Gaben gingen,   die Gäste von Osten,
Die fahrtmüden Fürsten,   sofort erkannten sie
Wohl den waltenden Christ.   Die Wanderer fielen
Vor ihm ins Kniegebet,   und in Königsweise
Grüßten sie den guten,   brachten die Gaben dar,
Gold und Weihrauch   nach den göttlichen Zeichen,
Und Myrrhen zumal.   Die Mannen standen bereit,
Hold vor ihrem Herren,   die mit Händen alles
Fröhlich empfingen.   Dann schieden die frommen
Recken zu ihrer Ruhe:   die reisemüden Männer
Gingen in den Gastsaal,   wo Gottes Engel
Den Schlafenden bei Nacht   ein Gesicht zeigte,
Ein Scheinbild im Schlummer,   wie es der Schöpfer selber,
Der Waltende, wollte,   als würd ihnen geboten,
Daß sie auf anderm Wege   gen Osten führen,
Zu Lande gelangten   und zu dem leiden Mann,
Herodes, nicht wieder   zurückekehrten,
Dem meinrätgen König.   Da nun der Morgen kam
Wonnig zu dieser Welt,   begannen die Weisen sich
Ihre Gesichte zu sagen   und erkannten selber
Des Waltenden Wort,   da sie Weisheit viel
Bargen in ihrer Brust.   Sie baten den Allwaltenden,
Den hehren Himmelskönig,   daß sie um seine Huld auch ferner
Seinen Willen dürften wirken,   denn zu ihm gewandt sei Herz
Und Mut allmorgenlich.   Da fuhren die Männer hin,
Die Gesandten von Osten,   wie der Engel Gottes
Sie mit Worten gewiesen,   einen andern Weg nehmend
Und Gottes Lehre folgend.   Dem Judenkönig wollten
Von des Neugebornen Geburt   die Boten von Osten,
Die gangmüden Gäste,   gar nichts melden, und heim
Wenden nach eigenem Willen.

02 Mai 2024

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims

 Didier EribonRückkehr nach Reims, frz. 2009, suhrkamp TB 2023

"[...] Eribon beschreibt am Beispiel seiner Eltern, dass das Linkssein der unteren Schichten darin bestanden habe „ganz pragmatisch das abzulehnen, worunter man im Alltag litt. Es ging um Protest, nicht um ein von globalen Perspektiven inspiriertes politisches Projekt.“[17] Durch die Wandlung der linken politischen Kräfte, die „fortan nicht mehr die Sprache der Regierten, sondern jene der Regierenden“[18] gesprochen hätten, sei eine Lücke der politischen Repräsentation der unteren Schichten entstanden, die von rechts gefüllt werden konnte: „Wer erfüllt heute die Funktion, die damals ´die Partei´ innehatte? Von wem dürfen sich die Ausgebeuteten und Schutzlosen heute vertreten und verstanden fühlen? An wen wenden und auf wen stützen sie sich, um politisch und kulturell zu existieren, um Stolz und Selbstachtung zu empfinden, weil sie sich legitim, da von einer Machtinstanz legitimiert, fühlen?“[19]

Es sei naiv, dem Arbeitermilieu eine automatische Linksorientierung zu unterstellen: Das „spontane Bewusstsein“ sei immer widersprüchlich und labil und werde erst durch eine bestimmte begriffliche Strukturierung zu einer linken oder rechten politischen Orientierung.[20] Der Diskurs der Rechten habe das spontane Bewusstsein der populären Schichten geschickt angesprochen und sie mit neuen, eher inkompatiblen Schichten zu einem neuen Historischen Block geformt.[21] Den politischen Rechtsschwenk verstehe er auch als eine Bewegung der Notwehr, der Verteidigung der Würde und des Stolzes in einem nun nationalen „Wir“.[22] Ohne dieses Verständnis der Logik bzw. der Mechanismen der spontanen Selbstreproduktion der Unterordnung sei eine Änderung des politischen Klimas nicht möglich. [...]" (Wikipedia Rückkehr nach Reims)

Ergänzung Fontanefan: "Es wäre wohl kaum übertrieben, die Banlieus der französischen Städte als Schauplätze eines verkappten Bürgerkrieges zu bezeichnen. Die Lage in dieser urbanen Gettos ist das perfekte Beispiel dafür, wie man mit einer gewissen Bevölkerungsgruppe umzuspringen pflegt, die man im gesellschaftlichen und politischen Leben an den Rand drängt, in Armut, Prekarität und Perspektivlosigkeit. Die in diesen Vierteln regelmäßig aufflammenden Aufstände sind das spontane Kondensat einer Vielzahl fragmentierter Konflikte, deren Grollen nicht enden wird. Ich bin versucht hinzuzufügen, dass sich auch andere statistische Kennzahlen wie jene zur Benachteiligung 'bildungsferner' Schichten im Schulsystem kaum anders als im Sinne der Kriegsthese interpretieren lassen." (S.112)

Wikipedia: "Eine Umkehrung des Trends sei nur möglich, wenn die Linke es wieder lerne, um politisches Bewusstsein und den Aufbau einer linken Hegemonie zu kämpfen. Wesentlich sei eine Neu-Strukturierung des labilen spontanen Bewusstseins: oben und unten, rechts und links seien wichtigere politische Kriterien als die Unterscheidung nach Ethnien oder Hautfarbe oder Geschlecht. Den spontanen Erzählungen von unten (Chauvinismus, Rassismus, Patriarchalismus, Homophobie...) müsse ein kohärenter linker Diskurs entgegengesetzt werden."

21 April 2024

Heliand

Heliand (Wikipedia)

"Der Heliand ist ein frühmittelalterliches altsächsisches Großepos. In fast sechstausend (5983) stabreimenden Langzeilen wird das Leben Jesu Christi in der Form einer Evangelienharmonie nacherzählt. Den Titel Heliand erhielt das Werk von Johann Andreas Schmeller, der 1830 die erste wissenschaftliche Textausgabe veröffentlichte. Das Wort Heliand kommt im Text mehrfach vor (z. B. Vers 266) und wird als altniederdeutsche Lehnübertragung von lateinisch salvator („Erlöser“, „Heiland“) gewertet.

Das Epos ist nach dem Liber evangeliorum des Otfrid von Weißenburg das umfangreichste volkssprachige literarische Werk der „deutschen“ Karolingerzeit und damit ein wichtiges Glied im Kontext der Entstehung der niederdeutschen Sprache, aber auch der deutschen Sprache und Literatur.[1]"


E-Text des altsächsischen Textes (Bibliotheca Augustana)

Text in der Übersetzung von Karl Simrock (Projekt- Gutenberg.de

Inhalt:

Eingang

Manche waren,   die ihr Gemüt dazu trieb,
Daß sie Gottes Wort   beginnen wollten,

Das Geheimnis zu enthüllen,   das der heilige Christ
Hier unter Menschen   herrlich vollendete
Mit Worten und Werken.   Uns wollten viel weiser
Leute Kinder loben   die Lehre Christs,
Des Herren heilig Wort,   und mit Händen schreiben
Offenbar in ein Buch,   wie seinen Geboten
Die Völker folgen sollten.   Doch viere nur fanden sich
Unter der Menge,   die Macht von Gott hatten,
Hilfe vom Himmel,   heiligen Geist
Und Kraft von Christ.   Sie kor er dazu
Von allen allein,   das Evangelium
In ein Buch zu bringen,   die Gebote Gottes,
Das heilige Himmelswort.   Das hatten nicht andre noch
Aus dem Volke zu fördern,   da nur diese viere
Durch die Kraft Gottes   dazu gekoren wurden.
Matthäus und Markus   hießen die Männer,
Lukas und Johannes:   sie waren Gott lieb
Und des Werkes würdig:   der waltende Gott
Hatt ihren Herzen   heiligen Geist
Fest anbefohlen   und frommen Sinn,
Weise Worte verliehen   und großes Wissen,
Daß sie erheben möchten   mit heiligen Stimmen
Die gute Gotteskunde,   die ihr Gleichnis nicht hat
In Worten dieser Welt,   die so den waltenden
Herrscher verherrlichten,   und heillose Tat,
Frevelwerk fällten   und dem tückischen Feind
Im Streit widerstünden;   denn starken Sinn hatte,
Milden und guten,   welcher der Meister war,
Der edle Urheber,   der allmächtige.
Sie viere sollten   mit Fingern schreiben,
Setzen und singen   und gründlich sagen,
Was sie von Christi   Kraft, der großen,
Gesehen und gehört,   das er selber gesprochen,
Gewirkt und gewiesen,   des Wunderbaren viel,
Vor den Menschen und mancherlei,   der mächtige Herr.
Was von Anbeginn   durch seine einige Kraft
Der Waltende sprach,   da er die Welt erschuf,
Und da alles befing   mit einem Wort,
Himmel und Erde   und alles, was darin
Gewirkt war und gewachsen:   das ward mit Gottes Wort
All fest befangen   und zuvorbestimmt,
Welcher Leute Volk   des Landes sollte
Am weitesten walten   und wie die Welt dereinst
Ihre Alter enden sollte.   Deren eins nur stand
Noch bevor den Völkern:   fünfe waren hin;
Das sechste sollte   nun seliglich kommen
Durch die Kraft Gottes   und Christi Geburt,
Des besten Heilands,   daß sein heilger Geist
In dieser Mittelwelt   den Menschen helfe
Und vielen fromme   wider der Feinde Drang,
Böser Geister Zauber.

                                        Zu der Zeit lieh Gott
Den Römerleuten   der Reiche größtes:
Er hatt ihrem Heergeleit   das Herz gestärkt,
Daß sie Zins zu zahlen   alle Völker zwangen.
Von Romburg aus hatten sie   das Reich gewonnen,
Den Helm auf dem Haupte.   Ihre Herzoge saßen
In jeglichem Lande,   der Leute gewaltend
Über alle Reiche.   Herodes war
In Jerusalem   über der Juden Volk
Zum König gekoren:   der Kaiser von Rom
Hatt ihn dahin,   der mächtige Herrscher,
Mit dem Gesinde gesetzt,   obwohl nicht gesippt
Israels Abkommen,   noch durch edle Geburt
Ihrem Geschlecht entstammt:   nur des Kaisers Bestimmung
Von Romburg hatt ihm   das Reich verliehen,
Daß ihm gehorchten   die Heldengeschlechter,
Die kraftkundigen   Nachkommen Israels,
Unwankende Freunde,   dieweil da waltete
Herodes, des Reiches   und Gerichtes pflegend
Über die Leute.

Zacharias und Elisabeth

                                     Nun war da ein alter Mann,
Ein vielerfahrener   mit frommweisem Sinn,
Der war von den Leuten   aus Levis Stamm,
Des Sohnes Jakobs,   von gutem Geschlecht.
Zacharias geheißen   war der selige Mann,
Der gerne jederzeit   diente Gott dem Herrn
Und seinen Willen wirkte.   So tat auch sein Weib,
Die alternde Frau;   kein Erbwart sollte
In ihrer Jugend   ihnen gegeben werden.
Doch lebten sie lasterlos   und lobten Gott,
Den Gehorsam haltend   dem Himmelskönig,
Dessen Ruhm sie verherrlichten,   und ruchlose Tat,
Schuld und Sünde mieden.   Sorge befing sie zwar,
Daß sie ohne Erben   altern sollten,
Der Kinder bar verblieben.

                                                Er sollte Gottes Gebot
In Jerusalem tun:   wenn die Reih ihn traf
Und die heiligen Zeiten   dazu ermahnten,
So sollt er im Weihtum   des Waltenden Opfer,
Das heilige, halten,   des Himmelskönigs,
In Gottes Jüngerschaft:   eifrig begehrt' er,
Daß er es frommen Sinns   vollbringen möchte.



In einer Ausgabe von 1916 für Studenten im Kriegsdienst findet sich ein handschriftlicher Text aus den 1930er oder 1940er Jahren, aus dem hervorgeht, dass der Heliandtext zu Christi Geburt für eine Weihnachtsfeier verwendet wurde, vermutlich für eine Kriegsweihnacht im Zweiten Weltkrieg an der Front. (Der Verfasser war in den 40er Jahren Soldat. 

Aus der uns allen vertrauten Weihnachtsgeschichte hören wir heute einen Abschnitt in der deutschen Prägung, die die Botschaft Jesu vor über 1000 Jahren in einer niedersächsischen Dichtung, dem Heliand, gefunden hat.
Dabei wollen wir einmal nicht so sehr auf die äußere Form achten, auf den germanischen Stabreim und auf altdeutsche Begriffe wie Herzog, Fronbote, Mahlhof, Hochsitz, sondern wir wollen versuchen, hinter den Worten die Sprache der deutschen Seele zu hören, wie sie zu uns spricht in der Schilderung der Mutter und ihres Kindes. Wer von uns recht zu lauschen versteht, der wird darin etwas wiederfinden von der Innigkeit und Tiefe, die uns aus dem Weihnachtsbildern der alten deutschen Meister so warm anspricht.

Da brachte man von Rom aus   des mächtigen Manns
Über all dies Erdenvolk,   Octavians,
Bann und Botschaft:   über sein breites Reich
Kam es von dem Kaiser   an die Könige all,
Die daheim saßen,   soweit seine Herzoge
Über all den Landen   der Leute gewalteten.
Die Ausheimischen hieß er   die Heimat suchen,
Ihre Mahlstatt die Männer,   daß männiglich vor dem Fronboten
Bei dem Stamme stünde,   von dem er stammte,
In der Burg seiner Geburt.   Das Gebot ward geleistet
Über die weite Welt:   die Leute wanderten
Jedes zu seiner Burg.   Die Boten fuhren hin,
Die von dem Kaiser   gekommen waren,
Schriftverständige Männer,   und schrieben in Rollen ein,
Genau nachforschend,   die Namen alle
Des Lands und der Leute,   und keinem erließen sie
Den Zins und den Zoll,   den sie zahlen sollten
Männiglich von seinem Haupt.

Zum Vergleich der altsächsische Text: 

Thô uuar{d} fon Rûmuburgrîkes mannes


o{b}ar alla thesa irminthiodOctauiânas

ban endi bodskepio{b}ar thea is brêdon giuuald

cuman fon them kêsurecuningo gihuilicun,

hêmsitteandiun,sô uuîdo sô is heritogon

o{b}ar al that landskepi[liudio] giuueldun.

[Hiet man] that [alla] thea elilendiun maniro ô{d}il sôhtin,

[heli{d}os] iro handmahalangegen iro hêrron bodon,

quâmi te them cnôsla gihue,thanan he cunneas uuas,

giboran fon them burgiun.That gibod uuar{d} gilêstid

o{b}ar thesa uuîdon uuerold.Uuerod samnoda

[te] allaro burgeo gihuuem.Fôrun thea bodon o{b}ar all,

thea fon them kêsuracumana uuârun,

bôkspâha uueros,[endi] an brêf [scri{b}un]

[suî{d}o] niudlîconamono gihuilican,

ia land ia liudi,that im ni [mahti alettian] mann

gumono sulica gambra,sô [im] scolda geldan gihue

heli{d}o fon is hô{b}da.Thô giuuêt im ôc [mid] is hîuuisca

Ioseph the gôdo,sô it god mahtig,

uualdand uuelda:sôhta im [thiu uuânamon] hêm,

                                                      Da schied mit den Hausgenossen
Auch Joseph der gute,   wie Gott der mächtige,
Der Waltende wollte,   sein wonnig Heim zu suchen,
Die Burg in Bethlehem,   wo beider war,
Des Mannes Mahlhof   und der Jungfrau zumal,
Maria der guten.   Da war des Mächtigen Stuhl
In alten Tagen,   des Edelkönigs,
Davids des hehren,   solang er die Herrschaft durfte
Unter den Ebräern   zu eigen haben
Und den Hochsitz behaupten.   Seines Hauses waren sie,
Seinem Stamm entsprossen,   aus gutem Geschlecht
Beide geboren.   Da hört ich, daß der Schickung Gebot
Marien mahnte   und die Macht Gottes,
Daß ihr ein Sohn da sollte   beschert werden,
In Bethlehem geboren,   der Geborenen stärkster,
Aller Könige kräftigster.   Da kam an der Menschen Licht
Der mächtige Held,   wie schon manchen Tag
Davon der Bilder viel   und der Zeichen geboten
Waren in dieser Welt.   Da ward das alles wahr,
Was spähende Männer   vordem gesprochen,
Wie er in Niedrigkeit   hernieder auf Erden
Durch seine einige Kraft   zu kommen gedächte,
Der Menschen Mundherr.   Da ihn die Mutter nahm,
Mit Gewand bewand ihn   der Weiber schönste,
Zierlichen Zeugen,   und mit den zweien Händen
Legte sie liebreich   den lieben kleinen Mann,
Das Kind, in eine Krippe,   das doch Gottes Kraft besaß,
Der Menschen mächtigster.   Die Mutter saß davor,
Die wachende Frau,   und wartete selber
Und hütete das heilige Kind.   In ihr Herz kam Zweifel nicht,
In der Magd Gemüt.


Buchschmuck und Einführung dieser Ausgabe von 1916:




18 April 2024

Heinrich Festing: Aldolph Kolping und sein Werk

Heinrich Festing: Aldolph Kolping und sein Werk, Herder Freiburg 1981

Aldolph Kolping            Kolpingwerk          Kolping international













Geprägt von den hohen Ansprüchen des Vaters und beeinflusst von der tiefen Gläubigkeit seiner Eltern, die wohl im Priesterdasein eine höhere Form von Christlichkeit sahen, stellt Kolping sehr hohe Ansprüche an sich und will Priester werden. 
Zeugnis seiner hohen Ansprüche ist sein Tagebucheintrag vom 4.11.1837:

  


















Vermutlich hat er auch in seinen beiden Krankheiten, von denen die erste das Ende der Arbeit als Schumacher, die zweite die Finanzierung seines Theologiestudiums brachte, eine göttliche Fügung gesehen, die ihn zu Höchstleistungen verpflichtete.

"Die Gesellenvereine haben vorgelebt und praktiziert, was später durch Volkshochschulen und andere Einrichtungen aufgegriffen wurde. Ohne Übertreibung darf man sagen, dass die Gesellenhäuser und Gesellenvereine vor dem Ersten Weltkrieg zu den ersten und bedeutendsten Einrichtungen der Erwachsenenbildung gehörten." (S. 84)

17 April 2024

Israel

 Informationen zur politischen Bildung Heft 336 (2018) mit Inhaltsverzeichnis

Eine Bewegung verschafft sich ihren Staat: der Zionismus (Michael Brenner)

1879 hatte der deutsche Journalist Wilhelm Marr den Begriff des Antisemitismus erfunden und damit dem nunmehr "rassisch" begründeten Judenhass einen pseudo-wissenschaftlichen Anstrich gegeben. [...] In Wien wurde mit Karl Lueger ein sich offen zum Antisemitismus bekennender Politiker zum Bürgermeister der Stadt gewählt. Selbst in Frankreich [...], als dem jüdischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus 1894 wegen angeblichen Hochverrats der Prozess gemacht wurde.

[...]  Die neuen antisemitischen Parteien, die am Ende des 19. Jahrhunderts in den deutschen Reichstag einzogen, fanden im alten Feindbild der Juden Erklärungen für neue Missstände. Angesehene Persönlichkeiten wie der Hofprediger Adolf Stoecker und der Historiker Heinrich von Treitschke schürten derlei antijüdische Vorurteile selbst am kaiserlichen Hof und an den Universitäten.

[...] in Osteuropa [...] waren die Juden niemals vollständig emanzipiert worden und litten zudem unter großer wirtschaftlicher Not. Nach dem Attentat auf den Zaren Alexander II. 1881, an dem auch eine Frau jüdischer Herkunft beteiligt gewesen war, führte eine gezielt antijüdische Kampagne zu gewaltsamen Pogromen. Viele Juden mussten um ihr Hab und Gut und oftmals auch um ihr Leben fürchten. Zwischen 1881 und 1914 wanderten daher über zwei Millionen Juden aus dem Zarenreich nach Nordamerika aus.

Eine kleine Gruppe der Auswanderungswilligen brach im gleichen Zeitraum ins Osmanische Reich auf, um sich in dem Gebiet, das sie Eretz Israel, das Land Israel, nannten, niederzulassen. Es gab damals weder Israel noch Palästina als politische Einheit, sondern lediglich verschiedene von Istanbul, der Hauptstadt des Osmanischen Reiches, aus regierte Bezirke, den Sandschak von Jerusalem sowie den von Nablus und Akko. Inspiriert wurden die Auswanderungswilligen von einer Schrift des in Odessa lebenden Arztes Leon Pinsker (1821–1891), der 1882 unter dem Eindruck der Pogrome in einem kleinen auf Deutsch verfassten Büchlein mit dem Titel "Auto-Emanzipation" gefordert hatte, dass die Juden sich eben selbst emanzipieren müssten. Wenn dies im Zarenreich nicht möglich sei, bräuchten sie ein eigenes politisches Territorium, um sicher vor den Antisemiten zu sein. Zwar bildeten sich daraufhin einige Ortsvereine der sogenannten Zionsfreunde (Chovevei Zion), doch eine breite politische Bewegung konnte Pinsker ebenso wenig auf die Beine stellen wie vor ihm Moses Heß. [...]

Dieses Verdienst kommt unumstritten dem in Budapest aufgewachsenen und in Wien lebenden Journalisten Theodor Herzl (1860–1904) zu [...] Er wuchs in einem Elternhaus auf, das sich bewusst für einen Weg heraus aus dem traditionellen Judentum und hinein in die deutschsprachige Gesellschaft entschieden hatte. So war Herzl mit der hebräischen Sprache nicht vertraut und die jüdischen Gebete blieben ihm zeitlebens fremd. [...]

Herzl war sich wohl bewusst, dass die Juden auch in seiner Geburtsstadt Budapest und in seiner Wahlheimat Wien angefeindet wurden. Aber wenn selbst in Frankreich, wo sie seit über 100 Jahren gleichberechtigte Bürger waren, auf der Straße gegen sie gehetzt wurde, dann gab es nach seiner Ansicht keine Hoffnung mehr für die Juden, irgendwo in Europa frei von Ressentiments zu leben. [...]

Einen Schlüssel zur Lösung des Problems sah Herzl zunächst in einem Massenübertritt der Wiener Juden zum katholischen Glauben. Sehr bald erkannte er jedoch, dass sie damit zwar der traditionellen, religiös motivierten Judenfeindschaft ausweichen konnten, nicht aber dem neuen, "rassisch" begründeten Antisemitismus. Als Ausweg blieb nur die Auswanderung aus Europa. 1896 veröffentlichte Herzl eine kleine Broschüre mit dem programmatischen Titel "Der Judenstaat". Darin hielt er fest, dass sein Projekt eines Judenstaates unzweifelhaft aus der Zurückweisung durch die europäische Umgebung geboren wurde: "Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwängliche Patrioten. (…) Wenn man uns in Ruhe ließe. (…) Aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen." (Theodor Herzl, Der Judenstaat, Leipzig 1896, S. 11 f.)

Wo der neue Judenstaat liegen sollte, war ihm noch nicht klar: [...] 

Herzl stieß von Anfang an auf Widerstand in der jüdischen Gemeinschaft. [...] So verweigerten wohlhabende Juden, wie die Barone Rothschild und Hirsch in Paris, Herzl ebenso die Unterstützung wie die Rabbiner, um die er sich bemühte. [...] Herzl war aber auch innerhalb der jungen zionistischen Bewegung nicht unumstritten. Um den russischen Zionisten Achad Ha’am (hebr.: Einer aus dem Volk, eigentlich Ascher Ginsberg, 1856–1927) scharten sich jene Zionisten, deren Motiv zur Rückkehr nach Palästina nicht so sehr der Antisemitismus war wie die Angst um den Untergang des Judentums als Folge der zunehmenden Assimilation. Sie wollten ein geistiges und kulturelles jüdisches Zentrum schaffen, darin die hebräische Sprache als Alltagssprache wiederbeleben, und mit einer neuen, säkularen, jüdischen Kultur auch den in der Diaspora (Zerstreuung) verbleibenden Juden das Festhalten an ihrer jüdischen Identität ermöglichen. Als Herzl im Jahre 1902 seinen utopischen Roman "Altneuland" veröffentlichte, der die zukünftige jüdische Gesellschaft in Palästina wie ein idealisiertes Europa darstellte, wo man englische Internate, französische Opernhäuser und natürlich Wiener Kaffeehäuser hätte und wo europäische Sprachen gesprochen würden, reagierte Achad Ha’am mit scharfer Kritik. Was Herzl hier projiziere, sei doch nichts anderes als eine Assimilation der Juden auf kollektiver Ebene. Sie retteten zwar ihre physische Existenz in den Orient, doch sie lebten weiter, als ob sie in Europa wären. [...] In Herzls Vision hießen die einheimischen Araber die jüdischen Einwanderer willkommen, da diese die Errungenschaften der modernen Zivilisation Europas mit sich brachten und das Land aufbauten. Achad Ha’am dagegen prognostizierte den Konflikt der beiden Bevölkerungsgruppen. [...]

Vor Beginn der Einwanderungsbewegung, die Anfang der 1880er-Jahre aus Osteuropa einsetzte, lebten circa 25.000 Juden unter etwa einer halben Million zumeist muslimischer, aber zu einem kleinen Teil auch christlicher Araber in Palästina. Über Jahrhunderte war diese kleine jüdische Bevölkerung, der sogenannte Alte Jischuw, in Palästina ansässig gewesen und hatte sich auf die vier Städte Jerusalem, Hebron, Tiberias und Zefat (Safed) konzentriert. (S.6-10)

 [Der alte Jischuv war überwiegend arabisch- und ladinosprachig, die neuen Einwanderer sprachen überwiegend Jiddisch und andere europäische Sprachen (PolnischRussischDeutsch u. a.); der alte Jischuv war sephardisch, der neue hingegen aschkenasisch geprägt.[4]" (Wikipedia)

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Konflikt zwischen Fatah und Hamas

Im Jahr 2004 starb Jassir Arafat und Mahmoud Abbas wurde sein Nachfolger als PLO-Chef und PA-Präsident. Er stand dem gewaltsamen Widerstand ablehnend gegenüber und setzte weiter auf Verhandlungen. Von dieser Haltung konnte Abbas aber nur noch wenige Palästinenser überzeugen und so errang die Hamas bei den Wahlen 2006 die absolute Parlamentsmehrheit. Sie galt vielen Palästinensern als glaubwürdiger und weniger korrupt als PLO und Fatah. Außerdem war die Hamas aufgrund ihrer sozialen und karitativen Einrichtungen sehr gut vernetzt. Ihr wurde auch angerechnet, dass Israel 2005 aus dem Gazastreifen abgezogen war und dort alle jüdischen Siedlungen abgebaut hatte.

Israel und der Westen erkannten den Wahlsieg der Hamas nicht an und suchten die neue Regierung politisch zu isolieren. Da auch die Sicherheitskräfte der PA nicht bereit waren, Weisungen der Hamas zu befolgen, kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen beiden Gruppierungen, die 2007 in einem regelrechten Bürgerkrieg im Gazastreifen gipfelten. Seitdem sind der Gazastreifen und das Westjordanland nicht nur territorial, sondern auch politisch voneinander getrennt, auch wenn es Versuche zu einer Einigung gab und gibt. Während die Hamas den Gazastreifen regiert, ernannte Präsident Abbas im Westjordanland eine eigene Regierung. Für den Friedensprozess bedeutet der Wahlsieg der Hamas, dass unklar ist, wer von nun an legitimiert ist, Friedensverhandlungen aufseiten der Palästinenser zu führen.

Das von der PLO dominierte Westjordanland, das annektierte Ost-Jerusalem und der Hamas-regierte Gazastreifen gelten laut der UNO weiterhin als von Israel besetzte Gebiete. Israel kontrolliert nicht nur deren Grenzen (mit Ausnahme der zwischen Gazastreifen und Ägypten) und Luftraum, es nimmt auch einen Großteil der im Westjordanland gezahlten Steuern und alle Einfuhrzölle ein, die es jedoch im Normalfall an die PA weiterleitet. Da die PA keine eigene Währung besitzt, wird in den besetzten Gebieten mit israelischen Schekel bezahlt. Außerhalb der Ortschaften regiert immer noch das israelische Militär, das Palästinenser kontrollieren und ihnen die Durchfahrt verweigern darf. Im Westjordanland gibt es zahlreiche Umgehungsstraßen, die ausschließlich von Israelis genutzt werden dürfen, was manche Beobachter veranlasst, von einem Apartheidsregime zu sprechen. Israel verteidigt diese Maßnahmen mit seiner Pflicht, israelische Bürger vor Terrorismus zu schützen.

Trotz seiner eingeschränkten Staatlichkeit wird Palästina von mindestens 129 Ländern als Staat anerkannt. In den Vereinten Nationen ist die PA kein Vollmitglied, besitzt seit Ende 2012 jedoch Beobachterstatus. Damit hat sie in der UN-Generalversammlung Rede-, aber kein Stimmrecht. Von rein symbolischer Bedeutung ist der Beschluss der Vereinten Nationen vom September 2015, wonach die Flagge Palästinas, wie die aller anderen Mitgliedsstaaten, vor dem UN-Hauptgebäude in New York gehisst werden darf.

Allerdings scheinen die Palästinenser weiter denn je von ihrem Ziel eines unabhängigen Staates entfernt zu sein. Sogar die israelische Arbeitspartei, die einst die Osloer Verträge aushandelte, steht angesichts der anhaltenden Gewalt gegen Israelis weiteren Verhandlungen mit den Palästinensern ablehnend gegenüber. Auf der palästinensischen Seite drohte Präsident Abbas im September 2015 vor der UN-Generalversammlung mit einer Aufkündigung der Osloer Verträge, da Israel sich nicht an Vereinbarungen halte und den Siedlungsbau fortführe.

Die außerordentliche Beständigkeit des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern erklärt sich auch mit der religiösen Bedeutung, die Juden und Muslime den umstrittenen Gebieten beimessen. Extreme Gruppen beider Seiten sind der Überzeugung, dass es ihre religiöse Pflicht sei, das "Heilige Land" auch mit Gewalt zu verteidigen. Der religiöse Aspekt des israelisch-palästinensischen Konflikts hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten weiter an Bedeutung gewonnen. Besonders dramatisch wirkt sich der Konflikt auf die fast zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens aus, die mehrheitlich Flüchtlinge von 1948 bzw. deren Nachkommen sind. Seit die Hamas dort die Regierungsmacht erlangte, wird das Gebiet von Israel und Ägypten abgeriegelt. Zeitweise konnte die Versorgung der Bewohner mit Lebensmitteln und Treibstoff nur durch ein Tunnelsystem aufrechterhalten werden. Israel versucht, diese Tunnel zu zerstören, weil über sie auch Waffen an die Hamas geliefert werden und aus den Tunneln Attacken auf israelische Dörfer erfolgten.

Gazakriege

Unterdessen intensivierte die Hamas ihre Gewaltaktionen mit regelmäßigem Raketenbeschuss und provozierte das israelische Militär zu massiven Vergeltungsschlägen. Ende 2008 führte dies zu einer militärischen Großoffensive Israels mit dem Ziel, die Hamas zu zerstören. Die intensiven Luftschläge Israels zerstörten aber nicht die Hamas, sondern die Infrastruktur Gazas und lösten im dichtbesiedelten und abgeriegelten Gazastreifen eine humanitäre Katastrophe aus. Ähnlich dramatisch war der Gazakrieg vom Sommer 2014, als Israel, nach massivem Raketenbeschuss durch die Hamas, erneut versuchte, die islamistische Bewegung militärisch zu schwächen. Wieder konnte die Hamas die Angriffe überstehen; Leidtragende war wie schon 2008 die Zivilbevölkerung.

Nach Ansicht der meisten Nahostexperten wird eine friedliche Konfliktbeilegung ohne die Einbeziehung der Hamas nicht möglich sein. Doch Israel sieht die Hamas trotz ihres Wahlerfolgs von 2006 nicht als legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes, sondern als Terrororganisation. Bevor die Hamas Israels Existenzrecht nicht anerkennt und der Gewalt abschwört – so die israelische Sicht – seien Verhandlungen nicht möglich. Hamas-Führer argumentieren, dass eine Anerkennung Israels bestenfalls das Ergebnis, nicht aber Vorbedingung von Verhandlungen sein könne. An die Osloer Verträge, die die PLO im Namen aller Palästinenser ausgehandelt hatte, fühlt sich die Hamas, die erst 1988 gegründet wurde, nicht gebunden.

Neue Formen der Gewalt

Seit Oktober 2015 erlebt Israel eine neuartige Form von palästinensischer Gewalt, die nicht von politischen Parteien, sondern von Einzeltätern ausgeht. Wahllos wurden Menschen auf öffentlichen Plätzen mit Messern angegriffen oder Autos in Menschenmengen gefahren – immer mit der Absicht, so viele Israelis wie möglich zu verletzen oder gar zu töten. Hunderte Israelis sind bereits Opfer dieser Gewaltwelle geworden. Anlass für ein erneutes Auflodern der Gewalt war Israels Entscheidung, nach einem tödlichen Anschlag auf zwei israelische Polizisten vor einem Zugang zum Tempelberg die Zugänge mit Metalldetektoren zu kontrollieren. Dies wurde als Versuch gewertet, Palästinensern den Zutritt zur al-Aqsa-Moschee einzuschränken.

Laut Umfragen unterstützen fast zwei Drittel aller Palästinenser die Gewaltausübung. Der zum Stillstand gekommene Friedensprozess, eine chronische Wirtschaftsflaute, der Legitimationsverlust der PA wegen ausufernder Korruption und ausbleibenden Wahlen, die anhaltende politische Spaltung zwischen PLO und Hamas und die stetig anwachsenden jüdischen Siedlungen haben zur Radikalisierung vieler Palästinenser beigetragen. Israel reagiert auch auf die neuen Gewalttaten mit Härte. Häuser von Attentätern werden zerstört und Stadtviertel, aus denen Attentäter stammten, werden abgeriegelt und mit Ausgangssperren belegt. Diese Kollektivstrafen sollen der Abschreckung dienen, fördern aber aus Sicht vieler Beobachter eher die Wut auf Israel.

Am 30. März 2018 formierte sich eine Protestbewegung im Gazastreifen, um die Forderungen nach dem Rückkehrrecht der dort lebenden Flüchtlinge und ihrer Nachkommen nach Israel zu untermauern. Dieser sogenannte Marsch der Rückkehr bestand aus verschiedenen Protestveranstaltungen an der Grenze zu Israel mit zum Teil Zehntausenden Teilnehmern und sollte bis zum 15. Mai, dem Tag der Nakba, andauern. Die im Gazastreifen herrschende Hamas begrüßte die Proteste. Obwohl ursprünglich als friedlicher zivilgesellschaftlicher Protest gedacht, nutzten radikale Kräfte die Demonstrationszüge für Angriffe auf israelische Soldaten sowie die Grenzanlage. Daraufhin setzten israelische Soldaten Tränengas ein und schossen auf Randalierer und Anstifter. (S.20-23 - Hervorhebungen von Fontanefan)

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