Johann Gottfried Herder (Wikipedia)
Herder: So ward ich Philosoph auf dem Schiffe"[...] so besteigt der 25jährige Johann Gottfried Herder (1744-1803), Lehrer an der Domschule und Pastor in Riga, nach bewilligtem Entlassungsgesuch in jenem Juni 1769 gemeinsam mit seinem Freund Gustav Berens ein niederländisches Segelschiff mit Kurs Loire-Mündung, um sich seiner gelehrten bürgerlichen Existenz zu entledigen und in dem Verlangen, nunmehr und versuchsweise zunächst in Nantes, das ‚wahre Leben‘ zu finden. Er findet es jedoch schneller als gedacht. Denn schon an Bord des Schiffes hat er, wie er es im ‚Journal meiner Reise im Jahr 1769‘ niederschreibt, sein ‚Erweckungserlebnis‘: „Was gibt ein Schiff, daß zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphäre zu denken! Alles gibt hier den Gedanken Flügel und Bewegung und weiten Luftkreis!“
Ein derartiges Bild des Meeres hingegen war rundweg neu. Schon seit der Antike stand dies geheimnisvolle Element, das die Grenze des von Menschen bewohnbaren Raumes bildet, doch in denkbar schlechtem Ruf – als Reich des Bösen, der Willkür der Gewalten, von Schiffbruch, Untergang und Tod, das „schreckliche Meer“ des Kirchenvaters Augustinus, ein Hort grässlicher, schiffs- und menschenverschlingender Ungeheuer, ja des Teufels selbst.
Herder hingegen wird „das flatternde Segel, das immer wankende Schiff, der rauschende Wellenstrom, die fliegende Wolke“ zu jenem Elementarerlebnis, das er zuvor, ein auf dem „Studierstul in einer dumpfen Kammer“ brütendes „Tintenfaß von gelehrter Schriftstellerei“, vergeblich in den Büchern gesucht hatte – das Meer nicht mehr ein bloßer und gefahrvoller Transportweg, sondern Medium der Erkenntnis, des Gedankenflugs, ein Reich der Ideen mit einer Körper wie Seele gleichermaßen befreienden Kraft: „Welch neue Denkart!“ – wenn auch „das Gouvernement“ des „kleinen Staates“ an Bord aufgrund der ständigen Gefährdung des des Schiffes, so beobachtet Herder, durchaus „dem Despotismus nahe“ komme, weil sonst „das ganze Schiff verloren gehe“.Dies Schiff aber sei nicht nur der Sitz eines „Monarchen“, des Kapitäns, sondern auch der des „Wunderbaren“ und der empfindungs- und seelenvollen „Dichtkunst“, in den von den „Schiffsleuten“ erzählten „abentheuerlichen Geschichten“ von „grossen Seehelden und Seeräubern“: „Mit welcher Andacht lassen sich auf dem Schiff Geschichten hören und erzälen?“- inmitten einer sinnenbefreienden, gewaltigen Natur.
„So ward ich Philosoph auf dem Schiffe“, notiert Herder euphorisch in sein ‚Reisejournal‘, im wahrsten Wortsinne ein Aufbruch zu neuen Ufern. Vom Meer „erweckt“ und „beflügelt“ sprudeln die Ideen, Pläne und Projekte, ekstatisch und unfertig niedergeschrieben, gleichwohl das Fundament all seines ferneren Leben und Wirkens und seines Hauptwerkes, den vierbändigen ‚Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit‘ – vom Länder und Völker verbindenden Meer zum universalen Zusammenhang und der Gleichwertigkeit aller Kulturen der Welt, der Entwicklung des Menschengeschlechtes hinauf zum höchsten Ziel allgemeiner Vernunft und Humanität, befördert durch eine neue, an den Realien orientierte schulische Bildung und einer Theologie, die mehr im Buche der Natur denn in den heiligen Schriften zu lesen habe.
Gleichsam befreit durch diese „andre Aussicht“, die ihm binnen sechs Wochen seiner Fahrt Meer, Schiff, Wind und Wolken gewähren, erwachsen dem Reisenden schließlich „politische Seeträume“, Verfassungskonzepte für den „Weg zur allmählichen Freiheit“ der europäischen Staaten und namentlich in seinem „Liefland“ nun „die Barbarei zu zerstören, die Unwißenheit auszurotten, die Cultur und Freiheit auszubreiten“ – und dies immerhin zwanzig Jahre vor der Französischen Revolution. Teil eines meergeborenen Ideenstroms, der Herder an Bord davonreißt („Die Cultur der Erde! Aller Räume! Zeiten! Völker! Kräfte!“), ihn schließlich zu nicht weniger als einem der bedeutendsten Anreger der deutschen und europäischen Geistesgeschichte macht. Sein ‚Reisejournal‘ aber, so der Schriftsteller Arno Schmidt, zur „Magna Charta des ‚Sturm & Drang‘, jener literarischen Bewegung, die sich, gleichsam in Herders Kielwasser, auf die Fahnen geschrieben hatte, die pure Bücher- und Kathederweisheit mit der sinnlichen Wahrnehmung zu vertauschen und sich der Natur und dem ‚Leben‘, dem „Erweitern der Seelenkräfte“, den „lebendigen Kenntnissen“ und dem „Erhabenen“, wie es Herder nennt und auf dem Meere selbst erfahren hatte, hinzugeben – und das auch die frühen Gedichte und Dramen Johann Wolfgang Goethes nachhaltig inspirierte. Und dies ganz unabhängig davon, ob Goethe das ‚Reisejournal‘, das erst sieben Jahre nach Herders Tod, 1810, erstmals in Teilen veröffentlicht wird, zugänglich geworden war. Kannte er doch seinen Weimarer Nachbarn just so, wie dieser sich im ‚Reisejournal‘ selbst beschrieben hatte. [...]"
Schlussabsatz dieses Reisetagebuchs:
"Wie ist ihm zu helfen? Wenig eßen, viel Bewegung und Arbeit: d. i. ohne Allegorie wenig Lesen, viel Ueberdenken mit einer gewißen Stärke und Bündigkeit, und denn Ueben, Anwenden. Wie wenn dazu meine Reisen dienten! Da komme ich in die Nothwendigkeit, nicht immer lesen oder vielmehr lesend schlendern zu können: da muß ich Tagelang ohne Buch bleiben. Da will ichs mir also zum Gesetz machen, nie zu lesen, wenn ich nicht mit ganzer Seele, mit vollem Eifer, mit unzertheilter Aufmerksamkeit lesen kann. Hingegen will ich alsdenn an das, was vor mir liegt, denken, mich von der greulichen Unordnung meiner Natur heilen, entweder zu sehr voraus, oder zu spät zu denken; sondern immer die Gegenwart zu gemessen. Alsdenn wenn ich das Buch ergreife – nicht anders, als mit voller Lust und Begierde, und so daß ich endlich so weit komme, ein Buch auf einmal so lesen zu können, daß ichs ganz und auf ewig weiß; für mich und wo ich gefragt werde, wo ichs anwenden soll, und auf welche Art auch die Anwendung seyn möge. Ein solches Lesen muß Gespräch, halbe Begeisterung werden, oder es wird nichts!" (projekt-gutenberg, erst 1846 veröffentlicht)
Zur Einordnung des Tagebucheintrags von 1769 in Nantes:
Da er keine mehrjährigen Reisen auf Kosten der Freunde machen wollte, kam ihm der Antrag des fürstbischöflich lübischen Hofs zu Eutin, den Erbprinzen von Holstein-Gottorp Peter Friedrich Wilhelm (1754–1823) als Reiseprediger zu begleiten, sehr gelegen. Im Dezember 1769 reiste er über Brüssel, Antwerpen, Amsterdam und Hamburg nach Eutin, wo er Anfang 1770 eintraf. In Hamburg hatte er Gotthold Ephraim Lessing, Johann Joachim Christoph Bode, Johann Bernhard Basedow, Hauptpastor Johann Melchior Goeze und Matthias Claudius kennengelernt. Im Juli verließ er Eutin im Gefolge des Prinzen. Erste Stationen der Reise waren Hannover und Kassel; in Göttingen schloss er Bekanntschaft mit Heinrich Christian Boie.
Noch vor der Abreise hatte ihn ein Ruf von Wilhelm Graf zu Schaumburg-Lippe aus Bückeburg erreicht. Bei einem kurzen Aufenthalt in Darmstadt lernte er den Kriegsrat Johann Heinrich Merck kennen und über ihn Maria Karoline Flachsland, in die er sich verliebte. Sie heirateten schließlich im Jahr 1773. Diese gegenseitige Zuneigung weckte in Herder den Wunsch nach festen Lebensverhältnissen. Er folgte dem Prinzen über Mannheim bis Straßburg, wo es zum ersten Treffen mit dem jungen Johann Wolfgang Goethe kam. Herder erbat vom Eutinischen Hof seine (im Oktober gewährte) Entlassung, nahm die vom Grafen zu Schaumburg-Lippe angebotene Stellung als Hauptprediger der kleinen Residenz Bückeburg und als Konsistorialrat an, blieb aber zunächst wegen seines Augenleidens in Straßburg, wo er sich – erfolglos – von Johann Friedrich Lobstein operieren ließ.
Hier machte er den fünf Jahre jüngeren Goethe auf Homer, Pindar, Ossian, Shakespeare, Hamann, die Volksdichtung und auf das hochgotische Münster aufmerksam. Gemeinsam beschäftigten sie sich mit Laurence Sterne, Oliver Goldsmith, Johann Joachim Winckelmann, Friedrich Gottlieb Klopstock, Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury, Rousseau, Voltaire und Paul Henri Thiry d’Holbach. Im Darmstädter Kreis bemängelte Herder an der Urfassung von Goethes Götz von Berlichingen mit dem Titel Gottfried von Berlichingen mit der Eisernen Hand, sie beruhe auf einem Missverstehen Shakespeares."
Nantes, 1769: Plan eines Universaltagebuchs
"Welch ein Werk über das menschliche Geschlecht! den menschlichen Geist! die Kultur der Erde! aller Räume! Zeiten! Völker! Kräfte! Mischungen! Gestalten! Asiatische Religion! und Chronologie und Polizei und Philosophie! Ägyptische Kunst und Luxus, Philosophie und Polizei! Phönizische Arithmetik und Sprache und Luxus! Griechisches Alles! Römisches Alles! Nordische Religion, Recht, Sitten, Krieg, Ehre! Papistische Zeit, Mönche, Gelehrsamkeit! Nordisch-asiatische Kreuzzieher, Wallfahrer, Ritter! Christliche heidnische Aufweckung der Gelehrsamkeit! / [Frankreich, England, Holland, Deutschland] Chinesische, japanische Politik! Naturlehre einer neuen Welt! Amerikanische Sitten usw. - - Großes Thema: das Menschengeschlecht wird nicht vergehen, bis dass es alles geschehe! Bis der Genius der Erleuchtung die Erde durchzogen! Universalgeschichte der Bildung der Welt!
Wie viel liegt aber vor mir, diesen Schein des Ansehens zu erreichen und der erste Menschenkenner nach meinem Stande, in meiner Provinz zu werden!
Bin ichs geworden, so will ich diesen Pfad nicht verlassen und mir selbst gleichsam ein Journal halten der Menschenkenntnisse, die ich täglich aus meinem Leben, und derer, die ich aus Schriften sammle. Ein solcher Plan wird mich beständig auf einer Art von Reise unter Menschen erhalten Und der Falte zuvorkommen, in die ich mich meine einförmige Lage in einem abgelegenen skytischen Winkel der Erde schlagen könnte! Dazu will ich eine beständige Lektüre der Menschheitschriften, in denen Deutschland jetzt seine Periode anfängt und Frankreich, das ganz Konvention und Blendwerk ist, die seinige verlebt hat, unterhalten. [...]" (S. 645/46)
"Mein Leben ist ein Gang durch gotische Wölbungen oder wenigstens durch eine Allee voll grüner Schatten; die Aussicht ist immer ehrwürdig und erhaben: der Eintritt war eine Art Schauder; so, aber eine andere Verwirrung wirds sein, wenn plötzlich die Allee sich öffnet und ich mich auf dem Freien fühle. Jetzt ists Pflicht, diese Eindrücke so gut zu brauchen, als man kann, Gedanken voll zu wandeln, aber auch die Sonne zu betrachten, die sich durch die Blätter bricht und desto lieblichere Schatten malet, die Wiesen zu betrachten, mit dem Getümmel darauf, aber doch immer im Gange zu bleiben." (S.648)
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