01 Juni 2013

Die Begegnung

Hedwig:
Der Landvogt ist jetzt dort. Bleib weg von Altdorf.
Tell:
Er geht, noch heute.
Hedwig:
Drum lasst ihn erst fort sein.
Gemahn ihn nicht an dich, du weisst, er grollt uns.
Tell:
Mir soll sein böser Wille nicht viel schaden,
Ich tue recht und scheue keinen Feind.
Hedwig:
Die recht tun, eben die hasst er am meisten.
Tell:
Weil er nicht an sie kommen kann – Mich wird
Der Ritter wohl in Frieden lassen, mein ich.
Hedwig:
So, weisst du das?
Tell:
Es ist nicht lange her,
Da ging ich jagen durch die wilden Gründe
Des Schächentals auf menschenleerer Spur,
Und da ich einsam einen Felsensteig
Verfolgte, wo nicht auszuweichen war,
Denn über mir hing schroff die Felswand her,
Und unten rauschte fürchterlich der Schächen,
Die Knaben drängen sich rechts und links an ihn und sehen mit gespannter Neugier an ihm hinauf:
Da kam der Landvogt gegen mich daher,
Er ganz allein mit mir, der auch allein war,
Bloss Mensch zu Mensch und neben uns der Abgrund.
Und als der Herre mein ansichtig ward,
Und mich erkannte, den er kurz zuvor
Um kleiner Ursach willen schwer gebüsst,
Und sah mich mit dem stattlichen Gewehr
Dahergeschritten kommen, da verblasst' er,
Die Knie versagten ihm, ich sah es kommen,
Dass er jetzt an die Felswand würde sinken.
– Da jammerte mich sein, ich trat zu ihm
Bescheidentlich und sprach: »Ich bin's, Herr Landvogt.«
Er aber konnte keinen armen Laut
Aus seinem Munde geben – Mit der Hand nur
Winkt' er mir schweigend, meines Wegs zu gehn,
Da ging ich fort, und sandt ihm sein Gefolge.
Hedwig:
Er hat vor dir gezittert – Wehe dir!
Dass du ihn schwach gesehn, vergibt er nie.
Tell:
Drum meid ich ihn, und er wird mich nicht suchen.
Hedwig:
Bleib heute nur dort weg. Geh lieber jagen.
Tell:
Was fällt dir ein?
Hedwig:
Mich ängstigt's. Bleibe weg.
Tell:
Wie kannst du dich so ohne Ursach quälen? [...]
Schiller: Wilhelm Tell, 3. Aufzug, 1. Szene

Hoch und niedrig treffen aufeinander. Der Hohe in einer Situation der Schwäche, der Niedrige kann helfen oder das Gegenteil tun. Wir wissen, wie es weitergeht und wie die folgenden Begegnungen für die Männer schicksalhaft werden.

Verändern wir nun die Situation ein wenig und lassen statt Mann und Mann Mann und Frau aufeinander treffen:
Er betrat den Steg, jedenfalls um den vollen Anblick des hübschen Landschaftsbildes zu gewinnen; aber er kannte wohl die Heimtücke solcher sorglos über die Bäche geschlagener Holzbrückchen nicht, denn während er die Augen gefesselt auf die Mühle richtete, versank sein Fuß plötzlich und sah wie eingekeilt zwischen dem den äußersten Rand bildenden Fichtenstamm und dem nächsten Brett. Eine Verwünschung auf den Lippen, mühte er sich unter allen Zeichen zorniger Ungeduld, den Fuß aus der Klemme zu ziehen; aber der Steg hatte kein Geländer, und dem Gefangenen stand nicht einmal ein Gehstock zur Verfügung, auf den er zu nachdrücklicher Kraftanwendung den Oberkörper hätte stützen können. Bebend vor Ärger und Erregung hielt er inne und schaute nach irgendeinem Beistand aus, der in dem einsamen Tale sehr fraglich schien. Just in dem Augenblick kam eine weibliche Gestalt um die Ecke der Schneidemühle und schritt geradeswegs auf den Steg zu. Sie trug ein Grasbündel auf dem Kopfe, das sie mit dem gehobenen Arme stützte. Allem Anschein nach war es eine Dienstmagd, ein junges blödes Bauernmädchen, das sich vor dem Fremden auf der Brücke fürchtete; denn ihr anfänglich sehr rascher Gang verlangsamte sich augenscheinlich bei seinem Erblicken. »Heda, spute dich ein wenig, mein Kind!« rief er ihr ungeduldig zu. Nun blieb sie gar wie festgemauert stehen. Er murmelte etwas von bodenloser Bauerndummheit zwischen den Zähnen und machte abermals einen verzweifelten Versuch, sich zu befreien. – Angesichts dieser Anstrengungen mochte es dem Mädchen doch wohl klar werden, daß er kein zu Fürchtender, vielmehr ein Hilfloser sei. Sie besann sich nicht länger und kam herbei. »So – weißt du nun, daß ich kein Menschenfresser bin?« sagte er, ohne sie weiter anzusehen. »Sieh her – du mußt mir aus dem Schraubstock da helfen! Stelle dich hierher, dicht neben mich, aber fest, damit ich meinen Arm auf deine Schulter legen kann.« Sie trat zu ihm, ohne ein Wort zu sagen; aber in dem Augenblick, wo er Miene machte, sich auf sie zu stützen, sah er, wie sie verstohlen in das Grasbündel hinaufgriff und einen dicken Halmbüschel zwischen ihre Schulter und seinen Arm niederzog – lächerlich! – das Bauernmädchen da war eine Prüde! Er hielt inne und zog den Arm zurück. »Möchtest du nicht?« fragte er belustigt. »Nein – eigentlich nicht! Aber der Sägemüller und sein Knecht kommen vor abends nicht heim, und die Müllerin ist schwach und krank.« »Ach so, da müßte ich ja wohl wie der Fuchs im Tellereisen hier verkommen, wenn du dich nicht erbarmtest?« – Er bog sich vor, um unter das weiße Tuch zu blicken, das sie gegen den Sonnenbrand über den Kopf gezogen und unter dem Kinn geknüpft hatte; es ragte weit vor wie ein umfangreicher Hutschirm und beschattete Stirn und Nase bis zur Unsichtbarkeit; die untere Gesichtshälfte verschwand noch mehr in den dicken Falten der verschlungenen Leinenzipfel – hübsch oder häßlich, das blieb unentschieden! »Ja, meine kleine Prüde, da kann ich dir freilich nicht helfen, du wirst dich herablassen müssen,« setzte er endlich mit verhaltenem Lachen hinzu. »Denke, du seiest eine barmherzige Schwester, und tue es um der christlichen Liebe willen.« Sie schwieg und stemmte die Linke auf die Hüfte, um ihrer Haltung mehr Festigkeit zu geben. Sie war ein großes, schlank und schön gebautes Mädchen und stand wie eine Mauer, als er, den Arm auf ihre Schulter pressend, mit einigen heftigen Rucken den Fuß aus der Klemme zu ziehen sich abmühte. Ein leises Ächzen, eine halbverbissene Verwünschung klangen an ihrem Ohr hin, dann sprang er plötzlich befreit mitten auf die Brücke und stampfte wiederholt auf, um sich zu vergewissern, daß das mißhandelte Glied unverletzt geblieben sei. Das Mädchen schritt unterdessen weiter. »Halt – auf ein Wort!« schrie er ihr nach. »Hab' keine Zeit! Der Fisch verdirbt!« antwortete sie, unbeirrt weitergehend. Sie zeigte ihm halb zurückgewendet, daß ihr ein Netz mit einer Forelle am Arme hing.[...]
»Mir scheint, unter dem häßlichen Tuch da steckt ein ganz verteufelt trotziger Kopf,« sagte er. »Wie aber, wenn ich nun ebenso trotzig bin wie du, und deine Hilfe durchaus nicht geschenkt haben will?« »Dann tun Sie wohl, an Ihren Platz auf der Brücke zurückzukehren.« Er lachte laut auf und suchte gespannt abermals einen Blick unter das verhüllende Tuch zu werfen. Das Mädchen hatte Mutterwitz – die »Bauerndummheit« hatte sie sicher so wenig im Gesicht wie auf den Lippen. Sie wandte flink den Kopf nach der anderen Seite, und ihm blieb nur die Musterung ihrer Gestalt. Sie war ärmlich gekleidet. Aus dem verschossenen Kleid waren die Ärmel getrennt und hatten den Hemdärmeln Platz machen müssen – sie fielen lang und schön weiß bis über die Ellbogen herab. Busen und Rücken umhüllte plump ein verwaschenes, hinten geknüpftes Baumwolltuch, und die starren Falten der steifgestärkten blauen Schürze umstanden steif ihre Hüften. Sie war ohne Zweifel eine Dienende. Das Kleid, wenn auch entstellt und zum Arbeitskittel umgeändert, war von städtischem Schnitt und stammte sicher aus den Sachen der Dienstherrin. (E. MarlittAmtsmanns Magd)

Sofort verändert sich das Verhältnis: "Spute dich" und "du mußt mir aus dem Schraubstock da helfen!" ruft der Mann. Nicht er gerät in Verlegenheit, sondern die Frau. Er reagiert "belustigt".  
Er schämt sich nicht seiner Schwäche, sondern will die Situation ausdehnen, zumal er bemerkt hat, dass sie der Frau peinlich war. 
Und jetzt kommt eine Besonderheit des 19. Jahrhunderts hinzu. Ihre Schamhaftigkeit deutet darauf hin, dass sie keine Bauernmagd ist, und das liegt an der besonderen Erziehung bürgerlicher Mädchen, wie Stefan Zweig sie eindrucksvoll beschrieben hat.  
Die Beschreibung der Kleidung weist zusätzlich darauf hin, auch wenn der Verweis auf die "Sachen der Dienstherrin" die Andeutung wieder zurücknimmt. Denn in der Tat kleideten sich Bauernmädchen, die in Dienst standen, oft in die abgelegte Kleidung ihrer "Herrschaften" und versorgten oft die ganze Familie damit. 
Im weiteren Verlauf der Erzählung wird dem Leser freilich nur allzu deutlich, dass hier eine Person aus der Stadt Magddienste tut, und nur die männliche Hauptperson, aus deren Sicht das Ganze geschildert wird, will es nicht wahrhaben. 

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