Du weißt also, denn in eurer Ratsstube mag es häufig aufs Tapet gekommen sein, daß seit Jahren Spanien-Österreich unsere Katholiken besticht, um unser Bündnis und freien Durchzug für seine Kriegsbanden zu erlangen und uns jetzt, aus Verdruß, durch seine Mietlinge nichts erreicht zu haben, dort«, er wies nach Süden, »die Festung Fuentes gegen alle Verträge als eine tägliche Bedrohung an die Schwelle unseres Landes Veltlin gesetzt hat. – Wir können sie morgen besuchen, Heinrich, wenn du willst, und du wirst bei deinen gnädigen Herren in Zürich einen Stein im Brette gewinnen durch die Beschreibung des an Ort und Stelle besichtigten Streitobjektes. – Das war lästig, aber es ging uns nicht ans Leben. Dann aber, als es jedem klar denkenden Kopfe zur Gewißheit wurde, daß die katholischen Mächte zum Vernichtungskriege gegen den deutschen Protestantismus rüsteten...«
»Unbestreitbar«, warf Waser ein.
»... Da wurde es zur Lebensfrage für Spanien, sich die Militärstraße von seinem Mailand ins Tirol durch unser Veltlin, über unser Gebirg, um jeden Preis zu sichern, und zur Lebensfrage für uns, dies um jeden Preis zu verhindern. Unsere spanische Partei mußte zum Nimmerwiedersehen niedergeschmettert werden!«
»Ganz richtig«, sagte der Zürcher, »wenn ihr nur nicht zu so gar gewalttätigen Mitteln gegriffen hättet, wenn nur euer Volksgericht in Thusis weniger form- und regellos und seine Strafen weniger blutig gewesen wären!«
»Bündnerdinge! – Wer bei uns Politik treibt, setzt seinen Kopf ein. Das ist herkömmlich und landesüblich. Übrigens war es nicht so schlimm. Wir wurden durch übertriebene Berichte verleumdet und die beiden Planta zogen an euern Tagsatzungen und in aller Herren Länder herum, uns anzuschwärzen und schlecht zu machen.« –
»Der keiner Partei verfallene und von allen Rechtschaffenen geachtete Fortunatus Juvalt hat nach Zürich geschrieben, ihr wäret unbarmherzig mit ihm umgegangen.« –
»Geschah dem Pedanten recht! In einer kritischen Zeit muß man Partei zu ergreifen wissen. Es heißt: die Lauen will ich aus dem Munde speien.« –
»Er klagte, es wären falsche Zeugen gegen ihn aufgestanden.« –
»Mag sein. Auch kam er ja mit dem Leben davon und wurde nur zu einer Buße von vierhundert Kronen verurteilt wegen zweideutiger Gesinnung.«
»Ich begreife«, fuhr Waser nach einer Pause fort, »daß ihr Pompejus Planta und seinen Bruder Rudolf des Landes verweisen mußtet; aber war es denn nötig, sie wie gemeine Verbrecher zu brandmarken und mit Henkerstrafen zu bedrohen, ohne Rücksicht auf die glänzenden Verdienste ihrer Vorfahren und die tiefen Wurzeln ihrer Stellung im Lande?« –
»Niederträchtige Verräter!« fuhr Jenatsch zornblitzend auf. »Die Schuld unserer ganzen Gefahr und Verstrickung lastet auf ihnen und möge sie zermalmen! Zuerst und vor allen haben sie mit Spanien gezettelt! Kein Wort, Heinrich, zu ihrer Verteidigung!« –
»Hättet ihr Bündner nicht klüger getan, ihnen einige beschränkte bürgerliche Freiheiten zu gewähren?« warf Waser ein. »Nicht bürgerliche nur, auch die politischen Rechte hätte ich ihnen gegeben, Heinrich. Ich bin Demokrat, das weißt du. Aber da ist ein schlimmer Haken. Die Veltliner sind hitzige Katholiken, zusammen mit dem papistischen Drittel unserer Stammlande würden sie Bünden zu einem katholischen Staate machen – und da sei Gott vor!«
[...]
Verletzt durch dies herrische Ungestüm, sagte Waser mit etwas gereizter Stimme und dem Gefühle, jetzt einen wunden Punkt zu treffen: »Und der Erzpriester Nicolaus Rusca? – Er galt allgemein für unschuldig.« –
»Ich glaube, er war es –«, flüsterte Jenatsch, dem sichtlich bei dieser Erinnerung unbehaglich zu Mute ward, und blickte starr vor sich hin in die Dämmerung.
Erstaunt über diese seltsame Aufrichtigkeit schwieg der andere eine Weile. »Er ist auf der Folter mit durchgebissener Zunge gestorben...«, sagte er endlich vorwurfsvoll.
Jenatsch antwortete in kurzen abgerissenen Sätzen: »Ich wollte ihn retten... Wie konnt' ich wissen, daß der Schwächling die ersten Foltergrade nicht überstehen würde... Er hatte persönliche Feinde. Die Aufregung gegen die römischen Pfaffen wollte ihr Opfer haben. Unsere katholischen Untertanen hier im Veltlin mußten eingeschüchtert werden. Es kam, wie geschrieben steht: Besser ist's, daß Einer umkomme, als daß das ganze Volk verderbe.«-
[...]
»Hättet ihr Bündner nicht klüger getan, ihnen einige beschränkte bürgerliche Freiheiten zu gewähren?« warf Waser ein. »Nicht bürgerliche nur, auch die politischen Rechte hätte ich ihnen gegeben, Heinrich. Ich bin Demokrat, das weißt du. Aber da ist ein schlimmer Haken. Die Veltliner sind hitzige Katholiken, zusammen mit dem papistischen Drittel unserer Stammlande würden sie Bünden zu einem katholischen Staate machen – und da sei Gott vor!«
»Du weißt ihn!... Heraus damit!« drang Jenatsch auf ihn ein. »Jürg, du kennst mich! Du weißt, daß ich mir diese Faustrechtmanieren nicht gefallen lasse, ich verbitte mir das«, wehrte Waser mit möglichst kalter Miene ab. Da legte ihm der andere liebkosend den starken Arm um die Schultern und sagte mit zärtlicher Wärme: »Sei offen, Herzenswaserchen! Du verkennst mich! Nicht für meine Person sorg' ich, sondern für mein vielteures Bünden. Wer weiß, vielleicht hängt an deinen Lippen seine Rettung und das Leben von Tausenden!«... »Schweigen ist hier Ehrensache«, versetzte Waser und machte einen Versuch sich der leidenschaftlichen Umarmung zu entziehen. Jetzt fuhr eine düstere Flamme über das Antlitz des Bündners. »Bei Gott«, rief er, den Freund an sich pressend, »sprichst du nicht, so erwürg' ich dich, Waser!« und als der Erschrockene schwieg, griff er nach dem Dolchmesser, womit er Brot geschnitten, und richtete die drohende Spitze desselben gegen die Halskrause des Zürchers. Dieser wäre sicherlich auch jetzt noch standhaft geblieben, denn er war im Innersten empört; aber bei einer unvorsichtigen Bewegung des Sträubens, die er gemacht, hatte der spitze Stahl seinen Hals geritzt und ein paar Blutstropfen rieselten unheimlich warm gegen die Halskrause herunter. »Laß mich, Jürg«, sagte er, leicht erbleichend, »ich will dir etwas zeigen!« Er holte zuerst sein weißes Schnupftuch heraus und wischte sich behutsam das Blut ab; dann zog er sein Taschenbuch hervor, schlug das Blatt mit der Skizze der Juliersäulen auf und legte es auf den Tisch hin vor Jenatsch, der das Büchlein hastig ergriff. Der erste Blick des Bündners auf die Zeichnung traf die von Lucretia zwischen die Juliersäulen geschriebenen Worte und er versank plötzlich in finsteres Nachdenken.[...]
Plötzlich sprang er auf. »Nicht wahr, Waser, meine verwünschte Hitze? Du hattest auf der Schule davon zu leiden und ich bin ihrer noch immer nicht Herr geworden?... Geh zu Bette und verschlafe dein böses Abenteuer! – Morgen in der kühlen Frühe machen wir den Ritt nach Fuentes auf zwei untadeligen Maultieren. Du sollst an mir den leidlichen Gesellen finden von ehedem. Unterwegs läßt sich über manches gemütlich plaudern.«
C.F. Meyer: Jürg Jenatsch, Kapitel 4
Jenatsch entscheidet sich für Kriegsdienst
»Glaubst du's wohl, Herr Zürcher? Während du in deiner löblichen Stadt sittsam zur Predigt gehst und über das Gesangbuch hinweg züchtig nach deinem Jungfräulein ausschaust, betrete ich armer Streiter Gottes niemals die Kanzel ohne fröstelnd den Rücken einzuziehen, aus Furcht es fahre mir das Messer oder die Kugel eines meiner Pfarrkinder zwischen die Schultern! – Aber«, sagte er, nachdem er mit den Männern in die Stube getreten, »nun bin ich auch zum längsten Pfarrer gewesen. Dies Erlebnis«, er zeigte auf das Loch in seinem Filz, »gibt den Ausschlag. Das Maß ist voll. Ich habe von meiner Muhme in Parpan zweihundert Goldgulden geerbt, gerade genug um ein sicheres Gewerbe zu beginnen. – Herunter mit dem Pfarrock!« und er legte Hand an sein geistliches Kleid.
»Warte, Freund!« rief Jenatsch, »das verrichten wir zusammen. Auch meine Maß ist heute voll geworden! Nicht eine feindliche Kugel verjagt mich von der Kanzel, sondern eine freundliche Rede. Der Herzog Heinrich hat recht«, wandte er sich an den erstaunten Waser, »Schwert und Bibel taugen nicht zusammen. Bünden bedarf des Schwertes und ich lege die geistliche Waffe zur Seite, um getrost die weltliche zu ergreifen.« Mit diesen Worten riß er sein Predigergewand ab, langte seinen Raufdegen von der Wand herunter und gürtete sich ihn um den knappen Lederkoller.
C.F. Meyer: Jürg Jenatsch, Kapitel 6
Lucia stellte die italienische eiserne Öllampe auf den Tisch und entfachte, die Dochte in die Höhe ziehend, drei helle Flämmchen, die auf ihr über das Gerät gebeugtes liebliches Antlitz einen roten Widerschein warfen.
Der unschuldige Mund lächelte, denn die junge Veltlinerin war freudig bereit, mit ihrem Manne, auf dessen starken Schutz sie unbedingt baute, aus der Heimat wegzuziehen. Waser, dessen Blick von der warm beleuchteten Erscheinung gefesselt war, betrachtete mit Rührung diesen Ausdruck kindlichen Vertrauens.
Da stürzte plötzlich die Ampel klirrend auf den Boden und verglomm. Ein Schuß war durchs Fenster gefallen. Die Männer sprangen allesamt auf und zugleich sank das junge Weib ohne Laut zusammen. Eine tödliche Kugel hatte die sanfte Lucia in die Brust getroffen.
Schaudernd sah Waser das schöne sterbende Haupt, auf welches das Mondlicht fiel und das Jenatsch, auf den Knien liegend, im Arme hielt. Jürg weinte laut. Während der Pater bemüht war die Lampe wieder anzuzünden, hatte Blasius Alexander seine Büchse ergriffen und schritt ruhig in den mondhellen Garten hinaus.
Er mußte den Mörder nicht lange suchen.
Da kauerte zwischen den Stämmen der Bäume ein langer Mensch, dessen vorgebeugtes Gesicht dunkle darüber fallende Lockenhaare verbargen, den Rosenkranz in der Hand, stöhnend und betend. Neben ihm lag ein noch rauchendes schwerfälliges Pistol.
Ohne weiteres legte Blasius sein Gewehr auf ihn an und streckte ihn mit einem Schusse durch die Schläfen nieder. Dann trat er neben den auf das Angesicht Hingesunkenen, drehte ihn um, betrachtete ihn und murmelte: »Dacht' ich mir's doch – ihr Bruder, der tolle Agostino!« – Eine Weile stand er horchend. Nun schlich er über die Gartenmauer spähend wieder dem Hause zu. Durch die Stille der Nacht drang ein ungewisser Lärm an sein Ohr. »Zwei Vögelchen haben gepfiffen«, sagte er vor sich hin, »bald fliegt uns der ganze Schwarm aufs Dach.«
Jetzt mit einem Male scholl aus dem Dorfe ein gellendes Geschrei und jetzt dröhnte es über ihm, – die Kirchenglocke schlug an und läutete in hastigen Schwüngen Sturm. Alexanders Blick fiel auf den wieder ins Dunkel hinausleuchtenden Schein der verräterischen Lampe, er schlug die dicken Laden des Erdgeschosses zu und schritt ins Haus zurück, in der Absicht es mit den Freunden wie eine Festung bis auf den letzten Mann zu verteidigen; denn schon knallten Schüsse von der Gasse her und Schläge fielen gegen die vordere Haustür. Fausch hatte sie eben verriegelt und stürzte die Bodentreppe hinauf, um durch die Dachluken auszuschauen. Der Prädikant aber lud seine Muskete wieder und stellte sich an das schmale vergitterte Küchenfenster, das nach der Gasse ging, wie hinter eine Schießscharte.
»Die Schurken!« rief er dem Zürcher zu, der eben hastig aus seiner Kammer trat, wo er sein Ränzchen geholt und seinen leichten Reisedegen umgeschnallt hatte, »wir wollen unser Leben teuer verkaufen!«
»Um Gottes willen, Herr Blasius«, warnte dieser, »gedenkt denn Ihr, ein Diener am Wort, auf die Leute zu schießen?«
»Wer nicht hören will, muß fühlen«, war des Bündners kaltblütige Antwort.
Jetzt aber faßte Pancrazi den tapferen Alten mit beiden Armen um den Leib und riß ihn von dem Mauerloche zurück: »Willst du uns alle verderben mit deiner wahnwitzigen Gegenwehr? – Macht, daß ihr von hinnen und in die Berge kommt!« –
»Misericordia!« dröhnte Fauschens Stimme durch die Treppenöffnung herunter. »Sie kommen in hellen Haufen, sie stürmen das Haus des Poretto! Wir sind verloren!«
»Macht, daß ihr fortkommt!»schrie der Pater, während immer heftigere Beilhiebe gegen die Türe schmetterten.
»Auch gut, Kapuziner«, sagte Blasius, der jetzt mit beiden Armen Reisigbündel und Stroh aus der Küche schleppte und mit geübten Handgriffen im Gange zwischen den beiden Haustüren aufschichtete. »Wir heben uns von hinnen über den Bondascagletscher ins Bergell. Fausch, alle Dachluken auf, damit es Luft gibt. Und dann hierher!«
Fausch krabbelte die Treppe herunter, beladen mit allerlei Mundvorrat, den er oben gefunden hatte, und Waser sah sich jetzt nach Jenatsch um.
»Hier scheiden sich die Wege, Pancrazi«, sagte der alte Prädikant und drückte dem Pater die Hand über den Reisigwall hinweg, während das Mittelstück des Haustors unter dem Geheul der Belagerer auseinanderkrachte. »Dein ist die Vordertür. Unsern Rückzug durch die hintere deckt die Flamme.« Und er entzündete den Holzstoß. »Abgezogen, ihr evangelischen Männer!« –
Während das Feuer in aufrechter Lohe durch die luftige Bodenöffnung emporschlug, trat Jenatsch, die Tote im Arme, aus dem Wohnraume in die flackernde Helle.
In seiner Rechten leuchtete das lange Schwert, auf dem linken Arme trug er, als spürte er die Last nicht, seine Tote, deren stilles, sanftes Haupt wie geknickt ihm an der Schulter ruhte. Er wollte sie nicht auf der Mordstätte zurücklassen. Waser konnte trotz der Gefahr der Stunde den Blick nicht verwenden von diesem Nachtbilde sprachlosen Grimms und unversöhnlicher Trauer. Er mußte an einen Engel des Gerichts denken, der eine unschuldige Seele durch die Flammen trägt. Aber es war kein Bote des Lichts, es war ein Engel des Schreckens.
Indes die Bündner durch den Garten nach dem Fuße des Gebirges enteilten, hatte der Pater in der Küche neben Feuer und Rauch standhaft den Augenblick erwartet, wo die Türe in Splitter flog. Jetzt sprang er, das Kruzifix in der vorgestreckten Rechten, zwischen die Pfosten und rief der blutlechzenden Menge entgegen:
»Heilige Mutter Gottes! Wollt ihr mit den Ketzern verbrennen?... Feuer vom Himmel hat sie verzehrt! Löschet! Rettet euer Dorf!«... Und hinter ihm prasselte die lebendige Glut.
Mit einem Wehgeheul, das nichts Menschliches mehr hatte, wichen die Entsetzten zurück und es entstand eine unbeschreibliche Verwirrung. Blitzschnell verbreitete sich die Sage, Sankt Franziskus in eigener Person habe die Ketzer im protestantischen Pfarrhause vernichtet und sei in erhabener Gestalt den Gläubigen erschienen.
C.F. Meyer: Jürg Jenatsch, Kapitel 6
Unmittelbar nach der Schlächterei besetzten die Spanier, von Fuentes her eindringend, mit Heeresmacht das ganze Veltlin. Die beiden Planta führten die Österreicher ins Münsterthal und zwei Versuche, die verlorenen Landschaften wieder zu gewinnen, blieben fruchtlos. Im Innern von Bünden wuchs täglich die Wut gegen die landesverräterischen Anstifter des Veltlinermordes, besonders gegen den verfemten Pompejus Planta, der in der allgemeinen Verwirrung sich seines festen Hauses Riedberg wieder bemächtigt hatte.
C.F. Meyer: Jürg Jenatsch, Kapitel 7
Jürg Jenatschs Ruf
Jürg Jenatschs Ruf
Auf den lärmenden Zunftstuben der Handwerker galt damals Jürg Jenatsch als ein volkstümlicher Held, in den landesväterlichen diplomatisch gefärbten Kreisen als ein gewissenloser, blutbefleckter Abenteurer. Aber Rudolf Wertmüller hatte seiner Heimat frühzeitig den Rücken gewandt, um einen militärischen Bildungsgang anzutreten, der den Begünstigten schon mit sechzehn Jahren in das Kriegsgefolge und die persönliche Nähe des edeln Herzogs Heinrich geführt hatte.
Noch war ihm gegenwärtig, wie einst die unglaubliche Verwegenheit und Zähigkeit, welche Jenatsch in den Volkskämpfen gegen die Spanier bewiesen, seine junge Phantasie beschäftigte. Doch aus noch früherer Zeit erinnerte er sich auch, daß der wilde Anteil des protestantischen Prädikanten an den ruchlosen demokratischen Strafgerichten mit ihren Erpressungen und politischen Morden in seiner Familie Abscheu erregt hatte, und daß es ihm besondern Spaß gemacht, als sein Präzeptor darüber wehklagend die Hände gen Himmel erhob.
Daneben schwebte ihm ein anderes Erlebnis seiner Kinderjahre mit frischester Deutlichkeit vor. Am städtischen Jahrmarkts stand er einst mitten in der gespannt lauschenden Volksmenge vor dem Schauergemälde eines Bänkelsängers und lauschte den endlosen Versen einer tragischen Mordgeschichte. Die ruckweis wandernde Gerte des Leiermannes wies auf die Szenen einer mit den grellsten Farben bemalten Tafel. Auf dem Mittelstück umstanden die sogenannten drei bündnerischen Telle ihr nur mit dem Hemde bekleidetes, aus einem Schlot heruntergerissenes Opfer, den unglücklichen Herrn Pompejus. Einer von ihnen schwang ein langgestieltes Fleischerbeil – das war der berühmte Pfarrer Jenatsch! – Als dann der aufgeregte Knabe beim Abendbrot vor seinem Stiefvater, dem Obersten Schmid, von den neuen Tellen erzählte, verbot ihm dieser zornrot, der blutdürstigen Canaillen in seiner Gegenwart Erwähnung zu tun.
Jetzt schaute er dieser Persönlichkeit von bestrittenem Werte Aug' in Auge und sie war anders, als sie in seiner Vorstellung gelebt hatte. Statt der rohen und zweideutigen Erscheinung eines geistlichen Demagogen saß ein weltgewandter Mann mit der Sicherheit und Freiheit des Kavaliers in Wort und Bewegung vor ihm. – Von der ungewöhnlichen militärischen Begabung des ehemaligen Pfarrers hatte ihn der im Namen des Herzogs mit diesem geführte Briefwechsel genügend überzeugt, aber was ihn überraschend berührte, war ein gewisser Zauber der Anmut, der die kühnen Zügel und warmen Worte des Bündners verschönt hatte, als dieser mit dem Herzog sprach. – Der nichts weniger als arglose Zürcher fragte sich, ob diese Herzlichkeit echt sei. Ja, sie sprudelte voll und natürlich, aber es war ihm nicht entgangen, daß die unausbleibliche Wirkung dieses warmen Eindringens auf den Herzog eine gewollte, vielleicht im voraus berechnete war.
C.F. Meyer: Jürg Jenatsch, Buch 2, Kapitel 4
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