Die Frauen des Städtchens haben der alleinstehenden Tagelöhnerin Annedore, meist Heiterethei genannt, seit Wochen einzureden versucht, der starke Zimmermannsmeister Holders-Fritz lauere ihr auf und sie dürfe nicht mehr unbegleitet bis in die Nacht hinein ihre Botengänge unternehmen. Doch die will sich keine Angst machen lassen, ist wieder mit ihrem Schubkarren unterwegs und bringt bei einbrechender Dunkelheit eine Fuhre Eisenstangen den weiten Weg zurück, wo sie durch das Ulrichsholz muss.
»Also ist's doch? Also doch lauert er mir auf? Und was hab' ich ihm getan? Warum gerad er?« Alle die Warnungen, Träume und Vorzeichen, alle Schreckgeschichten der letzten Nacht wachsen aus dem Boden vor ihr auf wie riesengroße Schattengestalten und dräuen sie zurück. Sie sieht die Haube der Valtinessin, aber sie kann nicht lachen. Dazu die Reden der Bäuerin vorhin im Ulrichsholz. Sie sieht das Kind, das sie weinend zurückhalten will. Sie sucht Hilfe in ihrem Innern und findet nur den Gedanken: »Ein Weib ist doch kein Mann!« Sie weiß, sie wird sich des Gedankens schämen im nächsten Augenblicke. Aber sie fühlt, jetzt ist er ihr Herr. Sie biegt schon mit den Augen in den Weg ein, den das Gretle ihr geraten hat. Aber wie die Füße folgen wollen, sieht sie, der Schneider kommt den Weg her; sie müßte ihm begegnen. Da schlägt ihr die Scham wie eine Flamme ins Gesicht. Sie hört seinen, des Schmiedes und des Webers Gelächter und Spott schon in Gedanken. Unwillkürlich tut sie einige Schritte weiter dem Verfolger entgegen. Über die Mündung des anderen Weges einmal hinaus, kann sie nicht mehr zurück. Das würde den Spott erst gewiß machen. Aber ist's nicht besser, sterben, wenn's sein muß, denn leben, der nimmer endenden Furcht und Selbstverachtung preisgegeben? oder drinnen in der Stube dem Hungertod doch eine gewisse Beute? Denn die Warner bringen Rat dahin, aber kein Brot. – Als ob man sterben müßte! als ob es ausgemacht wäre, der Holders-Fritz sei stärker als sie! Und wenn er's wäre! Und trotz seinem Beil! Naht sie ihm, dicht am Bache hinfahrend, von den Erlen versteckt, kann er sie nicht sehen, das Beil nicht heben, bis sie an ihm ist. Im weichen Grase rollt der Karren nicht, klirrt das Eisen nicht. So mit dem Vorteile des ungeahnten Angriffs, mit ihrer ganzen Kraft, durch Verzweiflung des Augenblicks verdreifacht, Gedanke und Ausführung eins! Da müßte es doch – – – Ja, und es geht auch nicht mit unrechten Dingen zu. Der Verfolger liegt im Bache, und die Heiterethei ist schon weit über den Steg hinaus, ehe es ihr gelingt, den Karren und sich selber anzuhalten. Wir müssen nun einen Rückblick auf das Treiben des wilden Fritz werfen seit dem Gründer Markt, um zu erfahren, ob er sein trauriges Schicksal verdient hat, und ob er's um die Heiterethei verdient hat, durch welche es ihm geworden.Der hat sich die Vorwürfe der Heiterethei, die sie ihm vor seinen Freunden in aller Öffentlichkeit gemacht hat, zu Herzen genommen.
Otto Ludwig: Die Heiterethei und ihr Widerspiel, Kapitel 5
Es wäre schwer zu sagen, auf wen der Fritz eigentlich zornig war. Er war's auf die Heiterethei, auf die Kameraden, auf die Zimmergesellen, auf die ganze Stadt, auf sich selber; er war zornig auf das alte Leben, das ihn anekelte, aber auch auf das neue, welches er beginnen mußte, wollte er jenes lassen. Er schämte sich vor sich und aller Welt, zu bleiben, wie er war; aber er schämte sich auch vor sich und aller Welt, anders zu werden. [...]
So geht es Tag für Tag. Die Ordnung und Mäßigkeit im Genuß von Speise und Getränk, der Schlaf vor Mitternacht, die wachsende Lust an der Arbeit, der regelmäßige Fleiß geben ihm eine Frische und Freudigkeit, die er noch nie gekannt. [...]
Ich wär' doch nicht anders worden ohne die Heiterethei. Weil ich ihr hab' folgen müssen, das hat mich wild auf sie gemacht. Und so wild ich auf sie war, ich hab' doch nicht anders können. Wenn ich ihr das selber könnt' sagen, es war' doch ein ganz ander Ding. Und sie tät' sich drüber freuen.« [...]
»Aber das ist sie endlich doch, was dort gefahren kommt? Ja, jetzt im Mondschein. Wie das kurios aussieht. Alles drum 'rum ist finster, und nur das Annedorle und ihr Schiebkarren sind hell. Es ist ordentlich, als wenn sie selber leuchten tät. Und noch ein Arm daneben, und es ist, als deutet der Arm nach mir. Wem der Arm muß gehören? Das wär verwünscht, wär sie wieder nicht allein. Jetzt – ja nu ist's weg. Nu ist's dort wieder so finster wie überall sonst. Aber nunmehr müßt' ich sie doch den Weg sehn kommen daher, wenn auch nicht mehr so deutlich wie vorhin. Oder den dort, wo nach der Herrenmühl' geht. Und klirren hört man auch nix mehr. Die Bauersfrau hat so wunderlich getan. Hat sie's dem Annedorle doch gesagt, daß sie mir ist begegnet und ich hab nach ihr gefragt? und weicht die mir doch mit Fleiß aus? und hat mich da auf dem Steg gesehn? Aber hernachen müßt' sie umgewandt sein und wieder zurück. Oder hab' ich mir's bloß eingebild't, daß ich sie sah? Die Leut' reden von Ahnungen, wie sie's heißen. Soll ich sie nicht kriegen? Dann geh ich übermorgen nach Amerika. Jetzt war's doch, als klirrt was im Gras unter den Erlen her? – Oder – am allerliebsten wär' mir's hernachen, ich stürb', und lieber heint als morgen. Hernachen wollt' ich, es wär' eine Ahnung gewest, und die mich hätt' bedeutet. Da unten das dunkle Wasser unter
mir . . .«
Der arme Holders-Fritz! Er hat sie wirklich gesehen; aber er darf's immer für eine Ahnung nehmen, die ihn bedeutet. Denn nun klirrt es wirklich und laut und hart an ihm auf dem Steg. Er will sich nach dem Klirren wenden, aber ein gewaltiger Stoß reißt ihn um. Er fühlt keinen Halt mehr unter den Füßen. Im Fallen wirkt die Bewegung noch, mit der er sich wenden wollte. Einen Augenblick sieht er das bleiche Gesicht der Heiterethei über sich; so wild und bleich, so rollend die braunen Augen, so gepreßt die vollen Lippen; es ist immer noch schön. So lange hört er ihr schnelles, tiefes, lautes Atmen.
Jetzt spritzt das Wasser um ihn auf. An allen Gliedern faßt es ihn wie mit kalten Händen an. Mit dem ganzen Leibe aufschlagend, fühlt er wieder festen Boden unter sich; ein Schmerz zuckt vom ersten Finger der rechten Hand nach seinem Herzen zu. Das tut noch ein paar wilde Schläge. In seinen Ohren braust es, als läg er unterm Walkmüllerwehr. Um seine Brust ringelt sich pressend eine ungeheuere grüne Schlange; über seine Augen legt sich ein dunkelrotes Tuch. Er schnappt nach Luft, und zieht ein kaltes, schweres nasses, gurgelndes Ding durch den Mund hinein in die tiefste Brust, das er nicht wieder herauszustoßen vermag. Das rote Tuch wird schwarz mit durcheinander wimmelnden gelben Sternen. Der Boden unter seinem Kopfe versinkt, der Kopf nach in eine endlose Tiefe. Und diese eigene Empfindung, die schon in Bewußtlosigkeit übergeht, weiß er, ist die Empfindung, die jeder Mensch kennen lernt, aber keiner mehr als einmal. Nicht lange, und keine Blase mehr spritzt auf über dem Liegenden. Der Wasserspiegel schließt sich und zeigt gleichmütig der stillen Nacht ihr Bild.
Otto Ludwig: Die Heiterethei und ihr Widerspiel, Kapitel 6
»Aufgepaßt hat er dem Annedorle schon. Aber nur, weil er sie hat wollen freien und hat's nur vor den Leuten nicht wollen tun.« [...]
Ihr war, als hätte sie, selbst in der Aufregung, die sie zu der wilden Tat getrieben, im Innersten ihres Herzens gewußt, was der Fritz eigentlich von ihr wollte. Um so entschuldigungsloser und schwärzer stand nun die wilde Tat vor ihr. [...]
Otto Ludwig: Die Heiterethei und ihr Widerspiel, Kapitel 8
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