Dieser Weg der Gefahr und Schande war das Bündnis mit Spanien. Jene Macht, die er von Kindheit an mit der ganzen Kraft seines jungen Herzens gehaßt, die er dann in vermessenem Jugendmute mit fast wahnsinniger, vor keinem Greuel zurückbebender Leidenschaft bekämpft, welcher er sein ganzes Leben hindurch als Todfeind gegenüber gestanden und deren eigennützige und wortbrüchige Politik er auch heute noch tief verachtete – sie bot ihm die Hand. Er konnte diese Hand ergreifen – nicht in Treu und Glauben – wohl aber um von ihr die französische Schlinge lösen zu lassen und sie dann zurückzustoßen. [...]
Jetzt entschloß er sich dazu. Langsam wandelte er auf der dunkeln Heerstraße nach Thusis zurück. Es ward ihm schwer zu brechen mit der ganzen Vergangenheit. Er wußte, daß er sich selbst in seinen Lebenstiefen damit zerbrach. Dort jenseits des Rheines im Domleschg lag das Dörfchen Scharans, dessen armer Pfarrer, sein gottesfürchtiger Vater, in Geradheit und Einfalt ihn aufgezogen und ihn zur Treue im protestantischen Glauben und zum Hasse der spanischen Verführung ermahnt hatte. Dort unfern davon stand der Turm von Riedberg, wo er den Vater Lucretias, der seiner Kindheit wohlgewollt, als willkürlicher Blutrichter nächtlicher Weile überfallen und grausam erschlagen hatte, das »Giorgio guardati« des treuen Mädchens schlecht vergeltend. [...]
Meyer: Jürg Jenatsch, 3.Buch, Kapitel 5
Meyer: Jürg Jenatsch, 3.Buch, Kapitel 5
Ich weiß es jetzt, – gestand sie sich – dieser Freund von jedermann ist nicht der Jürg mehr, den ich liebte, – nicht der scheu verwegene Knabe mit den dunkeln verschwiegenen Augen, der mein Beschützer war, – nicht der zornig Dahinbrausende, der mein Glück wie ein die Ufer zerreißender Wildbach in Trümmer warf, – nicht der Mann, gegen den ich in meinen Racheträumen die Hand erhob, – nicht der Traute, den ich nach Jahren des Jammers auf dem Bernhardin wieder zu erkennen glaubte und in die Arme schloß, – nein! es ist ein weltgewandter Höfling, ein berechnender Staatsmann aus ihm geworden... Er will sich von mir scheiden und loskaufen, darum gab er mir mein Riedberg wieder. Er scheut mich wie einen Vorwurf, er flieht mein Antlitz wie das einer Toten! – Und sie vergaß, daß sie selbst ihn drohend beschworen, die Schwelle ihres Hauses nimmermehr zu überschreiten. [...] 6. Kapitel
Der Oberst Jenatsch, hinter dessen entschlossenen Schritten die andern nicht ungern zurückblieben, näherte sich barhaupt mit starren blassen Zügen dem Herzog, der stolz und fragend vor ihm stand. Seine Stimme klang ruhig und seltsam kalt, als er zu reden anhob: »Erlauchter Herr, Ihr seid in unserer Gewalt. Unser Aufstand ist Gegenwehr und gilt nicht Euch, sondern der Krone Frankreich. Was Euch dunkel blieb, ist uns klar geworden: Der Kardinal will den von Euch mit uns vereinbarten Vertrag nicht unterzeichnen. Er will uns festhalten und im Tauschhandel des in Aussicht stehenden allgemeinen Friedensschlusses als französische Ware verschachern. Das Pfand Eurer reinen Ehre, das er uns in die Hände gab, würde er leicht verscherzen. So hat uns der König von Frankreich und sein Kardinal dazu getrieben, bei unserm Erbfeinde billigere Hilfe zu suchen, die uns auch gewährt wurde. Gott weiß, was es uns gekostet hat unsere Freiheit unter Spaniens Schild zu stellen. – Was wir von Euch verlangen und warum Ihr es uns gewähren werdet, das kann ich Euch mit wenigen Worten darlegen. Vor Eurer Rheinschanze strömt Bündens ganzer Landsturm zusammen. Die Regimenter rücken in Chur ein. Ich habe sie ihres Gehorsams gegen Euch entbunden und den Eid ihrer Treue den Häuptern unserer drei Bünde schwören lassen. Die Österreicher stehen am Luziensteig, die Spanier bei der Festung Fuentes, beide mit Übermacht. Auf ein Wort von mir überschreiten sie die Grenze. – Seht hier meine spanisch-österreichischen vom Kaiser selbst und vom Gubernatore Serbelloni unterzeichneten Vollmachten!« – und er entfaltete zwei Papiere. »Lecques kann Euch nicht befreien, denn bei seiner ersten Bewegung gegen die Alpenpässe rücken die Spanier von Fuentes her ins Veltlin. – Ihr seht, Euer Heer ist von allen Seiten eingeklemmt; nur Ihr könnt es Euerm Könige retten, und Ihr tut es, wenn Ihr dieses Übereinkommen unterzeichnet.« – Jenatsch nahm ein drittes Papier aus der Hand des Bürgermeisters von Chur und las:
»Die Rheinschanze und das Veltlin werden von den Franzosen geräumt.
Sie verlassen Bünden als Freunde und in kürzester Frist.
Der Herzog Heinrich Rohan, Pair von Frankreich und Generallieutenant der französischen Armee, bleibt als unser Bürger in Chur bis zur Vollziehung dieses seines mit uns geschlossenen Übereinkommens.
Und dies Übereinkommen verspricht der erlauchte Herzog bei seiner Ehre auch dann in Treuen zu vollziehen, wenn Gegenbefehl vom französischen Hofe einträfe. [...]
»Ihr reizt mich nicht«, sagte der andere finster. »Ich bin des Blutes satt und an Eurer persönlichen Achtung liegt mir nicht das mindeste. – Was ich für mein Land tue, versteht ihr nicht. – Geht und sagt dem Herzog Bernhard«, schloß Jenatsch und schritt, das Haupt übermütig zurückwerfend, dem Eingange zu, »er möge sich vorsehn, daß er sein Elsaß so glücklich den Krallen Frankreichs entwinde wie ich mein Bünden [...] Kapitel 8
Während die Ereignisse des Frühjahrs die Stadt Chur und das ganze Land in aufgeregte Spannung versetzten, blieb Lucretia Planta von denselben scheinbar unberührt. [...] Lucretias Fahrt nach Mailand im vergangenen Jahre war ihr schwer geworden, aber sie hatte das von Jenatsch ihr vorgehaltene Ziel standhaft verfolgt und durch die Festigkeit ihres Willens auch erreicht. [...]
er ahnte nicht, daß dabei eine steigende Verachtung der niedern Schliche und geheimen Mittel der Politik sich Lucretias bemächtigte. Auch Georg Jenatsch erschien ihr in einem andern Lichte; ihr Vertrauen auf seine reine Vaterlandsliebe wurde von dem allgemeinen Ekel, den sie empfand, angefressen und ihr Glaube an die Einheit seines Wesens erschüttert, ohne daß sie augenblicklich sich ganz bewußt wurde, wie durch diese Zweifel ihr Verhältnis zu ihm sich innerlich trübe. Was sie aufrecht hielt, war ihre Treue an sich selbst. Sie hatte versprochen, von den ihr übergebenen fünf Bedingungen in keiner Weise abzuweichen und sich keinen Punkt davon abmarkten zu lassen. Dabei blieb sie unerschütterlich. Das Andenken ihres Vaters verließ sie niemals. Sie stärkte sich in Momenten der Erschöpfung an seinem geistigen Anblicke, und je ausschließender sie in der Erinnerung mit ihm verkehrte, desto lebendiger ward sie sich bewußt, daß sie in seinem Geiste handle, wenn sie zum Abschlusse des von Jenatsch entworfenen Vertrages mitwirke. Nachdem sie als williges und treues Werkzeug ihre Aufgabe erfüllt und mit den von Spanien gewährten und unterzeichneten Bedingungen das Gebirge wieder überschritten hatte, kehrte sie in die Stille von Riedberg zurück und wartete dort, bis ihr die Schriften, die sie verwahrte, – durch die Vermittelung des Klosters Cazis, vermutete sie – abverlangt würden. [...]
So war der März gekommen. Da erschien eines Abends bei einbrechender Nacht Jenatsch selbst wieder auf Riedberg. Ein Brief des Paters Pancraz hatte ihm aus Mailand gemeldet, daß Lucretia abgereist sei und die ihr gewährten spanischen Vollmachten auf ihrem Schlosse bewahre und hüte. Nun kam er, um die von Serbelloni unterzeichneten Papiere aus ihrer Hand zu empfangen. Als er eintrat, pochte Lucretias Herz mit schweren Schlägen, aber vor jähem Schrecken mehr als vor Freude. Noch einmal war eine Verwandlung mit ihm vorgegangen! Was heute aus seinen Augen blitzte, war nicht mehr der jugendliche Übermut von früher, war nicht die vor keinem Hindernisse zurückweichende Sicherheit, mit welcher er, seit sie ihn wieder kannte, ihr entgegen getreten, es war etwas Maßloses in seinem Wesen, eine gereizte Gewaltsamkeit in seiner Stimme und Haltung, als hätte eine übermenschliche Kraftanstrengung ihn aus dem Geleise und über die letzten seiner Natur gesetzten Marksteine hinausgeworfen. Eine wilde Freude flammte über sein Antlitz, als er endlich die Schriften hielt und durchflog. Er wollte in seinem Triumphe die Kniee seiner Botin umfassen; aber Lucretia trat stolz und zitternd zurück. Da streckte er die Hand gen Himmel und rief in herausforderndem Jubel: »Ich schwöre es, Lucretia, wenn das gelingt, soll mir fortan nichts unmöglich sein!... Müßt' ich auch das Blut deines Vaters durchschreiten – müßt' ich dem Racheengel das Schwert aus den Händen reißen, um dich zu besitzen, du längst – du immer Begehrte!« Lucretia faßte seine Hand und trat mit ihm durch eine schmale Pforte in einen gewölbten Nebenraum, ein enges Gelaß, dessen Rückwand durch einen ungebrauchten altertümlichen Kamin ganz gefüllt und durch ein grob darauf gezeichnetes Kreuz verunziert war. »Auf Riedberg wird keine Hochzeit gefeiert!« sagte sie und flüchtete sich dann, das Antlitz mit den Händen bedeckend, in ihr innerstes Gemach. [...]
Als wenige Wochen später der Verrat an Herzog Rohan und die Befreiung Bündens eine Tatsache wurde, von der das ganze Land erscholl, beschlich Lucretia in ihrer Einsamkeit das bange Gefühl, als sei sie durch ihre verborgene Mithilfe mit Georg Jenatsch auf immer und ewig verbunden, teilhaftig seiner rettenden Tat, teilhaftig auch seiner Schuld. Unauflöslich war sie mit ihm vereinigt im Augenblicke, da ihr Herz vor ihm zu erschrecken begann und sie, um in ihrem Gemüte eine Schutzwehr gegen ihn aufzurichten, sich täglich zurückrief, daß die Pflicht ihres Lebens noch nicht erfüllt und der Geist ihres Vaters durch die ihm gebührende Blutsühne noch nicht geehrt sei. [...]
Kapitel 11
Kapitel 11
»Will Eure Gnade mir die Hand zwingen? Ich bin kein Herzog Rohan! Und nicht in Chur sind wir, sondern in Mailand.« Das war ein unzeitiges Wort. Der unvermutet ausgesprochene, dem Bündner einst so teure Name des von ihm Verratenen verwundete ihn wie eine persönliche Beleidigung, oder es starrte ihn das Medusenhaupt seiner unblutigen, aber schlimmsten Tat an. Er erbleichte und verlor die Fassung. »Der Paß ist eine Unmöglichkeit!« schrie er den Herzog an. »Macht ein Ende und unterzeichnet!« »Sennor«, sagte dieser kalt, »ich muß mich fragen, wen ich vor mir habe. Eure Gnade unterscheidet sich von ihren Landsleuten nicht zu ihrem Vorteil. Ich habe oft mit Bündnern, auch von der protestantischen Partei, unterhandelt und erfand sie stets als weise, mäßige, tugendhafte Männer, die sich und die Stellung ihres kleinen Landes niemals mißkannten. – Wie Eure Gnade sich eben ausdrückte, spricht nur ein Welteroberer wie Alexander, oder – ein Rasender.« Georg Jenatsch war von seinem Sitze aufgesprungen. Mit brennenden Augen und geisterhaft verfärbtem Haupte stand er vor dem Herzog. »Wen Eure Herrlichkeit vor sich hat?... Keinen weisen tugendhaften Mann, nein, wahrhaftig nicht!... Sondern einen Menschen, der sein Vaterland ganz und völlig retten wird – koste es, was es wolle! Das ist mein Schicksal und ich will es erfüllen. Hört mich, Herzog: Als ich Bünden hieherkommend verließ, strömte im Dorfe Splügen das Volk zusammen und flehte mich unter Tränen an, ihm den Frieden heimzubringen. Und ›mich jammerte des Volkes‹, wie geschrieben steht. Da kam ein alter Prädikant mit langem weißen Haar und Barte hergewankt – er glich meinem Vater, Herzog, – und warnte mich mit beweglichen Worten vor der spanischen Hinterlist. Ich aber hob mich in den Bügeln, reckte vor allem Volke die drei Eidfinger aus und schwur, daß es durch das Gebirge tönte: ›Ich rette Bünden, so wahr mir Gott helfe! Und müßte ich Spanien und Frankreich wie zwei Rüden aneinander hetzen, bis sie sich zerfleischt haben!‹... Und... Herrlichkeit...«, sagte er sich besinnend, »so werde ich tun, wenn Ihr nicht heute, nicht in dieser Stunde meinen Vertrag unterzeichnet!« [...]
Und wieder erhob Georg Jenatsch die drei Schwurfinger. »So wahr diese Hand«, rief er, und sein Dämon trieb ihn, »den Pompejus Planta erschlagen und dieser Mund den guten Herzog betrogen hat!« Serbelloni [der spanische General Giovanni Serbelloni] betrachtete den Maßlosen aufmerksam. Dieser Ausbruch ungezähmter Wildheit hätte den Bündner in seinen Augen auf die Stufe eines Ungefürchteten hinuntergesetzt, wenn ihm Georg Jenatsch im Laufe der Unterhandlung nicht tägliche Proben eines durchdringenden Verstandes und einer wildgewachsenen, aber der seinigen mindestens ebenbürtigen Staatskunst gegeben hätte. So erregte diese überreizte Tatkraft eher seine Besorgnis und im Interesse seiner eigenen Stellung fing er an zu wünschen, diesen auf eine gefährliche Weise außerhalb aller Regeln Fechtenden ohne Schaden loszuwerden. [...]
»Die französische Eminenz [Richelieu] ist ein großer Geist«, sagte er [Jenatsch], »und wird, was sie Persönliches gegen mich hat, um der Dinge willen verwinden. Sie wird mir bereitwillig den Rücken decken, wenn ich mein Bünden wieder in den französischen Interessenkreis ziehe. Anderseits soll es an mir nicht fehlen. Die Festungen des Veltlins sind schon in meiner Hand. In wenig Tagen ist unser ganzes, noch nicht abgerüstetes Heer hinübergeworfen und ich lasse die stets bereitwilligen Veltliner ihren bündnerischen Patronen schwören, ohne mich um irgend einen Einspruch so viel zu kümmern!« Und er blies leicht über die Fläche seiner Hand hin. [...]
»Dieser Mensch ist mir zu nahe getreten«, sprach er [Serbelloni] zu sich. »Er darf nicht leben bleiben.« [...]
3. Buch, Kapitel 12
3. Buch, Kapitel 12
Lucretia gab den Zweck ihrer Reise nach Mailand ruhig und stolz zu. Da warf der Freche jede Scheu von sich und bezichtigte sie vertraulicher Abhängigkeit von dem Obersten. »Es ist Zeit mit ihm ein Ende zu machen«, schrie er ihr zu. »An Betrogenen und Beschimpften, die wie ich nach diesem gemeinen Blute dürsten, ist heute Überfluß, seiner Feinde sind in Spanien so viel wie in Frankreich! Du aber, Lucretia, hast die heilige Pflicht der Rache schmählich vergessen und bist deines Vaters ganz unwürdig geworden! – Weg mit ihm, lieber heute als morgen! Der Mörder des Pompejus Planta soll sich der Gunst seiner Tochter nicht berühmen! Mir fällt es zu, die Ehre des Hauses wieder herzustellen. Sobald der Verräter auf dem Rücken liegt, werde ich dich als mein Weib heimführen. Ich lasse die Güter der Planta nicht von unberechtigten Händen verzetteln.« [...]
Aber sie erschrak vor dem Zwiespalte ihrer eigenen Seele, vor ihrer Ohnmacht, die alte Rache zu hegen, und vor ihrer verzehrenden Eifersucht auf jeden, der in ihr Amt eintreten konnte. So beschloß sie ein Ende zu machen und der Welt abzusagen. Jenseits der Klosterschwelle war sie sicher. Sie verzichtete ja dort auf all ihren Besitz, opferte ihre stolze, immer bekämpfte Liebe, verzichtete auf die zu lange wie ein Heiligtum bewahrte Rache. – Jenseits der Klosterschwelle konnte weder Jürgs frevelhafte Werbung noch Rudolfs ekler Eigennutz sie mehr erreichen. [...]
Im Hofe hörte sie Pferdegetrappel und das Knarren des sich öffnenden Tors. Sie eilte ans Fenster und sah in der stürmischen Morgendämmerung zwei Pferde wegtraben. Das eine war der Schimmel ihres Vetters. Erstaunt ließ sie Lucas rufen. Er war nicht mehr auf dem Schlosse, sondern mit Herrn Rudolf nach Chur verritten, dessen Gefolge, wie ihr gesagt wurde, Befehl erhalten hatte, später aufzubrechen, um zur Mittagszeit mit dem Herrn in der Schenke zum staubigen Hüttlein bei Chur zusammenzutreffen. Daß der treue Lucas nach dem Auftritte von gestern mit Rudolf Planta weggeritten, daß er sie ohne Urlaub verlassen, was er noch nie getan, das war Lucretia unbegreiflich und erfüllte sie mit schlimmen Ahnungen. Sie betrat die Kammer des Alten und öffnete eine hölzerne Truhe, worin er mit eigensinniger Verehrung das Beil aufbewahrte, das ihren Vater erschlagen hatte und das sie zum schmerzlichen Ärger des greisen Knechtes nie hatte sehen wollen. Die Truhe war leer. Lucretia erbleichte. Die mit dem Blute ihres Vaters benetzte Waffe also war ihr entrissen; die ihr allein zustehende Rache sollte heute schon von den Händen eines Feiglings oder von denen ihres Knechtes vollzogen werden! Das Blut der Planta stürzte ihr wild zum Herzen und empörte sich gegen solch unwürdigen Eingriff. Die Entsagung der verwichenen Nacht entschwand ihrem Gemüte. Heute war sie noch die Herrin auf Riedberg, – heute war sie noch die Erbin ihres Vaters und waltete zum letzten Male ihres Amts. Was morgen komme, war ihr gleichgültig, lag doch wie ein stiller Friedhof das Kloster Cazis dort über dem Rhein. [...]
Sie wollte zu Georg, ihn warnen und retten, oder ihn mit reinen, gerechten Händen töten. »Jürg ist mein!« sagte sie zu ihrem Herzen. [...]
Kapitel 13
Kapitel 13
[Herr Waser] »In einem Stücke wenigstens überragt Georg Jenatsch unsere größten Zeitgenossen – in seiner übermächtigen Vaterlandsliebe. [...]
»Und was fängt unser kleines Land mit diesem jetzt müßig gewordenen und an Taten noch ungesättigten Menschen an«, fuhr Sprecher fort, »der unsern engen Verhältnissen entwachsen und von seinen beispiellosen Erfolgen trunken ist bis zum Wahnsinn? – In den Pausen seiner Unterhandlungen zu Mailand hat er in unserer Grafschaft Chiavenna, wo er sich von den drei Bünden zum Lohne seines Verrats an Herzog Heinrich die ganze Zivil- und Militärgewalt unumschränkt übertragen ließ, gewirtschaftet wie ein ausschweifender Nero und einen mehr als fürstlichen Hofhalt geführt. [...]
Wenn einst, wie wir alle unverrücket hoffen, das deutsche Reich erneuert wird in evangelischer Freiheit und großer Gloria, so wird man auch dieses gottesfürchtigen welschen Herzogs gedenken, dieweil er glaubenshalber aus seinem Vaterlande gewichen und, nachdem er sich seiner hohen Ehren demütiglich abgetan, im evangelischen deutschen Heere einen frommen Reiterstod gestorben ist. Amen.« [...]
»Hüte dich, hüte dich, Jürg!« flüsterte sie [Lucretia], seiner Umschlingung widerstrebend, und erhob zu ihm Augen voll unendlicher Angst und Liebe. [...]
[Jenatsch:] Selig lebt und freudig stirbt, Wen die Lieb' umfangen!... Das laß mir singen.« [...]
Lucretia drängte sich fest an die linke Seite des Umstellten, wie um ihn zu decken. Sie hatte ihm keine Waffe zu bieten. Wieder traf die Stimme Rudolfs ihr Ohr. »Dies, Lucretia, für die Ehre der Planta«, flüsterte er dicht hinter ihr und sie sah, mit halbgewandtem Haupte, wie seine feine spanische Klinge vorsichtig eine gefährliche Stelle zwischen den Schulterblättern Georgs suchte. Sie hatte sich von Jenatsch vorwärts ziehen lassen, denn dieser streckte sich, den ihn umschließenden Kreis seiner Mörder mitreißend, nach dem nahen Kredenztische aus und erreichte dort mit der freien Linken einen schweren ehernen Leuchter, dessen gewichtigen Fuß er gegen seine Angreifer schwang, die von vorn fallenden Hiebe parierend. [...]
Dann warf er den Sterbenden auf die Seite, drückte Lucretia weg und stand mit erhobener Axt vor Jenatsch. Der Starke, der schon aus vielen Wunden blutete, schlug mit wuchtiger Faust seinen Leuchter blindlings auf das graue Haupt. Lautlos sank der alte Knecht auf Lucretias Füße. Sie neigte sich zu ihm nieder und er gab ihr mit brechendem Blicke das blutige Beil in die Hand. Es war die Axt, die einst den Herrn Pompejus erschlagen hatte. In Verzweiflung richtete sie sich auf, sah Jürg schwanken, von gedungenen Mördern umstellt, von meuchlerischen Waffen umzuckt und verwundet, rings und rettungslos umstellt. Jetzt, in traumhaftem Entschlusse, hob sie mit beiden Händen die ihr vererbte Waffe und traf mit ganzer Kraft das teure Haupt. Jürgs Arme sanken, er blickte die hoch vor ihm Stehende mit voller Liebe an, ein düsterer Triumph flog über seine Züge, dann stürzte er schwer zusammen. Als Lucretia ihrer Sinne wieder mächtig wurde, kniete sie neben der Leiche, das Haupt des Erschlagenen lag in ihrem Schoße. Das Gemach war leer. Um die über ihr schwebende Gestalt der Justitia waren die Lichter heruntergebrannt und das Wachs fiel ihr in glühenden Tropfen auf Hals und Stirn. Neben ihr stand Pancraz und legte die Hand auf ihre Schulter, während unter der Türe Fausch dem Bürgermeister Waser das Ereignis jammernd erzählte. Willig wie ein Kind folgte sie dem Mönch, der sie von der Unglücksstätte wegführte. Waser aber übernahm die Leichenwache. [...]
Nicht lange blieb er allein. Als das erste Entsetzen vorüber war und die Verwirrung der Gemüter sich löste, kamen die Häupter der Stadt eines nach dem anderen in die Totenkammer und klagten um Bündens größten Mann, seinen Befreier und Wiederhersteller.
Sie verzichteten darauf, die Urheber seines Todes, die ihnen als die Werkzeuge eines notwendigen Schicksals erschienen, vor Gericht zu ziehen. Keine neue Parteiung und Rache sollte aus seinem Blute entstehen, – er hätte es selbst nicht gewollt. Aber sie beschlossen, ihn mit ungewöhnlichen, seinen Verdiensten um das Land angemessenen Ehren zu bestatten.
C.F. Meyer: Jürg Jenatsch, 3. Buch, Kapitel 15
Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die ehemaligen Untertanengebiete Veltlin, Bormio und Chiavenna längst verlorengegangen waren und aus dem Freystaat mit Nachhilfe der Franzosen ein Kanton der Eidgenossenschaft geworden war, begannen sich in Graubünden die Menschen nach einer Identifikationsfigur zu sehnen, die sie – nach Erscheinen einer systematischen Untersuchung der Schweizergeschichte durch Louis Vulliemin im Jahre 1844,[11][12] in der Georg Jenatsch als massgeblicher Protagonist der diplomatischen Manöver der 1630er Jahre eingehend gewürdigt wurde – in Jenatsch fanden. Es begann sich der Mythos eines Freiheitshelden um seine Person zu bilden, der sich, losgelöst von historischen Fakten, in literarischen Werken und patriotischen Bühnenstücken entwickelte.[13] Der Hauptgrund, weshalb Jenatsch im 19. Jahrhundert wieder Eingang ins historische Gedächtnis des Volkes fand, war der Erfolg des 1874 erschienenen Romans von Conrad Ferdinand Meyer Jürg Jenatsch. Dieser war während der folgenden Jahrzehnte sogar Teil des Lehrplans für höhere Schulen, wodurch sich das Bild von Jenatsch als unerschrockenem Freiheitshelden und seiner tragisch endenden, verbotenen Liebe zur Tochter seines Todfeindes Pompejus Planta bei Generationen von Schülern prägte.[14]Jenatsch in den Augen der Nachwelt (Permanentlink: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=J%C3%B6rg_Jenatsch&oldid=118894510)
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