28 Oktober 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.9-11)

Neuntes Kapitel
[...] Das Kapitel Kinderspiele verlangt ein Buch, das trotz einzelner Anläufe noch nicht geschrieben ist. In gewissen Jahren strebt das Kind, etwas anderes als es selbst zu sein. Es ist Hund, Pferd oder Dampfmaschine. Es kommt das einfache Fangespiel, worin sich Jäger und Wild nachahmen. Mit dem Versteckspiel mag es das gleiche sein. Wochenlang, besonders im Herbst, spielte die proletarische Unterwelt »Räuber und Gendarm«. Und nicht nur hierbei, sondern im ganzen hatte ich mich unter den Banditen der Straße, so zart ich war, zu einem Räuberhauptmann aufgeschwungen. Sie folgten mir, ich führte sie an. Das war beinahe mehr als ein Spiel, weil man eigentlich war, was man vorstellen wollte. Mit wie mancher Schwiele, Beule und Kratzwunde bin ich in mein Bürgerbereich zurückgekehrt. Von meinem siebenten Jahre aufwärts gewannen diese Spiele an Ernsthaftigkeit, und sie lehrten mich Menschen kennen. Eine Gefolgschaft von zwanzig bis dreißig Jungens brachte ich wohl mitunter zusammen. Im allgemeinen standen sie bei größeren Unternehmungen hinter mir. Hie und da aber wurden sie aufsässig, konspirierten zum Teil oder in ihrer Gesamtheit gegen mich. Gelegentlich ging das so weit, daß man die Acht über mich verhängte. Wenn ich dann eine Zeitlang gemieden worden war und keiner der Anführer mit mir gesprochen hatte, bahnten sich meist Verhandlungen an. Dann wurden von mir Offiziere ernannt, ich gebrauchte meine Überredungskunst und brachte, wo das nichts half, Widerspenstige durch Geschenke auf meine Seite. In Fällen von dauernder Widersetzlichkeit griff ich zur Exekution. Ich ging zum persönlichen Angriff über; dann kam es darauf an, daß ich obsiegte. War das der Fall, so entfernte sich meist der Unterlegene schimpfend, heulend, unter Drohungen. Trotzdem ich mein Bürgertum nie hervorkehrte, spürte ich doch bei diesem und jenem den Klassenhaß. Ich wurde mit Schimpfnamen traktiert. Ich erinnere mich, wie bei einer solchen Gelegenheit sich ein Kampf zwischen mir und meinem Verlästerer entspann, der wohl eine Viertelstunde dauerte. Er ging beinah auf Leben und Tod. Erwachsene rissen uns auseinander. [...] 
Als Knabe, ja wohl noch als Kind kam ich dem Begriff des Kantischen Dinges an sich nahe. Ich betrachtete einen Baum, ich beroch und berührte seinen Stamm. Ich stellte mit meiner Stirn dessen Härte fest. Ich sagte: Nun ja, ich nenne dich Baum, ich weiß, du bestehst aus Holz, das brennbar ist, doch was du eigentlich bist, weiß ich nicht. Ich ging auch weiter und machte mich selbst zum Objekt. Was bist du ursprünglich selbst? Was ist ursprünglich dein eigenstes Wesen? Diese beiden Fragen stellte ich an mich. In einem solchen Augenblick vermochte ich hinter mich selbst zu dringen und als Einzelwesen mich aufzugeben. Ich war im Sommer viel allein, und das wurde mir, wohl auch durch Gewöhnung, mehr und mehr angenehm, aber doch nicht so, daß ich Einsamkeit und Zurückgezogenheit nicht immer wieder gern durch einen Sprung ins bewegte Leben unterbrochen gesehen hätte. In weiten Streifen bewegte ich mich während meiner einsamen Stunden in entlegenen Teilen der Anlagen umher, saß in Wipfeln von Bäumen, den promenierenden Kurgästen unsichtbar, oder lag auf den grünen Rasen gestreckt an den Kieswegen. [...] 
Ich ging nicht nur in den Weberhütten, sondern auch in den übrigen Werkstätten der Kleinen als ein Dazugehöriger ungehindert, ja unbeachtet aus und ein, ebenso auch in den einzelnen, bis dahin versprengten Elendsquartieren der Bergleute aus dem nahen Industrie- und Kohlenbezirk. Dem Schmiede sah ich zu, wenn er Hufeisen auflegte, dem von Tuchfetzen umgebenen Schneider auf seinem niederen Tisch bei der Stichelei, dem Schuhmacher auf seinem Schemel vor dem Arbeitstisch, wo hinter den wassergefüllten Glaskugeln die Ölfunse brannte. In diesen engen Schuhmacherwerkstätten sah ich zuerst mit Verwunderung, inwieweit sich kleine Vögel, hier meist Rotkehlchen und Rotschwänzchen, mit den Menschen vertraut machen können. Ohne durch Familien- und Werkstattlärm der eng zusammengedrängten Lebens- und Arbeitsgemeinschaften gestört zu sein, stelzten und flatterten sie herum und behaupteten furchtlos die seltsamsten Plätze: den Kopf der Katze oder den Arm des Handwerksmeisters, während er den Hammer schwang. [...]

Zehntes Kapitel 
Lesen habe ich nicht in der Schule gelernt, sondern am Robinson Defoes und Coopers Lederstrumpf. Gott, dem ich dafür dankbar bin, hat sich einer Frau Metzig bedient, um mir beide Bücher als Geschenke ins Haus zu tragen. [...] 
Durch Robinson und Lederstrumpf haben meine Träume und meine Spiele richtunggebende Nahrung erhalten. Erzählungen bedeuten Träume, mündlich oder schriftlich in Worte gefaßt. Von da ab, als ich am Robinson lesen lernte, wurde ein wesentlicher Teil meiner Träumereien durch Bücher genährt. Wie kommt es, daß ich, der ein mir völlig gemäßes Leben führte, Robinson und Lederstrumpf mit Gier entzifferte und die Lebensform bald des einen, bald des andern Helden leidenschaftlich herbeiwünschte, und weshalb verfallen diesen Gestalten alle gesunden Knaben so wie ich? Auch hier ist Kampf, aber nicht mit Buchstaben, Bibelsprüchen und Rechenexempeln, sondern mit der Natur und in der Natur. [...] 
Und nach der Vervollkommnung, nach der Vollendung dieses natürlichen Zustands sehnte ich mich trotz allem, was mich an meine Umgebung fesselte. Und jeder gesunde Knabe sehnt sich danach. [...] 
Gleichsetzungen wie die meinen mit Chingachgook würde ein moderner Forscher dämonisch nennen: das Dämonische stelle im Gegensatz zu den durch geistige Erfassung gewonnenen Tatsachen das aufbauende Leben dar. Nach eigener Erfahrung glaube ich, daß es so ist. Und so darf man es nicht mit dem Verstande störend schädigen, da es, wie weiter gesagt wird, nur in seinen Auswirkungen zugänglich sei. Es war bei mir mit stürmischen Ausbrüchen der Affekte verbunden. Und ein solcher Affekt, heißt es weiter, sei eine naturnotwendige Erschütterung, um das Dämonisch-Geniale zu wecken. Bekämpfe man im Knaben das Dämonische, schließt der einsichtsvolle Mann, so bekämpft man zugleich das Geniale im Kinde, das auch getötet werden kann. [...] 
Nun also, der göttliche Wahnsinn des Dämonischen hat mich damals berauscht, ich lebte im Zustand einer gesunden Besessenheit. Meine Seele hätte sich überhaupt nie entbrannt und ins Leben gerufen, wenn nicht eben dieses Dämonische die Natur und mich ununterbrochen verwandelt hätte. [...] 
Es blieb meiner Schwester Johanna vorbehalten, ihre reine und gute Absicht vorausgesetzt, mich mit dem Gedanken an Sünde und Sündenschuld zunächst zu belasten. Sie wandte zum Beispiel den Ausdruck Lüge auf die meisten meiner heiteren Phantastereien an und behauptete dann, daß, wenn ich wirklich gelogen hätte, mich der Blitz beim nächsten Gewitter erschlagen würde. Dadurch hat sie mir eine lang quälende Gewitterfurcht ins Blut gebracht, denn daran, daß es eigenwillig strafende Götter geben konnte, zweifelte ich als dämonischer Schöpfer vieler Dämonen nicht. Als ich die Fülle meiner Sünden in meinem Gewissen unendlich vermehrt hatte, tröstete mich Johanna wieder in meiner Gewissensnot, indem sie erklärte, daß Jesus Christus, Gottes Sohn, sofern man bereue, alle Sünden auf einmal vergebe, am Konfirmationstage im Genuß des Abendmahls. Durch den unverantwortlichen, kindisch-mutwilligen Erziehungsversuch einer kindhaften Schwester wurde ich so in das kirchliche Wesen gleichsam beiläufig eingeführt. Wenn man mich also gelegentlich in Grübeleien versunken sah, konnte es sein, daß ich grade mein Sündenregister nachprüfte. Das Kind bedarf keines Heilandes, damit ihm Steine zu Brot werden. Ihm wird auch ohne die König Midas gewährte Begabung alles, was es anfaßt, zu Gold. Aber mein leidenschaftliches Leben, meine seligen Energien, in denen sich ein ernster Werdeprozeß doch stets halb bewußt machte, erlitten durch solche Eingriffe bedeutsame Trübungen. Fortan lebte ich gleichsam nur noch in einer sorgenvollen Glückseligkeit. So, wie sie jedoch war, entsprach sie mir, und ich dachte nicht anders, als daß sie mir durch das Leben treu bleiben würde. Habe ich darin recht gehabt?

Elftes Kapitel 
Nach seiner schweren Krankheit dem Leben wiedergewonnen, genoß mein Bruder Carl eine lange Zeit die Hauptanteilnahme der Familie. Auch den Dachrödenshof – der Großvater lebte noch – hatte Carl längst durch sein gesellig-offenes, lernfreudig-begabtes Wesen für sich eingenommen. Er übertraf mich damals und immer hierin. Ein Kindergeschichtchen, das sich mit ihm im Dachrödenshof zugetragen hatte, wurde wieder und wieder erzählt. Der Großvater Straehler, der würdige Brunneninspektor, hatte sich mit Schlafrock und langer Pfeife, um ihn zu amüsieren, vor dem Dreikäsehoch tanzend in ganzer Größe herumgedreht, was dieser mit kühlem Phlegma beobachtete. Schließlich hat er mit den Worten »Nee, 's is doch ein verflischter Kerl!« seiner Bewunderung Ausdruck gegeben, womit er nach mundartlicher Gepflogenheit in gemilderter Form einen verfluchten Kerl bezeichnen wollte.  [...] 
Schenken, nicht empfangen, war Carls höchster Genuß. Es mochte dabei schon damals ein Werben um Menschenseelen mitspielen. Mutter bekämpfte gelegentlich seine Freigebigkeit, aber er hatte eine schöne, eigenwillig moralische Art, abzuwehren. Er machte auf alle, die ihn hörten, auch Vater und Mutter, Eindruck damit. Sehr weit in meine Jugend zurückgehen müssen seine Tiraden gegen den Eigennutz, die er nach kaum vollendetem zehnten Jahr im Gespräch mit den frommen Tanten im Dachrödenshof, sogar gegen die kirchliche Lehre von der Belohnung des gläubigen Christen durch die ewige Seligkeit, mutig ins Feld führte. Er sagte, wer Gott nur wegen einer zu erwartenden Belohnung liebe, der sei noch nicht anders als ein Hund, der die Zuckerdose anbete. So jung ich war, stand ich bei solchen Behauptungen hinter ihm. Er war im allgemeinen leicht aufgeregt, meist aber, ähnlich einem gewissen spanischen Ritter, aus Rechtsgefühl und aus Mitgefühl. Tierquälerei riß ihn zu rücksichtslosen Protesten hin, bei denen er vor den rüdesten Bauernknechten nicht zurückschreckte.
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend , 1937)

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