Zweites Kapitel
"Mein Elternhaus hatte zwei Daseinsformen, die so voneinander verschieden waren wie voll und leer, Wärme und Kälte, Lärm und Stille, Leben und Tod. Damit ist nur das Gebäude, der Gasthof zur Preußischen Krone gemeint, der dem Verkehr nur im Sommer geöffnet war und im Winter geschlossen blieb. Ende April bezog ihn zunächst ein recht zahlreiches Personal: Köche, Küchenmädchen, Hausmamsell, sogenannte Schleußerinnen, Oberkellner, Kellner und einige Hausdiener. Dann füllten sich bald alle Zimmer mit Kurgästen. Für den Gasthof also war das die lebendige, der Winter die tote Zeit, für die Familie dagegen war der Sommer die tote, der Winter die lebendige. Vater und Mutter gehörten sommers der Öffentlichkeit, sie waren den Winter über Privatleute. Die zweite Daseinsform meines Geburtshauses verband sich am tiefsten mit meinem Wesen und prägte es in frühen, entscheidenden Zeiten aus. In dieser stillen, leeren Verfassung gehörte das Haus uns, im Sommer war es uns gänzlich entzogen und uns Kindern auch Vater und Mutter. Sie gehörten mit allem, in allem der Öffentlichkeit. [...]
"Mein Elternhaus hatte zwei Daseinsformen, die so voneinander verschieden waren wie voll und leer, Wärme und Kälte, Lärm und Stille, Leben und Tod. Damit ist nur das Gebäude, der Gasthof zur Preußischen Krone gemeint, der dem Verkehr nur im Sommer geöffnet war und im Winter geschlossen blieb. Ende April bezog ihn zunächst ein recht zahlreiches Personal: Köche, Küchenmädchen, Hausmamsell, sogenannte Schleußerinnen, Oberkellner, Kellner und einige Hausdiener. Dann füllten sich bald alle Zimmer mit Kurgästen. Für den Gasthof also war das die lebendige, der Winter die tote Zeit, für die Familie dagegen war der Sommer die tote, der Winter die lebendige. Vater und Mutter gehörten sommers der Öffentlichkeit, sie waren den Winter über Privatleute. Die zweite Daseinsform meines Geburtshauses verband sich am tiefsten mit meinem Wesen und prägte es in frühen, entscheidenden Zeiten aus. In dieser stillen, leeren Verfassung gehörte das Haus uns, im Sommer war es uns gänzlich entzogen und uns Kindern auch Vater und Mutter. Sie gehörten mit allem, in allem der Öffentlichkeit. [...]
Der durch Jahre vorausgeworfene Schatten des ersten Schultags verdichtete sich. Eines Tages nach Weihnachten sagte meine Mutter zu mir: »Wenn das Frühjahr kommt, mußt du in die Schule. Ein ernster Schritt, der getan werden muß. Du mußt einmal stillsitzen lernen. Und überhaupt mußt du lernen und lernen, weil auf andere Weise nur ein Taugenichts aus dir werden kann.« Also du mußt! du mußt! du mußt! Ich war sehr bestürzt, als mir diese Eröffnung gemacht wurde. Daß ich erst etwas werden solle, da ich doch etwas war, begriff ich nicht. [...]
Etwas auf andere Weise zu lernen als die, welche mir halb bewußt geläufig war, hatte ich weder Lust, noch fand ich es zweckmäßig. War ich doch durch und durch Energie und Heiterkeit. Ich beherrschte den Dialekt der Straße, so wie ich das Hochdeutsch der Eltern beherrschte. Erst heute weiß ich, welch eine gigantische Geistesleistung hierin beschlossen ist und daß sie, geschweige von einem Kinde, nicht zu ermessen ist. Spielend und ohne bewußt gelernt zu haben, hantierte ich mit allen Worten und Begriffen eines umfassenden Lexikons und der dazugehörigen Vorstellungswelt. Ob ich mich nicht wirklich vielleicht ohne Schule schneller, besser und reicher entwickelt hätte? Vielleicht aber war das Schlimmste ein Seelenschmerz, den ich empfand. Meine Eltern mußten doch wissen, was sie mir antaten. Ich hatte an ihre unendliche, uferlose Liebe geglaubt, und nun lieferten sie mich an etwas aus, ein Fremdes, das mir Grauen erzeugte. [...]
Nein, die Dorfschule mit dem alten, immer mißgelaunten Lehrer Brendel zerbrach mich nicht. Kaum wurde mir etwas von meinem Lebensraum und meiner Freiheit weggenommen und gar nichts von meiner Lebenslust."
Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937
Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937
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