22 Oktober 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.1), Kindheit

Gerhart Hauptmann wurde 1862 im niederschlesischen Obersalzbrunn geboren. Seine Eltern waren die Eheleute Robert (1824–1898) und Marie Hauptmann, geborene Straehler (1827–1906), die am Ort ein Hotel betrieben. Hauptmann hatte drei ältere Geschwister: Georg (1853–1899), Johanna (1856–1943) und Carl (1858–1921). In der Nachbarschaft war der junge Hauptmann als fabulierfreudig bekannt. Seinen Rufnamen Gerhard änderte er später in Gerhart.
Ab 1868 besuchte er die Dorfschule, ab dem 10. April 1874 die Realschule in Breslau, für die er nur knapp die Eignungsprüfung geschafft hatte. Hauptmann hatte Schwierigkeiten, sich in die neue Umgebung der Großstadt einzuleben; gemeinsam mit seinem Bruder Carl wohnte er zunächst in einer heruntergekommenen Schülerpension, ehe sie bei einem Pastor unterkamen. (Wikipedia: Gerhart Hauptmann)

Erstes Kapitel 
Anfang und Ende des Lebens, heißt es, sind dem Lebenden selbst in Dunkel gehüllt. Niemand kann sein geistiges Dasein vom Tage seiner Geburt datieren. So bin ich erst am Beginn meines zweiten Lebensjahres zum Bewußtsein erweckt worden und bewahre davon bis heute die Erinnerung. Ich konnte weder sitzen noch liegen, weil mein Rücken und mein Gesäß, wie man mir später erklärt hat, zerprügelt und zerschunden war. Mein eigener Gedanke und deutlicher Lichtblitz aber war: Was soll aus mir werden, wenn ich beim Sitzen und Liegen maßlose Schmerzen habe? Es ist meine Amme gewesen, die mich so mißhandelt hat. An die Prügelprozedur selbst habe ich jedoch keine Erinnerung. Schmerz also hat meinen Geist erweckt, Leiden mich zum Bewußtsein gebracht. [...]
Waisenkinder leben ohne Mütter, sie leben und entwickeln sich. Die Seeleneinheit, die mich mit meiner Mutter verband, machte mir das unbegreiflich. Durch das Herz meiner Mutter, durch ihre Liebe bin ich im Verlaufe des ersten Dezenniums erst sozusagen ausgetragen worden. [...]
Ich hatte am Dasein ununterbrochen leidenschaftliche Freude wie an einer über alle Begriffe herrlichen Festlichkeit. Ich sträubte mich, wenn ich sie abends durch den Schlaf unterbrechen sollte. Im Einschlafen packte mich Freude und Ungeduld in Gedanken an den kommenden Morgen. [...]
Der Befehl eines menschlichen Gottes war meines Vaters Gebot. Eine Mutter wird ihre Kleinen täglich viele Male vergeblich mit den Worten ermahnen: »Bettle nicht!« Die ersten Worte der Kleinsten sind: »Haben, haben!« Mein Vater aber wollte unbedingt vermieden sehen, daß unsere Begehrlichkeit etwa gar den Kurgästen zur Last fiele. Ich, ein besserer kleiner Adam, hielt mich mit bebendem Gehorsam an sein Bettelverbot. Eines Tages kam jedoch einem alten Kurgast, Ökonomierat Huhn, der Gedanke, mich mit einem Spielzeug zu beschenken, das ich mir selber beim Händler aussuchen sollte. Ich wählte einen herrlichen blauen Rollwagen mit Fässern darauf und vier Pferden davor, drückte das Riesengeschenk mit ausgebreiteten Armen an meine Brust und vermochte es kaum fortzuschleppen. Unterwegs nach Hause fiel mir des Vaters Verbot aufs Herz. Zwar gebettelt hatte ich nicht, aber man konnte es leicht voraussetzen, und schließlich sollten wir überhaupt von Fremden nichts annehmen. Bei dieser Erinnerung schrie ich sofort aus Leibeskräften, als ob mich das größte Unglück betroffen hätte. Eine solche tragikomische Mischung des Gefühls in der Brust eines Kindes ist vielleicht eine Seltenheit. Ungeheure Freude über den völlig märchenhaften Neubesitz ward von Entsetzen über den Bruch des Gehorsams überwogen. Ununterbrochen schreiend trat ich mit meinem Schatz ins Haus und vor meine verblüfften Eltern hin, die den scheinbaren Widersinn meines Betragens nicht durchschauen konnten. [...]
Eine Zeitlang teilte ich mit den Eltern das Schlafzimmer. Wenn ich, was vorkam, schlaflos lag und beim Scheine des Nachtlichtchens Vater und Mutter bewußtlos schnarchend in ihren Betten sah, waren sie mir wie atmende Leichname. Daß sie vom Tode wieder erwachen würden, ja daß ich sie wecken konnte, wußte ich. Aber ebenso war mir bekannt, daß man dies nicht darf, weil jemand, der weiterleben will, allnächtlich diesen Tod erleiden muß. Und so mußte ich denn das Gefühl einer grenzenlosen Verlassenheit auskosten.[...]
Uns Deutschen kann der volle Begriff eines Festes nur noch an diesem Feste klarwerden. Es erhebt sich aus unabsehbaren Tiefen der Vergangenheit, und seine lebendige, oberirdische Tradition wird von Generation auf Generation in der gleichen Empfängnis entgegengenommen. Die Freude dieses Festes war nicht die unmittelbare gesunde, irdische, sondern sie war eine mystische. Sie erhob sich in überirdischer Steigerung. Über ihr stand eine immergrüne Tanne, ein Nadelbaum, aus dessen Zweigen Kerzen emporwuchsen und ihn zu einer Pyramide von Flämmchen machten. Der Baum war gesunde Waldnatur, die Kerzen auf ihm und er als ihr Träger Mysterium. O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter! Du grünst nicht nur zur Sommerzeit, nein, auch im Winter, wenn es schneit. O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter! Welche widersinnige Einfalt beseelt dieses kleine Lied, und welche Tiefen des Entzückens werden durch es im Gemüt des Kindes ausgelöst. Geschenke, Gaben brachte wohl das ganze Jahr hie und da, aber sie waren nicht von dem Zauber berührt und erfüllt wie die Bescherung unterm Weihnachtsbaum. »Vom Himmel hoch, da komm' ich her.« Nicht die Eltern hatten uns mit Geschenken beglückt, sondern sie waren diesmal wirklich vom Himmel gekommen. Der Vater, die Mutter waren Treuhänder, die sie uns übermittelt hatten. Darum war die Freude, die Spannung zu Weihnachten übergroß, mitunter so groß, daß mein Organismus sich in der Folge durch eine kurze Krankheit wiederherstellen mußte. Trotzdem stellte man sogleich Berechnungen über das kommende Weihnachten an, über die Monate, Wochen, Tage, die man bis dahin noch zu bestehen hatte."
(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

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